Rafik Schami – Das Geheimnis des Kalligraphen

Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag (1. Oktober 2010)
ISBN-10: 3423139188
ISBN-13: 978-3423139182

 

 

Als Kind hab ich das Schreiben gehasst. Nicht die Schrift, nicht das Lesen, nicht das Verlieren in endlosen literarischen Weiten. Aber der Griff zum Füller, der Kampf mit der Feder, um lesbare Texte selbst aufs Papier zu bringen. Es hat lang gedauert, ehe ich diese Abneigung überwunden hatte. Und noch länger, ehe ich mich mit meiner krakeligen Handschrift ein wenig arrangiert hatte. Und ich hab den Tag herbeigesehnt, an dem ich regelmäßig meine Texte mit einer Maschine zu Papier bringen konnte. Soviel zur Vorbemerkung. Denn mit Kalligrafie, dem Handwerk Texte so zu Papier zu bringen, dass sie selbst unabhängig vom Inhalt der Wörter ihre Wirkung entfalten, zählte bislang nicht zu den mir besonders geschätzten Kunstformen. Das als persönlich notwendige Vorbemerkung zu Rafik Schamis jetzt als Taschenbuch erhältlichem Roman „Das Geheimnis des Kalligrafen“.

Dem Autor merkt man seine Meisterschaft im Erzählen von Geschichten in der Tradition des Alten Orient schon von den ersten Sätzen an an: Hier verbreitet sich ein Gerücht durch die Stadt, dass man gebannt jedem Satz folgt, bitter die Unterbrechungen beim Seitenumblättern verflucht und vor Augen immer eine Welt irgendwo zwischen 1001 Nacht und einer genauso rätselhaften orientalischen Welt des letzten Jahrhunderts sieht.

Was Schami in seinem Roman ausbreitet ist eine kaleidoskopisch verspielte und verschlungene Geschichte über Liebe, über die Schrift, das Zusammenleben der Religionen und die Unmöglichkeit, eine Schriftreform des Arabischen gegen religiöse Fundamentalisten durchzusetzen. Es sind zwei „Kerne der Wahrheit“, in denen die Geschichte des Kalligrafen Hamid Farsi und seiner Frau Nura sich entfaltet. Wobei schon von Anfang an bekannt ist, dass sie ihn verlassen wird. Doch die Gründe sind nur scheinbar eindeutig: Die Liebe Nuras zum christlichen Laufburschen ihres Mannes und die Liebesbriefe, die Hamid für einen Kunden an eine Geliebte verfasst, hinter der sich die eigene Ehefrau verbirgt. Voller Liebe zum Detail und voller Fabulierlust werden die Lebengeschichten der handelnden Personen im Rückblick geschildert, ihr Kampf ums Überleben in den armen Vierteln von Damaskus oder das Streben nach Bildung, der Umgang mit Freundschaft, Verrat und Gewalt ebenso wie das Aufbegehren gegen die Konventionen. Die vermittelte Ehe mit dem distanzierten Wittwer Hamid kann Nura in ihrer Lebendigkeit und ihrer Intelligenz niemals erfüllen. Scheinbar ist die Flucht und der Neuanfang ein einfaches Ergebnis dieser Biografien.

Aber gerade der zweite Kern, die unglückliche und im Wahnsinn endende Geschichte des Kalligraphen im Syrien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bringt ganz andere Deutungsmöglichkeiten für die Motive der handelnden Personen. Da geht es um den Kampf um eine Erneuerung der arabischen Schrift, die von fundamentalistischen Kreisen hintertrieben wird als Verrat am Koran. Und dies ist eine Geschichte, die schon seit Jahrhunderten immer wieder zum Tod von Kalligraphen führte, einfach weil sie es wagten, Vorschläge zu Veränderungen der nicht wirklich göttlichen arabischen Schrift zu machen. Auch hier wird wieder bis ins Detail geschildert: Die Kunst der Kalligraphie wird erläutert, die Anfertigung von Federn und Tinten – und die Motive, die Menschen zu Kunden der kunstvollen Schreiber machen. Wenn man des Arabischen mächtig wäre, hätte man an diesen Ausführungen wohl mehr Vergnügen – doch letztlich ist es schon genussvoll dem Erzähler auch durch solche Strecken zu folgen. Und am Ende steht man in der Versuchung, die Lektüre nochmals zu beginnen. Denn einige Anspielungen, die man beim ersten Lesen einfach zu Kenntnis nehmen konnte, enthüllen erst im Gesamtkontext ihre Wirkung. Ob der Kalligraph aber nun ein Opfer einer religiös motivierten Verschwörung wurde oder wegen seiner Lieblosigkeit von seiner Frau verlassen wird, diese Deutung allerdings muss jeder selbst für sich treffen. Denn nichts ist auf Dauer so langweilig, wie eine Geschichte, die keine Fragen und Möglichkeiten für eigene Phantasie mehr offenlässt.