Der Bug der Titanik im Jahre 2004Was haben der Boxer Jack Johnson, die Bluessänger Leadbelly und Blind Lemon Jefferson und die Titanic miteinander zu tun? Und warum klingt Leadbelly so gutgelaunt, wenn er über das Unglück singt? Gary Burnett wohnt in Belfast, wo 100 Jahre nach dem Untergang der Titanic der Kult um das Schiff einen neuen Höhepunkt erreicht.

Im Moment feiern wir hier in Belfast den 100. Jahrestag der Titanic. Das Titanic-Fieber grassiert überall. Und soeben wurde hier ein nagelneues mit modernster Technik gefülltes Titanic-Center eröffnet, in dem man das Schiff und seine Geschichte erfahren kann. Das zieht Besucher aus der ganzen Welt an.

Die RMS Titanic war 1912 das größte gebaute Schiff. Gebaut wurde sie in Belfast bei der damals weltweit führenden Werft. Betrieben von der White Star Line legte sie am 10. April 2012 in Southampton zu ihrer Jungferfahrt ab. 2224 Menschen waren an Bord. Am fünften Tag ihrer Reise nach New York kollidierte das angeblich unsinkbare Schiff mit einem Eisberg und versank im Nordatlantik südlich von Neufundland. Mit 1514 Toten war das eine der schlimmsten Katastrophen auf See in Friedenszeiten. Lediglich 710 Menschen überlebten das Unglück.

Fast die ganze Welt kennt heute die Titanic wegen James Camerons Film aus dem Jahre 1997 mit Leonardo di Caprio und Kate Winslet. Und natürlich wegen Celine Dions Hit „My Heart Will Go On“ aus dem Soundtrack. Was die meisten Menschen nicht wissen, ist die Tatsache, dass die Titanic das Thema eines Blues-Songs war, der durch Huddie Ledbetter (besser bekannt als Leadbelly) bekannt gemacht wurde.

Der Song mit dem Titel „Titanic“ wurde in New York im Jahr 1948 aufgenommen, aber Leadbelly sagte, er habe das Lied schon bald nach der Katastrophe 1912 gemeinsam mit Blind Lemon Jefferson  an den Straßenecken von Dallas erstmals gesungen. Der Song ist optimistisch, fast heiter, was seltsam scheint angesichts des katastrohpalen Verlusts von Menschenleben in dem sinkenden Schiff. Doch in dem Lied geht es mehr um die Ausgrenzung der Afro-Amerikaner aus weiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft. Es erzählt die fiktive Geschichte, wie Jack Johnson, farbiger Schwergewichtsweltmeister seiner Zeit, das Einsteigen auf der Titanic durch Kapitän Edward John Smith verweigert wurde:

“When Jack Johnson wanted to get on boa’d Captain Smith hollered,
“I ain’ haulin’ no coal.”
Cryin’, “Fare thee, Titanic, fare thee well!”

Jack Johnson bei seinem Kampf mit James J. Jeffries (1910)Jack Johnson hatte 1908 als erster farbiger Boxer die Schwergewichtsweltmeisterschaft gewonnen. Jim Jeffries wurde als „große weiße Hoffnung“ auf den Titel angepriesen. Aber im Juli 1910 verteidigte Johnson erfolgreich seinen Titel und zwang Jeffries auf die Knie. Schwarze Menschen in ganz Amerika feierten Johnson als Held und sahen seinen Sieg als Rache für all die Demütigungen, die sie durch die Hände der Weißen noch immer erlitten. In Leadbellys Lied wird Jack Johnson das Leben dadurch gerettet, weil er auf Grund des Rassismus von Kapitän Smith daran gehindert wurde, mit dem Schiff unter zu gehen.

“When he heard about that mighty shock,
Might o’ seen the man doin’ the Eagle Rock.
Fare thee, Titanic, fare thee well.”

Der „Eagle Rock“, der in dieser Strophe erwähnt wird, war ein Tanz. Johnson reagierte also auf die Katastrophe mit einem Freudentanz. Und Leadbelly fährt fort:

“Black man oughta shout for joy,
Never lost a girl or either a boy.
Fare thee, Titanic, fare thee well.”

Nicht nur, dass der schwarze Held dem Tod knapp entronnen ist, wird gefeiert sondern auch, dass kein Afro-Amerikaner in der Katastrophe umkam. Und vielleicht klingt die letzte Zeile ein wenig schadenfroh angesichts der Katastrophe. Doch bevor wir darüber urteilen, sollten wir an eine andere fiktive Geschichte aus jener Zeit erinnern.

Erzählt wurde diese in der „New York Sun“ und in anderen Zeitungen. Auch in Logan Marshalls „Der Untergang der Titanic“, eines der ersten über die Katastrophe veröffentlichten Bücher, führt die Geschichte über die beiden Funker an: Nachdem das Schiff den Eisberg gestreift hatte, soll einer der beiden Funker an Deck gegangen sein, um zu sehen, was geschehen war. Als er zurückkam, „habe er gesehen, wie sich ein schwarzer Heizer hinter seinen Kollegen geschlichten habe.“ Als er sah, wie er ein Messer hob, habe der Funker den „Neger ohne Vorwarnung erschossen“.

Die schwarzen Amerikaner in den Südstaaten waren 1912 erst eine Generatin von der Sklaverei entfernt. Noch immer bestimmten Armut, Diskriminierung und eine unmenschliche Bhandlung durch viele Weiße ihr Leben. Es war für sie also keine Überraschung gewesen, in einer derartigen Weise in der Presse dargestellt zu werden, als Menschen, die die schreckliche Situation an Bord der Titanic zu ihrem Vorteil ausnutzten. Oder dass ein Weißer gleich ein Urteil spricht und vollstreckt – die geschilderte Tat des Funkes war ja eigentlich Lynchjustziz. Dass die Schwarzen als Kriminelle in den Zeitungen dargestellt wurden, war an der Tagesordnung. Selten war es (wenn es denn überhaupt einmal vorkam), dass Heldentaten von Farbigen gemeldet wurden. Auch das ist ein Element des tief verwurzelten Rassismus in den USA zur damaligen Zeit.

Was auch eine Ursache dafür war, dass es überhaupt ein so großes Interesse an der Frage gab, ob nun eigenentlich schwarzen Menschen an Bord des Schiffes gewesen waren. Eine Afro-amerikanische Zeitung schrieb: „It is rather remarkable that there could be so great a tragedy without a Negro somewhere concealed or exposed in it.“ Denn als es geschah, war tatsächlich kein Amerikaner afrikanischer Herkunft an Bord der Titanic.

Das Treppenhaus der TitanicBekanntermaßen waren unter den Passagieren einige der reichsten Menschen der damaligen Welt, aber auch Auswanderer aus verschiedenen Gegenden Europas, die unterwegs in ein neues Leben in Amerika waren. Das Schiff war ein Weltwunder der damaligen Zeit und das letzte Wort in Sachen Komfort und Luxus: Es hatte einen beheizten Swimmingpool, Fitnessräume, Bibliotheken, reichlich ausgestattete Kabinen und erstklassige Restaurants. Für Leadbelly und Blind Lemon Jefferson und die Leute, die sich an ihrem Lied über die Titanic erfreuten, musste das Schiff all das repräsentierung, dass in der Welt aus ihrer Sicht falsch lief: Es war eine Welt voller Privilegien und Komfort für Weiße, eine Welt, von der Schwarze ausgeschlossen waren. Der Schiffsuntergang war dann für diese Menschen, die so hart in ihrem Leben zu kämpfen hatten, eine Form der Gerechtigkeit, eine wohlverdiente Strafe für die weißen Herren. Von einem rein neutralen Blickpunkt aus mag es schrecklich erscheinen, wenn sich jemand an irgendeinem menschlichen Unglück erfreut. Aber wenn man die Dinge aus der Sicht der verarmten und auf Grund ihrer Farbe unterdrückten farbigen Amerikaner betrachtet, dann ist eine solche Freude vielleicht verständlich.

Und natürlich finden wir die selbe Haltung, sich am Leiden der Unterdrücker zu erfreuen, schon in der Bibel. Ein paar Verse aus den Psalmen sollten uns als Beispiel genügen, wie Menschen Gott nicht nur um Befreiung anrufen sondern auch darum, dass die Unterdrücker leiden mögen:

  •  Der Gerechte wird sich freuen, wenn er solche Rache sieht, und wird seine Füße baden in des Gottlosen Blut, (Ps 58,11)
  • Seiner Tage seien wenige, sein Amt empfange ein anderer! Seine Söhne seien Waisen, und sein Weib eine Witwe!Und mögen seine Söhne umherschweifen und betteln und fern von ihren verwüsteten Wohnungen nach Brot suchen! (Psalm 109,8ff)
  • Möchtest du, o Gott, den Gesetzlosen töten! (Psalm 139,19)

Die von uns, die in Freiheit und relativem Wohlstand leben – und eigentlich auf Grund der Globalisierung auch ein Teil der Kulturen sind, die andere in der Welt unterdrücken, sind wirklich nicht in der Position, über Unterdrückte zu urteilen, die sich am Fall der Unterdrücker erfreuen, weil sie eben ein Teil der Ungerechtigkeit sind, die die anderen erleiden.

Der Weg Jesu ist es natürlich, die zu segnen, die dich verfolgen. Das ist ehrlich gesagt recht einfach für gut versorgte und in Freiheit lebende Europäer und Amerikaner. Es wird ein ganzes Stück schwerer, wenn man in Syrien, im Sudan, China, Kongo oder anderen Gegenden der Welt lebt, wo Menschen unter den Verletzungen der Menschenrechte zu leiden haben. Wir müssen versuchen dieses Gefühl der Unterdrückung ebenso zu verstehen, wie die Empörung, die andere fühlen und auch versuchen, diese Ungerechtigkeit so weit wir können zu ändern. Und dabei ist es gleichgültig, ob sie von deren Regierungen ausgeht oder von unfairen Handelsbeziehungen zwischen unseren und ihren Ländern. Auch wenn wir sie persönlich nicht erfahren: Ungerechtigkeit existiert. Unsere Welt ist auf ihr aufgebaut. Wenn wir sagen, dass wir Jesus nachfolgen, dann ist es unsere Aufgabe, Möglichkeiten zu suchen, mit denen wir Dinge ändern können. Wir alle sind Teil des Problems. Wir müssen ebenso auch Teil der Lösung werden.