Mit dem Begriff des Genies wird oft fahrlässig umgegangen. In der Musik des 20. Jahrhunderts ist überhaupt kaum jemand, dem man diesen Ehrentitel zuerkennen möchte. Oder wenn doch, dann zählt allerdings Ray Charles zu den ersten Kandidaten. Seine Fusion von Rhythm & Blues mit Gospel führte zum Soul. Und sein Verhandlungsgeschick ist noch heute Vorbild für farbige Musiker. „The Genius of Ray Charles“, erschienen 1959 ist dennoch eine zwiespältige Angelegenheit, wenn auch auf äußerst hohem Niveau.

Die Platte zerfällt stilistisch nämlich in zwei komplett unterschiedliche Hälften. Die A-Seite bringt sechs Titel feinsten swingenden Rhythm & Blues in Big Band Besetzung. Charles bringt Klassiker wie „Alexanders Ragtime Band“ oder „Let The Good Times Roll“ mit einem Orchester, was sich aus Musikern von Count Basie und Duke Ellington zusammensetzt. Arrangiert hat unter anderem Quincy Jones. Es swingt, es rockt und die Füße zucken im Takt: Phantastisch!

Doch dann die B-Seite: Hier sind sechs Balladen, die Charles mit großer Streicherbesetzung interpretiert. Inbrünnstig singt er Liebeslieder und präsentiert sich damit schon mal als der Popstar der späteren Jahrzehnte. Kein Jazz, kein Swing, nur Schmalz. Großartig, aber nur in kleinen Dosen zu genießen. Der Grammy für die beste männliche Pop-Vocal-Performance für das Album ist gerechtfertigt. Aber für mich noch wichtiger: Auch „Let The Good Times Roll“ wurde mit einem Grammy bedacht 1960: für die beste Rhythm & Blues-Aufnahme.