Roger Willemsen (Foto: Smalltown Boy/Wikipedia)Unter den Intellektuellen Deutschlands nimmt Roger Willemsen eine Sonderposition ein. Unter den vielen Titeln, die in einer Vielzahl zu Bestsellern avancierten (z.B. Deutschlandreise, Der Knacks), verbirgt sich eher unscheinbar auch sein literarisches Debüt namens "Kleine Lichter".

Willemsen versteht es, seine akademische Bildung (studierter Philosoph, Germanist und Kunsthistoriker) in seinen Essays in einer Form mit einzubringen, die sie nachvollziehbar macht –  ohne dabei eine vollkommene Theorie zu paraphrasieren – und schließt sein Wissen nur insoweit ein, wie es der Erzählweise dienlich ist. Dabei verfällt er auch nicht in das andere Extrem der Oberflächlichkeit, greift nicht Zitate aus ihren Zusammenhängen und missbraucht nicht vorhandene Gedankengänge zur schmückenden Untermauerung eigener Thesen. Somit bilden seine Texte eine Komposition aus akademischen Wissen, persönlichen Erfahrungen und vorurteilsfreien Beobachtungen mit viel Einfühlungsvermögen, die er in einer sensiblen Erzählweise darlegt. Es ist schwierig in diesem Konglomerat einen roten Faden zu erkennen, da die einzelnen Facetten geistreich geschildert werden und der Leser sich oft darin verlieren kann, doch erschließt sich der Strang, da die einzelnen Episoden und Erzählungen thematisch zusammengehalten werden. Diese thematischen Rahmen sind im meist banal klingenden Titel ganz offen benannt.

Unter den vielen Titeln, die in einer Vielzahl zu Bestsellern avancierten (z.B. Deutschlandreise, Der Knacks), verbirgt sich eher unscheinbar auch sein literarisches Debüt namens Kleine Lichter. Die schon hervorgehobene Empathie gewinnt hier eine neue Dimension dadurch, dass Willemsen aus der Perspektive einer Frau spricht. Valerie pendelt zwischen Tokio und Wien, wo ihr Lebensgefährte Rashid im Koma liegt. Auf Anraten der Ärzte bespricht sie Kassetten, die während ihrer Abwesenheit dem komatösen Freund vorgespielt werden. Aus dieser fatalen Situation heraus, in der sich die beiden Liebenden befinden, beginnt Valerie die Geschichte ihrer Liebe neu zu erzählen und zu deuten.

Ähnlich wie André Gorz, der im Alter von 84 Jahren seiner tot kranken Frau und sich in Brief an D unmittelbar vor ihrem gemeinsamen Suizid ein literarisches Denkmal setzte, beginnt Valerie mit den Voraussetzungen ihrer – in diesem Fall fiktiven (im Gegensatz zu Gorz) – Liebe. Sie erlaubt sich einen Vorgriff auf ihre vorangegangenen Liebhaber und spart dabei auch nicht deren sexuelle Unzulänglichkeiten aus. Spätestens hier vergisst man völlig, dass der Mann Willemsen es ist, der diese Analyse vollzieht. Über die Sexualität hinausgehend offenbaren sich grundlegende Mängel, die ihr die anderen Männern entbehrlich und ihren Freund Rashid im Koma zum vollkommenen Liebhaber machten: „Besonders schmerzhaft sind tiefe Erfahrungen mit flachen Menschen. Die Oberflächlichen haben nichts, wo du alles hast. Sie lassen dich leiden, sie können nichts dafür. Ihre Oberfläche darf man lieben, aber nie weitergehen.“ Es entspinnt sich die Geschichte einer Liebesbeziehung; den einzelnen Stationen und Ereignissen wird immer eine umfassende Interpretation mitgegeben.

Wer mit Roger Willemsens Stil nicht zu Recht kommt, wird auch seinen literarischen Erstling "Kleine Lichter" meiden müssen. Auch hier sind viele Exkurse und Gedankengänge, die im ersten Moment nicht zusammenhängend erscheinen, sich aber zu einem Großen und Ganzen fügen. Zu Beginn ist Willemsen noch dichter an einer Ausdrucksweise, wie sie vorkommt, wenn  man tatsächlich eine Kassette bespricht, doch wird es im Verlauf der Erzählung aufgeben, was daran liegen kann, den umfangreichen und stets tiefer gehenden Reflexionen besser zu folgen. Dem Verdacht des Kitsches wird schon früh ausgewichen, wenn es heißt: „Ich will dir die Liebe erklären, wie man den Krieg erklärt. Das heißt, die Liebe kann ich dir nicht erklären, nur meine. Ich erkläre sie dir in alten Vokabeln. Es geht nicht anders: Wer liebt, wechselt das Jahrhundert.“ Die Befürchtung ist auch unbegründet. Willemsen beweist, dass man über Liebe schreiben kann und nicht zwangsweise in seichte kitschige Gewässer wechseln muss und würdigt damit die Liebe, welche durch inflationären Gebrauch von vielen Filmen und Illustrierten in unserem heutigen Sprachgebrauch verwässert wurde.