John Grishams Tatsachen-Thriller Der Gefangene ist eine Reise in die Welt der Fehlurteile der amerikanischen Justiz und damit ein Plädoyer gegen die Todesstrafe.
Jetzt nun für mich überraschenderweise Grishams erster Tatsachenbericht. Der Gefangene (The Innocent Man – Heyne TB 81174) ist eine Reise in die Welt der Fehlurteile, an die er (obwohl er früher Anwalt war), kaum jemals einen Gedanken verschwendet haben will. Erst als er in der New York Times den Nachruf auf Ron Williams, der elf Jahre unschuldig in der Todeszelle saß, las, wurde er auf den Fall aufmerksam. „Selbst in meinen kreativsten Augenblicken hätte ich mir keine Story ausdenken können, die so vielfältig und vielschichtig war wie die von Ron“, meint er in seinen Anmerkungen.
Die Geschichte von Ron Williams, einem gescheiterten Baseballspieler und Dennis Fritz, einem gescheiterten Lehrer, ist ein Beispiel für das Wirken der amerikanischen Justiz. Da gibt es einen grausamen Sexualmord mit jeder Menge Spuren am Tatort. Doch die Ermittlungen kommen wegen Schlamperei nicht voran. Da kommt der psychisch gestörte Williams als Tatverdächtiger für die Öffentlichkeit gerade recht. Zwar hat kein Zeuge ihn am Tatabend irgendwo mit dem Mordopfer beobachtet. Doch wohnt er schließlich in der Nähe der Toten. Und außerdem war er schon zweimal wegen Vergewaltigung angeklagt. Dass er beide Male freigesprochen wurde, spielt dabei wirklich keine Rolle. Staatsanwaltschaft und Polizei drehen so lange an den Indizien und setzen die von ihnen als Verdächtige vergesehenen Männer unter Druck. Für den Prozess werden letztlich noch gekaufte Zeugen aufgefahren. Und das Todesurteil für Williams ist dann nur noch eine Formsache. Obwohl es keinerlei handfesten Beweis und auch kein verwertbares Geständnis gab. Zudem wurde im Prozess seine Urteilsfähigkeit nicht geprüft. Erst bei Einführung der DNA-Tests konnte die Unschuld der beiden Männer festgestellt werden. Täter war der Hauptbelastungszeuge der Anklage, ein wegen zahlreicher Gewaltverbrechen einsitzender Mann, zugleich der letzte, mit dem die Tote gesehen wurde.
Der eigentliche Skandal ist das Verhalten der Staatsanwaltschaft, die sich trotz des erfolgten Freispruchs nicht von ihren Lieblingsverdächtigen verabschieden wollte. Auch wurde keinerlei Wort des Bedauerns oder der Entschuldigung für die langen unrechtmäßigen Haftstrafen gefunden.
Grisham war noch nie ein platter Gegner der Todesstrafe. Vielmehr sind in Romanen wie „Die Jury“ durchaus Sympathien dafür zu spüren. Doch das Erschrecken, wie durch Schlampereien und fehlerhafte Ermittlungen Menschen unschuldig in die Todeszelle kommen, ist dem Buch deutlich anzumerken. So sind die „Helden“ Grishams in seinem in mehrmonatigen Recherchen erstellten Berichts nicht nur die zuständigen Richter am Revisionsgericht, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens durchsetzten. Es sind vor allem auch die Mitarbeiter des „Innocence Project“, die mittlerweile mehgr als 180 Gefangene durch die Auswertung von DNA-Tests zur Freiheit verholfen haben. Dieses Ergebnis selbst sollte Anhängern der Todesstrafe zu denken geben: Wie schnell lassen sich Indizien zurechtbiegen, um ein Urteil zu erwirken? Und wie groß ist die Chance, dass im Verfahren wirklich die Wahrheit herausgefunden wurde? In einem Rechtssystem, wo sich Richter zur Wahl stellen müssen und Bezirksstaatsanwälte spektakuläre Fälle als Sprungbrett für eine politische Karriere sehen, sollte man mit voreiligen Antworten auf diese Fragen sehr vorsichtig sein.
John Grisham – Der Gefangene (Heyne TB)