Jetzt ist es passiert: Depeche Mode werden Nirvana! Insbesondere Dave Gahan – nunmehr langhaarig und Anzugträger – wollte, dass die Band mit „SOFAD“ eine rockigere und härtere Richtung, beeinflusst vom damals populären Musikstil „Grunge“, einschlägt. Schon das erste Video zur bluesig-rockig daherkommenden Single „I feel you“ verdeutlicht den musikalischen Umbruch.

Als Freund der elektronischen Musik musste auch ich zweimal hinschauen: Mister Gahan mit Matte und Vollbart – das war gewöhnungsbedürftig. Auch das noch: Offensichtlich verwandt die Band ein akustisches Schlagzeug, gespielt von Alan Wilder – Oh Wunder! Der coole Soundtüftler hinter einem Drum-Kid… Die Amis wird´s gefreut haben (hat es auch: Nr.1 in den US-Charts – Anm. d. Verf.). Und es gab noch mehr Neues. Man griff auf Gastmusiker zurück, z.B. auf Background-Sängerinnen bei „Condemnation“ und „Get right with me“ sowie auf ein paar Streicher bei „One caress“. Ein düsteres, progressives, ein sehr gutes Rock-Album präsentierte sich der Öffentlichkeit im Jahre 1993.

Rockig wird es dann auch gleich zu Beginn mit dem Track „I feel you“, geschrieben im 6/8-Takt, getragen durch ein durchgängiges Riff und unterstützt von pfeifenden Synthetics im Hintergrund. Mit der eher synthetisch-melacholischen Atmosphäre, unterstützt von Streichern und einer treibenden Baseline, des Songs „Walking in my shoes“ folgt das erste Highlight des Albums. „Walking in my shoes“ hat übrigends als einzige der vier Singles des Albums mit „My joy“ eine exklusive B-Seite. Überraschend für mich dann der folgende Track: „Condemnation“. DM haben den Gospel für sich entdeckt – interressant. Aber die Single-Version („Paris mix“) ist um einiges besser, nicht nur wegen der Background-Unterstützung durch zwei Sängerinnen, sondern auch wegen des zum Besseren veränderten Arrangements. Im nächsten Stück wird es groovig. „Mercy in you“ – die Gitarre stark verzerrt, klavierähnlichen Keyboards, auf die, wie zu guten 86ger-Zeiten, eingedroschen werden und ein prägender Beat. Das zweite Highlight. Es folgt „Judas“, eine ruhige Nummer gesungen von Martin Gore. Bemerkenswert ist das Einbeziehen eines bekannten schottischen Nationalinstruments – zumindest klingt es so im Song. Mein Lieblingsstück des Albums: „In your room“. Prägend für den Song ist die atmosphärische Dichte, Düsterheit und Melancholie, hervorgerufen durch einen Klangteppich aus Baseline, eingedubbten Synthetics (die einen weiteres Rhytmuselement erzeugen) und einer unaufdringlichen Gitarre. Einfach schön! Was man von der sehr gitarrenlastigen, an „Nirvana“ erinnernde*, Single-Version nicht unbedingt behaupten kann (aber unbedingt mal das Video anschauen – es lohnt sich!). Es folgt mit „Get right with me“ wieder ein eingängiger Gospelsong. Nun greifen DM in die Effekte-Kiste und zeigen an „Rush“ was man mit Klangeffekten so zaubern kann. Heraus kam ein in hohem Maße synthetischer, grooviger Song, obwohl sich die Gitarre stark in den Vordergrund drängt. Nicht schlecht. Der Song hat Single-Qualität – wurde aber leider zur B-Seite degradiert. Es wird ruhiger. Martin Gore fleht mir seine Ballade „One caress“, unterstützt von Streichern und Chellisten, ins Ohr. Ein Liebeslied nunja, aber kein schlechtes. Der Schlusstrack „Higher love“ war für mich zugegebenermaßen gewöhnungsbedürftig, Aber irgendwie hat mich dieser hypnotische, sphärische Song mit dem treibenden Beat doch gefangen. Das vierte Highlight eines Albums, dass zu Recht als eines der besten DM-Alben gilt. Ein unbedingtes Muß – auch für Nicht-Fans! Mein Lieblingsalbum von DM!

Hörempfehlungen: Das gesamte Album – unbedingt aber „In your room“

Anmerkung: Das Live-Album „SOFAD – live“ und insbesondere die DVD „Devotional“ sind auch nicht zu verachten…

* Was nicht verwundert: hat doch Butch Vig, der mit „Nirvana“ deren Album „Nevermind“ produzierte, diese Version, den „Zephyr mix“, gebastelt.

Historisches Intermezzo
Unmittelbar nach der Devotional-Welttournee geriet die Band in eine existenzielle Krise: Im Juni 1995 zog Alan Wilder für sich die Reißleine und verließ die Band, um sich fortan seinem Soloprojekt „Recoil“ zu widmen. Fletsch bekam Depressionen und Blondlöckchen Gore stellte beim hastigen Genuss von Hefeweizenbieren einen persönlichen Rekord nach dem Anderen auf. Er sagte mal in einem Interview, dass das jeweilige Konzert der Tour nicht anstrengend sei, sondern die darauf folgende After-Show-Party. Naja. Mister Gahan schnitt sich die Pulsadern auf – mehr noch: Am 28. Mai 1996 drönte der sich so mit Koks und Heroin zu, dass er in Ohnmacht fiel. Wenig später blieb sein Herz stehen und olle Dave hatte für zwei Minuten eine Harfe in der Hand. Zum Glück holten Rettungssanitäter den klinisch Toten zurück ins Leben. Das war knapp. Daraufhin begab sich Gahan in ein Therapieprogramm für Drogenabhängige. Allgemein wurde in dieser Zeit erwartet, dass sich die Band auflösen würde. (Nur so am Rande: Soetwas hätte ich von U2 gleich nach deren Bandgründung erwartet.)