Ich stehe in einem überfüllten Saal in Berlin Kreuzberg. Ich muss deshalb stehen, weil alle Sitzplätze besetzt sind, die Halle ist hoffnungsvoll überfüllt. Es ist das erste Mal, dass ich an einem Poetry Slam teilnehme und ich bin dankbar, dass einer der beiden Moderatoren die Regeln der Veranstaltung erläutert.

Über Sinn und Unsinn von „Poetry Slams“. Von Robert Klopitzke

Sechs Teilnehmer haben jeweils fünf Minuten Zeit, ihre selbst verfassten Texte vorzutragen, bei einer Zeitüberschreitung droht ihnen der Mikrofonverlust, das Publikum, von dem ich den 200. Teil bilde, muss per Applaus über die Beiträge abstimmen und nach einer Pause werden die besten drei unter gleichen Bedingungen in einem Finale nochmals gegeneinander antreten und aus ihrem Kreis wird dann der Sieger gekürt. Spätestens hier – noch bevor der erste Lesewillige die Bühne betritt – beschleicht mich allmählich ein Unbehagen, es riecht nach Kampf, es schmeckt nach Show; dabei hatte mir meine Begleitung doch im Voraus gesagt, dass es um Literatur geht. Um mich selber zu beruhigen, ließ ich den Vortag vor meinem geistigen Auge Revue passieren und erinnerte mich an dem Besuch in der Alten Nationalgalerie, wo im Treppenhaus ganz oben das monumentale Gemälde „Das Symposion“ des Anselm Feuerbach hing. Die abgebildete Szenerie zeigt den jungen Dichter Agathon, der einen Tag nach dem Tragödienwettstreit, den er gewonnen hatte, in rauschhaft-lässiger Laune von Frauen umringt in eine Gesellschaft um den Aristophanes platzt. Wenn die alten Griechen als ewiges Vorbild schon Dichterwettbewerbe durchgeführt haben, kann das hier kein barbarischer Akt sein.

Der erste Vorleser tritt auf, trägt einen Text gegen die Fortschrittskritiker in einem lakonisch zynischen Ton vor – ich muss schmunzeln, er hat es tatsächlich geschafft meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und mein Gehör gefügig gemacht. Ein Gelungener Einstieg, ich war gespannt, wie es weitergeht oder in welchem Kontext diese nettes Vorgeplänkel eingebaut wird. Meine Erwartung wird durch einen tosenden Applaus radikal abgeschnitten. Warum klatschen die? Ach ja, die Fünf-Minuten-Regel fällt mir in diesem Moment auch wieder ein.

Die nächste Vorträgerin liest einen Text gegen Tomaten im Kühlschrank in einem lakonisch zynischen Stil vor. „Diebin“ schießt es mir durch den Kopf. Sie hat den performativen Akt ihres Vorgängers, der scheinbar begeistert vom Publikum aufgegriffen und mit heftigem Applaus honoriert wurde, vollkommen kopiert und sie hat sicherlich hinter der Bühne alles mitgehört, ihr eigenes Konzept eiskalt umgeworfen und durch das Erfolg versprechendere ihres Vorgängers ersetzt. Das Publikum, welches zeitgleich auch Richter ist, wird bestimmt gleich den Betrug merken und seinem Unmut mit Pfeifen und Buh-Rufen Ausdruck verleihen. Doch stattdessen hebt sich überall verstreut im Saal hin und wieder ein Lacher. Merken sie nicht den Betrug? Sind das engagierte Claqueure? Immer mehr steigen in das Gelächter ein, das in einem tosenden Applaus mündet. Na gut, es kann auch Zufall sein; immerhin steht man ja allein mit einem Zettelchen auf der Bühne und muss sich mit einer gewissen Art von Coolness gegen das Lampenfieber oder Missmut des Publikums schützen als feinsinniger Literat.

Während ich als ein zweihundertstel Auditorium bzw. Richter diesen Gedanken hinterher hänge und mir eine mögliche Verteidigungsstrategie ausdenke, betritt der nächste Vorleser die Bühne und berichtet in seinem Text von einem Buchladenbesuch in einem lakonisch zynischen Stil. Okay, es kann also doch kein Zufall sein und ich erkundige mich bei meiner Begleitung, ob dieser einheitliche Stil Teil der Regeln ist. Sie schaut mich ernst fragend an und blickt dann wieder schmunzelnd in Richtung Bühne. Ich hatte Literatur von jungen Nachwuchskünstlern erwartet und bekam sechs aufeinander folgende One-Man-Shows geboten, die sich so sehr glichen, dass ich nicht einmal mehr weiß, wogegen sich die folgenden drei Zyniker wandten oder von was sie angenervt waren, vermutlich Call-Centern, Haushaltsgeräten oder Kinderlärm – es ist auch egal, welches Phänomen ihrer Alltagswelt sie verdammten, die Lücke musste nur thematisch angereichert werden und in dem ewig gleichen gelangweilt lässigen Ton abgespult werden. So kamen ins Finale auch nur die drei Bestaussehenden, da man sie ja weder vom Unterhaltungswert noch von der literarischen Qualität unterscheiden konnte.

Meine letzte Hoffnung klammerte ich an die lächerliche Illusion, dass vielleicht in der Endrunde noch eine weitere andere literarische Form bedient werden muss (mal ein Gedicht zur Abwechslung?), oder die Kontrahenten mehr Zeit bekämen, aber es blieb beim Sarkasmus auf der Bühne, dem Lachen vor der Bühne und dem Applaus im ganzen Saal…ich verzichtete auf mein ein zweihundertstel Abstimmungsmandat und ging mit der Frage im Kopf, ob die alten Griechen wohl auch den Tragödiendichter mithilfe lauten Klatschens feststellten.{module Robert Klopitzke}