Anlässlich des 100. Geburtstages von Miguel Hernandez wurde vom 23.10. bis zum 30.10.2010 eine Gedenk- und Literaturfeier für den spanischen Poeten in Greifswald veranstaltet. Aus diesem Anlass fand am 29.10. ein Gespräch zwischen dem spanischen Dichter und Literaturwissenschaftler Francisco Martinez Moran und dem Greifswalder Literaturwissenschaftler Michael Gratz im Antiquariat Rose statt. Der stark gekürzte Auszug wurde von den Mitveranstaltern Mariola Merino und Carlos Gonzales übersetzt. Gratz: Wie lernt man in Spanien Miguel Hernandez kennen?
Martinez: Das ist eine sehr interessante Frage. Die Antwort hat zwei verschiedene Aspekte, beide sind schwer zu erklären.
Auf der einen Seite wird Miguel Hernandez als ein Symbol betrachtet, aber er ist nicht das einzige Opfer des Spanischen Bürgerkriegs. Die spanischen Konservativen sind damit einverstanden, dass die Opfer anerkannt werden, aber sie setzen sich nicht mit der Schuld Francos auseinander. Die Öffnung der Massengräber, die sich oft neben Landstraßen und unter Olivenbäumen befinden, würde ein Schuldeingeständnis bedeuten. Gestern habe ich den Ausspruch „lasst Dinge bleiben“ kommentiert. Dieser ist sehr typisch für Spanien und die Konservativen haben genau diese Mentalität.
Auf der anderen Seite gab es seit der Wende eine totale Anerkennung der heroischen Autoren der spanischen Republik. Deshalb lernen Kinder und Jugendliche nicht nur Autoren wie Miguel Hernandez oder Garcia Lorca in der Schule kennen, sondern sie besuchen Schulen, die nach Miguel Hernandez oder Garcia Lorca benannt sind.
Und das ist offensichtlich ein Widerspruch: Hernandez ist nicht ganz als ein Opfer der Diktatur, dafür aber als ein Opfer dessen, was die Diktatur repräsentiert, anerkannt.
Gratz: Gab es Hernandez in der Öffentlichkeit zu Lebzeiten Francos?
Martinez: Ja, besonders am Ende der Diktatur. Es gibt sogar ein Album von Joan Manuel Serrat, womit der Komponist Gedichte von Hernandez rehabilitiert.
Der Autor war nicht verboten, dieses Album wurde 1972, drei Jahre vor dem Tod Francos, veröffentlicht und man konnte auch die Gedichte lesen, das aber mit Vorsicht. Es gab Ausgaben der Gedichte von Hernandez, die heimlich nach Spanien gekommen sind. Anthologien von Hernandez wurden sehr spät in Argentinien veröffentlicht.
Das ist erneut ein Widerspruch: Es war zwar nicht verboten, Machado, Hernandez oder Lorca zu lesen, aber es war gefährlich, Kontakt mit Gruppen zu haben, die sich mit diesen Autoren beschäftigten. Schon während der Diktatur gab es diesen Widerspruch.
Gratz: Es gibt Werkausgaben von sehr vielen spanischen Dichtern, von den drei Nobelpreisträgern in seinem Umfeld selbstverständlich, die ganze Werkausgaben haben. Pablo Neruda war der Einzige, der komplette Werkausgaben in der DDR und in der Bundesrepublik hatte. Garcia Lorca war sowieso schon zu Lebzeiten berühmt in ganz Europa, auch in Deutschland. Jetzt gerade ist im Schweizer Ammann-Verlag der letzte Band einer vierbändigen Ausgabe von Antonio Machado erschienen. Es gibt also von vielen Dichtern Werkausgaben und gute Einzelbände. Von Miguel Hernandez erschien 1965 ein Band in der BRD, allerdings von einem in der DDR lebenden Kommunisten und Dichter, Erich Arendt. 1972 erschien eine veränderte Ausgabe dieser Übersetzung in der DDR. Und das ist jetzt 38 Jahre her und seitdem ist kein Buch von Hernandez mehr erschienen. Und ich frage mich, ob das in Deutschland, ähnlich wie im konservativen Spanien, daran liegt, dass er ein Linker war mit unreiner Poesie und merkwürdigen Ansichten.
Martinez: Ich denke, dass ein großer Teil der letzten Antwort sehr gut zu dieser Frage passt.
Miguel Hernandez wurde in Spanien sehr unregelmäßig veröffentlicht. Die ersten Ausgaben seiner Werke wurden in den 60er Jahren in Lateinamerika veröffentlicht. In den 70er Jahren wurden verschiedene seiner Gedichte durch die Musik bekannt gemacht. Die ersten Anthologien sind lateinamerikanisch und man muss bis zum Ende der Diktatur un die ersten Jahre der Wende auf eine Neuintepretation seiner Texte warten. Zu Beginn der 80er Jahre dann gibt es die erste spanische Ausgabe, aber sie enthält kaum neue Interpretationen. Nun haben wir seinen 100. Geburtstag und benutzen noch immer diese Ausgaben.
Ich denke, und das ist nicht politisch korrekt, dass die konservativen Literaturgesellschaften und Verlage in Spanien kein Problem mit der Veröffentlichung linker Autoren haben. Das Problem besteht darin, wie die spanische Linke das Geld für ihre heroischen Autoren verteilt. Sehr viel Geld wurde in Autoren wie Lorca investiert. Und hier zum Beispiel mit der Zielgruppe Kinder und Jugendliche.
Ein weiterer linker Autor, der nicht von den Rechten boykottiert wird, ist Alberti. Er war Kommunist und sehr aktiv im Spanischen Bürgerkrieg, und trotzdem ist für die Veröffentlichung seiner Werke auf Seiten der linken Parteien in Regionen wie Andalusien kein Geld vorhanden. Und das, obwohl Andalusien sein Heimatland ist.
Das ist schon wieder ein Widerspruch. Wir Spanier lieben Widersprüche. Dieser besteht hierin: Die Konservativen hatten immer ihre Autoren. Sie hatten nie Probleme, ihre Autoren anzuerkennen. Sie mussten ihre Autoren nie rehabilitieren oder neu bewerten. Die Linken haben sich im Gegensatz dazu sehr auf einige bestimmte Autoren wie Lorca fokussiert, so dass sie die Autoren der 27er-Generation vergessen haebn, besonders Hernandez und Alberti.
Gratz: Du hast gesagt, die Konservativen haben mehr Geld, ihre Dichter zu fördern. Wer sind die konservativen Dichter?
Martinez: Das ist ebenfalls eine sehr kuriose Sache und typisch spanisch.
Die literarische Landschaft Spaniens besteht zu 30 bis 40 Prozent aus konservativem Gedankengut. Es gibt da sogar junge Poeten, die 20 oder 30 Jahre alt sind. Vorher haben das Regime und postregime Regierungen normalerweise immer auf das Pferd gewettet, das immer gewinnt. Und das sind die Poeten des Goldenen Jahrhunderts. Stiftungen, die die Namen von Cervantes, Lope des Vega oder Quevedo tragen, bekommen einfacher Geld von konservativer und linker Seite als kleiner Stiftungen wie die von Hernandez oder Alberti. Obwohl Jubiläen beider Autoren anstehen, sind diese beiden Stiftungen, die deren Werke und die Forschung unterstützen, fast auf Null reduziert.
Ein gegenwärtiger Autor mit einer sehr konservativen Mentalität ist Luis Alberto de Cuenca, der 1945 geboren wurde.
Gratz: Vielleicht können wir auf das Geld noch einmal zurück kommen. Das ist natürlich in Deutschland auch ein Problem bei der Rezeption. In der Marktwirtschaft gibt es vielleicht nicht so viele ideologische Schranken, aber wer bezahlt das? Und dann springen da solche Idealisten ein wie der Schweizer Egon Ammann, ein Verleger, der ein kleines Vermögen geerbt hat und beschließt, das für einen Lyrikverlag durchzubringen. Er hat im letzten Jahr mitgeteilt, dass er aufhört. Er ist alt und die Geschäfte laufen nicht gut und wahrscheinlich ist das Vermögen durchgebracht. Für die Kenntnis der Weltlyrik im deutschen Sprachraum ist das ein ungeheurer Verlust. Und ich habe gedacht, im Fall von Hernandez müssen wir wieder 80 Jahre warten, bis wieder so einer kommt, der ein bisschen Geld hat und beschließt, das für Lyrik auszugeben.
Martinez: In Spanien ist das sehr unterschiedlich. Die Veröffentlichung von Poesie wird als Philantrophie betrachtet. Es ist etwas, und das war immer so, womit man sein Geld verliert.
Es gibt eine Tradition, die, glaube ich, aus der Zeit Francos stammt, sehr kleine und einfache Ausgaben von jungen spanischen Poeten und europäischen Autoren zu veröffentlichen, so wie diese vorhin erwähnten Ausgaben spanischer Autoren in Deutschland. Lustig ist, dass die Verlage Geld für preisgekrönte Autoren bekommen. Dieses Geld verwenden sie für die Veröffentlichung dieser Autoren, machen allerdings nur ein Minimum. Mit dem Rest des Geldes finanzieren sie die anderen Poeten ihres Verlages.
Gratz: Wie gingen spanische Dichter mit der Zensur um?
Martinez: Bestimmte Dichter wie Blas de Otero oder auch Gabriel Celaya wurden damals in Spanien weiterhin veröffentlicht, obwohl sie sehr deutlich gegen die Diktatur geschrieben haben, aber sie sagten nichts Explizites. Das ist das, was im Theater als „Posibilismus“ bezeichnet worden ist: „Stellen wir etwas auf die Bühne, von dem das Publikum weiß, dass das gegen Franco gerichtet ist, aber was von der Zensur nicht betroffen sein wird.“ In diesem posibilistischen Theater wurden viele offensichtliche Elemente eingefügt, von denen man genau wusste, dass die Zensur sie raus schneiden würde und dabei den Kern des Stückes, die politische Aussage, unverändert ließ. So haben sie viele explizit sexuelle Szenen dargestellt, von denen sie wussten, dass diese raus fliegen würden, so dass aber die Hauptbotschaft unberührt blieb.
Und bei den Dichtern ist es genau das Gleiche. Zwei gute Beispiele sind Blas de Otero und Gabriel Celaya. Sie sprechen davon, die Stimme und das Wort zu fordern und das kann man nicht zensieren, aber sie sprechen deutlich von der Demokratie.