Gehen wir zurück ins Jahr 1903, auf den Bahnhof von Tutwiler, einem Nest irgendwo in Mississippi. Der Orchesterleiter W.C. Handy wartete auf einen Zug, der neun Stunden Verspätung hatte und schlief ein.

„Dann (so schreibt er in seiner Autobiographie) packte mich das Leben plötzlich bei der Schulter und weckte mich mit einem Ruck.“
Ein Schwarzer hatte angefangen, auf seiner Gitarre zu spielen. Beim Spielen drückte er ein Messer an die Saiten. Sein Lied hatte nur eine Zeile, die endlos wiederholt wurde:
Goin‘ where the Southern cross the Dog
Der Mann sang darüber, dass er zu einer Kreuzung zweier Bahnlinien unterwegs war.
Damit sind wir immer noch nicht am Anfang dessen, was wir heute Blues nennen. Aber doch schon ziemlich nahe dran. Denn auch wenn manche Autoren viel Zeit damit verbringen, den Blues als afrikanische Musik zu klassifizieren: der Blues als Musikform entstand im Süden der USA. Und zwar irgendwann an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Und er wäre nicht denkbar ohne die jahrhundertlangen Erfahrungen von Sklaverei und Knechtschaft, wie ihn die Schwarzen dort erlebt hatten.

Eine Wurzel des Blues war die Arbeit oder besser die Lieder, die die Sklaven und ihre Nachfahren bei der Arbeit sangen. Grob gesagt lassen sich diese Lieder als Worksongs und Field Holler bezeichnen. Worksongs waren Ruf-und-Antwort-Songs, mit denen ein Takt angegeben wurde, um rhythmisch koordinierte Teamarbeit beispielsweise beim Entladen von Wagen oder beim Bau von Straßen zu erleichtern. Viele Beispiele davon wurden auf Platten aufgezeichnet, und der Worksong hielt sich noch lange nachdem der Blues bereits die schwarze Folk Music dominierte. Die Ballade von „John Henry“, die so einprägsam von Furry Lewis in Memphis aufgenommen wurde, ebenso wie von John Hurt in Mississippi und von Jesse Fuller aus Georgia (um nur einige von vielen zu nennen) war ursprünglich ein Worksong. Und Howlin‘ Wolf, einer der größten Mississippi-Bluesmen, erzählte 1967 von den Worksongs, die er in seiner Kindheit gehört hatte:
„Einige der Männer erfanden Songs wie ‚I Worked Old Maude and I Worked Old Belle‘: solche Sachen eben. Die sind einfach da raus und sangen bei der Arbeit. Songs zum Pflügen, Songs um Maultiere anzutreiben. Morgens zogen die los und fingen an zu pflügen und zu brüllen und zu singen. Diese Lieder erfanden die einfach so nebenbei. Die machten Geräusche und Musik, wie es ihnen gerade passte. Die Worksongs machten die einfach frei Schnauze. Ein Worksong enthielt die Zeile ‚I got the blues but I’m too damned mean to cry‘.“
Was Wolf gehört haben muss, war eine Mischung aus Worksongs und Field Hollers. Oftmals waren das lediglich musikalisch klingende Zurufe aus einer Arbeitsrotte, wenn einer der Männer ein paar Worte rief, die dann von anderen weitergerufen wurden; manchmal bloß ein „wo bist du“, das ein einsamer Arbeiter einem anderen auf einem entfernten Feld zurief.
Huddie Ledbetter, besser bekannt als Leadbelly, spielte eine Reihe von Hollers und Worksongs ein, darunter „Whoa Back Buck“, „Julia Ann Johnson“ und „Line ´em“.
Um das Jahr 1904 sammelte ein gewisser Newman White in Auburne, Alabama, auf den Feldern Worksongs; in ihnen erfasste er die meisten der einfachen Sätze, die den Kern der frühen Blues bildeten:

Some folk say de fo‘ day blues ain’t bad But de fo‘ day blues am der wust I ever had.

war einer Texte, die er fand. Das Lied wurde an anderen Orten mit einem leicht abgewandelten Text gesungen: „Some folks say de Memphis Blues ain’t bad“, oder

„Some folks say de St Louis blues ain’t bad“.

Das Wort tauchte gelegentlich auch in Liedertiteln auf, jedoch nur als Slangausdruck ohne jegliche Beziehung zu einem musikalischen Stil.

Die ersten als Blues bezeichneten Kompositionen wurden 1912 veröffentlicht:

  • „Dallas Blues“ von Hart Wand, einem weißen Musiker aus Oklahoma City. Die Melodie besteht aus einer einfachen zwölftaktigen Tonfolge, die in drei viertaktige Phrasen unterteilt ist und dem späteren Blues-Schema sehr ähnelt.
  • „Baby Seals‘ Blues“ von Arthur „Baby“ Seals, veröffentlicht im Sommer 1912, ist nach heutiger Betrachtung eher ein Volkslied als ein echter Blues.
  • Der „Memphis Blues“ von W.C.Handy wurde schließlich im September 1912 veröffentlicht. Der Titel ist eigentlich ein Cake Walk, ein damals populärer Tanz.

Handy, der damals beliebteste Orchesterleiter in Memphis, bezeichnete sich später immer als „Vater des Blues“. Er war aber erst der dritte Komponist, der einen „Blues“ in Druck gab. Und die eigentliche Musik der Farbigen bezog er noch später in seine Kompositionen mit ein. In seiner 1941 erschienenen Autobiografie erinnert er sich:

„Ich gestehe, dass ich nur zögernd die einfachen, volkstümlichen Formen verwandte … Für mich als Leiter vieler respektabler konventioneller Kapellen war es nicht leicht, zuzugeben, dass eingewöhnlicher slow-drag der Rhythmus selbst sein könnte… Aufgeklärt wurde ich in Cleveland, Mississippi, wo jemand bei einer Tanzveranstaltung eine seltsame Bitte zu uns herauf schickte. Auf dem Zettel stand, ob wir nicht ‚unsere Eingeborenenmusik‘ spielen könnten. Ein paar Augenblicke kam schon die nächste Bitte herauf. Ob wir etwas dagegen hätten, wenn eine hiesige farbige Kapelle ein paar Stücke spielen würde? Ob wir etwas dagegen hätten: Wir amüsierten uns. Welcher Hornist konnte während der bezahlten Stunden etwas gegen eine Zigarettenpause haben? Wir verließen dankbar das Podium, und die Neuankömmlinge traten auf. Sie wurden von einem langbeinigen, schokoladebraunen Jungen angeführt. Ihre Band bestand nur aus einer uralten Gitarre, einer Mandoline und einem heruntergekommenen Bass. Die Musik die sie machten, entsprach genau ihrem Aussehen. Sie begannen mit einer jener sich immer und immer wiederholenden Phrasen, die keinen deutlichen Anfang und ganz gewiss kein Ende zu haben schienen. Der Rhythmus war quälend monoton, aber es ging weiter und weiter \dots Ein Regen von Silberdollars fiel zwischen die stampfenden Füße. Die Tänzer gebärdeten sich wie toll. Dollars, viertel Dollars und halbe Dollars, der Regen wurde dichter und dauerte an, während ich den Hals verrenkte, um besser sehen zu können. Dort vor den Jungen lag mehr Geld als meine neun Musiker für den ganzen Abend bezahlt bekamen.“

Die einsamen Rufe von den Feldern und die Arbeitsgesänge waren bei den Farbigen in den Städten mittlerweile fast vergessen, Die Trommelrhythmen aus Afrika ebenso. Doch der Gesangsstil und die emotionale Direktheit der Musik hatte sich erhalten. Man sang die neuesten Schlager nach, und als sich die starke Tradition der Plantagenmusik mit der konventionelleren Stadtmusik berührte, trat in beiden Stilen eine Wandlung ein. Die Stadtmusik wurde ausdrucksvoller, und die Plantagenmusik benutzte lockerere Reime und einen stetigeren Rhythmus. Handy hat die Melodien der von ihm für primitiv gehaltenen „Eingeborenen“ genommen, eigene Stücke daraus gebaut und in einem Jazzarrangement verpackt. Und sowohl der Memphis Blues, als auch der St. Louis Blues wurden zu Welthits mit immer neuen Interpretationen bis in die Gegenwart.

Mit den drei 1912 veröffentlichten Blues begann eine regelrechte Blues-Welle. Alle Schlagerkomponisten begannen „Blues“ zu schreiben. Gesungen wurden diese vor allem von Frauen, zunächst sogar meist von weißen. Musikalisch waren die Stücke, sofern sie nicht einfache Schlager mit dem Wort „Blues“ im Titel waren, eine Verknüpfung von traditionellem Jazz mit Blues. Begleitet wurden die Sängerinnen meist von Pianisten oder von Jazzbands verschiedener Besetzung.

Davon deutlich unterschieden ist der Country-Blues, die Musik der fahrenden Musiker der Südstaaten zwischen Texas, Mississippi-Delta und der amerikanischen Ostküste. Hier dominierten eindeutig Männer, die sich allein auf Gitarre und Mundharmonika begleiteten. Oder es bildeten sich kleine Gruppen, die zum Tanz aufspielten. Rhythmisch und textlich war dieser Blues wesentlich rauer und ungeschliffener. Er sprach nicht die Besserverdienenden an, die sich den Besuch in Theatern oder den Kauf von Platten leisten konnte. Sondern er spiegelte direkt das harte Leben auf den Baumwollfeldern oder den Holzfällerlagern wider. Für Städter war diese Musik eindeutig etwas Unfeines. Doch zum Tanz am Wochenende im Holzfällerlager oder auf der Plantage war das genau das Richtige.