Nuyorican Poets Cafe in Loisaida section of New York CityAnmerkung: Zeitgleich zur Veröffentlichung dieser Polemik des Schriftstellers Martin Mollnitz erscheint eine entschärfte Fassung des Beitrages in der Wochenzeitung „Freitag“. Um zu illustrieren, worauf es dem Autor bei Gedichten ankommt. veröffentlichen wir außerdem noch vier Gedichte von Mollnitz. Kommentare, Stellungnahmen und Proteste sind ausdrücklich erwünscht und erreichen uns am besten über redaktion@wasser-prawda.de.
Was ich an neuer Lyrik, insbesondere aus dem Umkreis der in Mode gekommenen „urbanen Literatur“ lese, erscheint mir als die introvertierte Innenschau in der bemühten, die erste Person allzu wichtig nehmenden Ausdrucksweise von Selbsthilfegruppen. Man blättere in beliebigen Publikationen der sog. Independent-Verlage oder klicke sich durch die zahllosen Foren und Lyrik-Communities, überfliege die für zugkräftig gehaltenen Leseproben der schmalen Neuerscheinungen in preiswerter Klappbroschur oder lese sich die Elaborate der vielen, vielen Preisträger großer und kleiner Wettbewerbe spaßeshalber laut vor. Man wird das alles kaum unterscheiden können, weil das Substantielle, Markige und Markante fehlt; vor allem wird man den künstlerischen Ausdruck, ach, überhaupt nur die Aussage vermissen. Auf einer Website des „Leipziger Literaturverlages“, eines wirklich ernsthaften Hauses, finden sich „Gedichte“ wie das von Karolin:

wenn du gehst

sag mir bescheid wenn du gehst
weck mich auf
lass mich wach sein
wenn du gehst
geh wohin du willst
doch lass mich wissen
wenn dein herz
mit dir von mir weggeht
tu was du willst
und was dir guttut
zeig mir,
was dich glücklich macht
geh von mir weg
doch vergiss einen teil
von dir bei mir
solange du bei mir bist.

Was im Gegensatz zu dieser Etüde gerade noch für eine Lektüre taugen mag, nimmt man kaum je ein zweites Mal zur Hand. Aber das alles steht unter der Überschrift „Neue Lyrik abseits des Mainstream“. Kein Wunder, dass sich die Verlage gegen neue Manuskripte wie verzweifelt wehren.

War es der Lyrik immer Anliegen, eine neue Sicht auf Welt und Mensch zu vermitteln, etwas auszusagen, was so noch nicht gesagt worden ist, weder im Wort noch in Sinn und Form, so etablieren die vielfältigen Publikationsmöglichkeiten eine Möchtegern-Lyrik, deren Layout-Silhouette wohl noch Dichtung vortäuschen mag, aber nur ein Schemen, eine leere Maske davon ist. Plattes Zeug, Dahingeredetes wurde immer geschrieben; es konnte nur noch nie so unkompliziert an die breite Öffentlichkeit durchgeschaltet werden. Deswegen gibt es neuerdings vielleicht überall Schriftsteller. Das Diktat des Mittelmäßigen, Billigen und Schlechten, dieses Übermaß an hohlem Geräusch, das sich ein lyrisches Antlitz schminkt, verdirbt den Geschmack der im Netz gleichgeschalteten Gefällt-mir-Gesellschaft, und zwar von den subkulturellen Online-Zeitschriften bis in die Lektorate von Verlagen und Zeitschriften hinein, die früher als allererste Institutionen galten. Überhaupt hat es den Anschein, als lektorierten Lektoren nicht mehr, ebensowenig wie Redakteure noch redigierten.
Dass alles so Hingeschriebene publiziert wird, wenn es mit der Ausdauer des von sich selbst Überzeugten nur lange genug gleich an mehreren Stellen ansteht, mag in einer Gegenwart, deren künstlerische Maßstäbe ebenso in der Krise sind wie alles andere an ihr, legitim sein, es erschwert aber wenigstens dem anspruchsvollen Leser, zwischen all den dummdreisten und narzisstischen Selbstauskünften überhaupt mal eine Stimme zu vernehmen, die noch Kraft hat und es wert wäre, gehört zu werden. Mit ihrer Inflationierung begann die irreversibel anmutende Regression deutschsprachiger Lyrik.
Und die Form? Längst vergessen, dass freie Rhythmen immer noch des Rhythmus bedürfen, dass Lyrik als älteste literarische Gattung in gebundener Sprache spricht, herkommend vom Lied und vom Gesang, von den Trommeln und Tänzen. Sie schlug seit den uralten Dithyramben tiefe Saiten im Hörenden an, sie verdichtete Welt und begriff diese auf neue, wieder ganz ursprüngliche oder zu den Ursprüngen zurückkehrende Weise. Welt aber ist viel mehr als ein unklares Flirren des eigenen fragilen Selbst. Das Bedürfnis, blasse Befindlichkeiten herauszustellen, ist wohl natürlich; jeder möchte sich in Schmerz und Hoffnung entäußern, nur braucht damit nicht der Geltungsanspruch verbunden sein, man schriebe oder spräche so bereits Lyrik. Und überhaupt muss nicht immer ein ernsthaftes Publikum her. Vielleicht reicht eine Mail oder der nächste Eintragung in einen der alles und jedes beredenden Blogs. – Sicher, mancher schreibt wieder Sonette! Thomas Kunst beklagt sich in dieser hohen Form sogar darüber, nicht von Wettbewerbsjuroren wahrgenommen zu werden, allerdings so, wie deutsche Sonette meist geschrieben wurden – kalter Regelpoetik folgend, der Inhalt wie in Tuben gepresst.
Beherrscht man das Eigentliche der Lyrik, die Sprache, deren Schwung und Strahlung, nicht, und fehlt es einem neben Empfindungsstärke und Gedankentiefe überhaupt an Worten und Wortschatz, so bleibt nur der Aufputz der Attitüde: Die Interpunktion konsequent wegzulassen scheint beinahe Eingangsbedingung für vorgespiegelten Anspruch zu sein und kann aus einem belanglosen Text mindestens ein kurzweilig unterhaltsames Sprachrätsel entwickeln, das der Leser vielleicht immer noch „ganz spannend“ findet, weil er sich mit dem Auffinden syntaktischer Strukturen etwas zusammenzureimen vermag. Durchgängige Kleinschreibung versucht auf kosmetisch optischem Wege vorzutäuschen, was sprachlich nicht erreicht wird, die Konzentriertheit der Worte. Und was für manch selbsterklärten jungen Wilden der sechziger und siebziger Jahre sehr avantgardistisch ausgesehen haben mag, das ist heute für die schwachen Nachahmer beinahe obligatorisch, das &-Zeichen, dieser alte Witz, so gebraucht, als hätte man beim Schreiben seiner Gedächtnisprotokolle gar keine Zeit, sich noch mit den drei Buchstaben einer allzu simplen Konjunktion aufzuhalten.
Ganz passable Naturlyrik habe ich – gerade von jungen Damen – hier und dort gelesen, etwas süßlich vielleicht und von der Fantasy-Welle fluoreszierend-irrlichternd mit Strass-Perlen überglitzert:

Auf den nassen Straßen
leben Phosphorfische
und winden ihre kleinen Herzen um meine Füße

Ich trage die Glückshaut
von Tiefseekindern
und fresse die Eintagsfliege
mit silbernen Blicken vom Asphalt …
(Preisträgerin Fee Katrin Kanzler)

Gedankenlyrik, die diesen Namen verdient, die also Dimensionen und hohe Bögen aufzuzeigen wagt und über die Lebensweisheiten gehobener Ratgeberliteratur und Denktrivialisten wie Paul Coelho hinausgeht, gibt es nirgendwo mehr; und das über Jahrzehnte so reiche Feld der politischen Lyrik, oft am dichtesten am Lied, oft frech-satirisch, manchmal aber sogar hymnisch, scheint völlig verödet oder an die Comedy-Barden verloren zu sein, weil es der Mehrzahl der Jungautoren vermutlich viel zu poplig ist, sich mit etwas auseinanderzusetzen, was in der Zeitung steht, dem Medium, das ihnen überhaupt so fremd erscheint wie der längst verstorbene Großvater oder Günter Grass mit seinen letzten Verrenktheiten weltanschaulicher Dichtung. Klassenkämpfer sind dank verbesserter Konsumtionsbedingungen ausgestorben, und der fossile Rest der Arbeiterbewegung, die Gewerkschaften, singt nicht mehr, sondern trillert auf rosa Plastik-Pfeifen. Selbst was die alte Zeitungstante „Die Zeit“ in einer verzweifelt anmutenden Reanimierung jüngst an politischen Gedichten wachzurufen versuchte, glich schließlich nur Karikaturen einst starker Auftritte.

Auf neue Weise soll junge Lyrik offenbar das sein, was alte Kitschpostillen einst waren und wovon sich echte Sezessionisten bewusst distanzierten: Gefällig, wenigstens dem Autor angenehm, cool und gechillt, auf den eigenen, ziemlich trostlosen seelischen Innenraum besonnen. Wird das Wenige an Leben, was man da noch spürt, nicht ausgedrückt, fällt der Schreiber offenbar ganz auf seine innere Leere zurück, in der Kondensate ungenauer Wahrnehmungen und Gefühligkeiten für eine unbehagliche Nasskälte sorgen, die man lieber – sich aussprechend – in Richtung duzgemeinschaftlicher Seminare, Kurse und Happenings verlässt, so wie andere zu Spieleabenden gehen oder Lust am gemeinsamen Kochen entwickeln, nur eben viel erregter, indignierter, frustrierter, und deshalb darauf sinnend, endlich mal etwas von sich loszuwerden.

Der Indoor-Status des eigenen Daseins lässt die Welt jenseits des letzten Rückzugsraums als fremden Planeten erscheinen, in den man hin und wieder seine Messsonden streckt, um skeptisch die Überlebensmöglichkeiten da draußen zu prüfen, woraufhin man sich dann doch lieber auf die eigene Übersichtlichkeit zurückziehen möchte, aber Angst und Stillstand weiter ausformuliert, damit sich in einem überhaupt etwas dreht. Natur und Arbeitswelt oder existentielle Streitfragen der Epoche – den meisten Autoren viel zu profan im Gegensatz zur eigenen tragisch oder bunt aufgeblasenen Nulligkeit, die so vor sich hinraunt.

Lyrik zu veröffentlichen ist der zunehmend legasthenische Versuch, mit anderen monadischen Selbstformulierern der Szene Kontakt aufzunehmen. Weißes Rauschen von Zelle zu Zelle, von Isolation zu Isolation, Zwölftonmusik der großen Entfremdung, zurückgeworfen von den eigenen vier Wänden. Die anderen, die sinnlich Lebendigen, jene mit mehr Puls und höheren Amplituden, interessiert das armselige Gedöns ohnehin nicht. Der im Mittelpunkt seiner winzigen Welt textende Autor könnte sich auch mit dem iPod abstöpseln und am Fenster ein wenig vor sich hin swingen. Aber weil sich in der ph-neutralen Seele doch noch Impulse regen oder weil man sich lieber als intellektuell verstehen möchte, als einfach nur ein Freak oder ein Fan von irgendwas zu sein, versucht man es mit ein paar blassen Bonmots und geschraubten Pointen oder klagt sich aus und zerhäckselt sein prosaisches Dasein mit willkürlichen Zeilenbrüchen, derer es für die belanglosen Meldungen und traurigen Signale, auch für verstimmte Hilferufe eigentlich nicht bedürfte. Man hätte das alles einfach als SMS hintereinander weg senden können, ohne Umschalttaste, dafür kleingeschrieben und mit extra viel &-Zeichen.

Gäbe es Veranlassung für tatsächlich neue Lyrik? Zunächst mal die philosophische, die Welt – mit Wittgenstein alles, was der Fall ist – nicht als bloße Kulisse der eigenen Langweiligkeit, sondern als Problem aufzufassen, und zwar nicht verwinselt und vergreint, sondern offensiv. Heiner Müller sprach gern von Material. Das seine fand sich in der Geschichte der sozialistischen Hoffnungstragödie und in der Betrachtung der ihn gefangen nehmenden Stagnation, das heutige könnte in einer sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen und vor allem ideellen Krise erkannt werden, die bereits allergrößte Umbrüche ahnen lässt. Wir sind nicht nur in der Gefahr, dass etwas passiert, wir sollten dies als Hoffnung im Einerlei des Banalen begrüßen. Expressiv!

Außerdem verbirgt sich hinter den hektisch kurzlebigen zwei Jahrzehnten Aufschwungsschwindel von New Germany, die uns alle allzu sehr beschleunigten und viele allzu schnell altern ließen, eine ganze Halde immer noch jüngster Vergangenheit, die für alle Arten Kunst geradezu Mythisches hergibt. Wäre doch interessant, Novalis’ Illusion, die Welt zu poetisieren, in der Weise erweiternd zu verstehen, dass man das Dramatische von Stalinismus und Poststalinismus, von Kapitalismus und Postkapitalismus, von Kaltem Krieg, von Mauer und Stasi, von geschundener Natur und vergewaltigten Mitgeschöpfen poetisch fasst, und zwar so, wie es der Literatur stets Anliegen war, nach einer zweiten, dritten, tieferen Lesart neben oder hinter der offiziösen Verlautbarungsrhetorik zu suchen. Vielleicht sollte gerade nicht die Welt poetisiert werden, sondern die Poesie mal wieder verweltlicht, ergo politisiert. Allein über die von den gesellschaftlichen Wohlstandsanteilen, der sogenannten politischen Mitte, betriebene Fetischisierung des Wachstums und die damit verbundenen Exklusions- und Einnivellierungsprozesse ließen sich etliche Gefängnishefte vollschreiben.

Nach wie vor dürften nur die Mittel des Ästhetischen dem didaktisch überformten Politischen und Geschichtlichen nahe kommen. Der Blick der Kunst durchschlägt das aufgedunsene Klischee und legt die Kerne des Wesentlichen, also des anziehend Erotischen wie eklig Abstoßenden, wieder frei. Gegen die Kultur der Farce bedarf es wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern des unmittelbaren Blicks des Kindes, das die Wahrheit sagt, indem es unvoreingenommen eine Feststellung trifft: Aber der Kaiser ist doch nackt! Und alle zum Schweigen bringt. Die Lyrik in ihrer Fähigkeit zur Verdichtung könnte solche Blicke vermitteln, über jene des Andersenschen Kindes hinaus sogar wissende, weil mehr in Augenschein genommen werden kann als das gerade ablaufende Schauspiel des Gegenwärtigen, nämlich mindestens noch dessen Historizität und allerwenigstens seine fragwürdige Psychologie. – Hic rhodus, hic salta.
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