"Pflückgedichte" Helmut Seethaler, WienKann die Literatur heute noch subversiv sein? Die Frage stellen heißt offenbar, sie negativ zu beantworten. Wie wenn Gottfried Benn fragt: Soll die Dichtung das Leben bessern?

Immerhin fragte Benn nicht: "Kann die Dichtung heute noch auf das Leben einwirken?" Das große HEUTE NOCH, welches suggeriert: Niemals sei eine Zeit so unübersichtlich gewesen. So undurchschaubar. Frühere Generationen hätten es da leichter gehabt. Diese Klage ist vermutlich universell. Ich bin sicher, dass die alten Ägypter und Chinesen sie auch schon gestellt haben, vor 3, 4 oder 5 tausend Jahren. Früher, als die Götter noch auf Erden lebten. Als die Welt noch in Ordnung war. Als es noch Zucht und Anstand gab. Als das Wünschen noch geholfen hat, sagen ja sogar die Märchen.

Aber es hat nie geholfen. Apokalyptische Klagen gibt es, seit Menschen so etwas aufschreiben. „So weh dir, deutsche Zunge! Wie staht dein Ordenunge. Daß nu die Muck ihr' König hat. Und daß dein Ehr also vergaht!“, jammerte Walther von der Vogelweide. Die Dichter des 17. Jahrhunderts können auch nicht genug klagen. Goethe und Schiller beklagen sich um 1800, dass es mit dem Publikum in den heutigen großen Städten seine eigene Bewandtnis hat. Das alte Modell, der Dichter schreibt sein großes Kunstwerk und das Publikum wird gereinigt, funktioniert nicht mehr. (Hat es vorher einmal funktioniert? Man weiß es nicht.)

Und ein paar Jahre nach Gottfried Benn seufzt in der damals noch jungen DDR der junge Dichter Rainer Kirsch: "Schwerer ist es heut, genau zu hassen". Und in der Spätphase des Sozialismus sein Kollege Volker Braun: „Der Weltzustand sei in den Schatten gigantischer Abstraktionen getreten.“

Nichts mehr zu durchschauen. Nichts zu verbessern. Nichts zu bewirken.

Wenn man also, wie ich hier vorschlagen will, mal davon ausgeht, dass es (so stehts in der Bibel) nichts Neues unter der Sonne gibt, müsste man vielleicht auch über dieses Problem noch einmal nachdenken. Das heißt also jenseits aller Gewissheiten, die einem eine Ideologie (wie sie etwa Kirsch und Braun im Sozialismus gegenüberstand) oder eine Theorie (für die Frage nach der Möglichkeit subversiven Sprechens postmoderne Theorien wie die von Michel Foucault oder Jacques Derrida).

Gab es jemals eine Zeit, in der Literatur das Leben bessern konnte? Wahrscheinlich heißt die Antwort da immer ja und nein. Natürlich hatten die Schriften der Aufklärer Einfluss auf revolutionäre Stimmungen und Ideen überall in Europa. Aber haben sie die Revolution ausgelöst? Ich glaube nein. Im Zweifel waren es eher die Brotpreise. Sind nicht auch jetzt in Ägypten und Tunesien Proteste gegen die Brotpreise den Revolutionen vorausgegangen?

Haben die kritischen DDR-Autoren die Wende ausgelöst? Gewiss waren viele der Initiatoren von Demonstrationen davon beeinflusst. Aber hat das irgendetwas entschieden? Zugrunde gegangen ist die DDR doch eher wegen der Schäbigkeit der Herrschenden, die einen erbärmlichen Eindruck machten und die keins der Probleme lösen konnten. Die Leute wollten einen Reisepass und Konsumgüter. Ist das etwa schlecht? Die so etwas für schlecht halten, wie jener Politiker, der im Bundestag eine Banane hoch hielt, können sich diese Haltung leisten, weil sie Reisepass und Bananen hatten.

In diesem Sinne ist keine Literatur subversiv. In der DDR also weder die kritischen DDR-Autoren wie Volker Braun oder Christa Wolf, noch die Dissidenten. Das sind akademische Diskussionen: wie langweilig!

Und ist etwa die österreichische Literatur subversiv? Wenn ja welche? War Hugo von Hofmannsthal subversiv? War Karl Kraus subversiv? Nein, wahrscheinlich war ausgerechnet ein österreichischer Gefreiter namens Adolf Hitler subversiv mit seinem unlesbaren Geschreibsel und dem Geld-Macht-Komplex, den es nach sich zog. Ihm gelang es, Deutschland zu zerstören. Nur Österreich hat überlebt, wie viele kritische Intellektuelle leidvoll erlebten. Wollt ihr Kunst und Kultur, oder wollt ihr Jelinek? So ungefähr fragte der Populist Jörg Haider. Wollen wir raten, wer mehr Stimmen hatte, Haider oder Jelinek?

Aber hier kommt doch ein Kriterium für die Subversitivität von Literatur in den Blick. Volker Braun schrieb mal: "Unsere Arbeit wäre nicht sinnvoll, wenn sie nirgends auf Widerstand stieße."

Es muss einen Grund geben, dass die "Nestbeschmutzer" immer wieder auf Widerstand stoßen. Buhrufe von Theaterbesuchern sind vielleicht zu verschmerzen. Aber sie drücken doch etwas aus. Jemand fühlt sich getroffen. (Im Theater ist das ja nicht das VOLK, sondern eher der Bildungsbürger, der sich provoziert fühlt.)

Ist Elfriede Jelinek subversiv? Ihre Stücke werden in den Theatern aufgeführt, ihre Bücher gedruckt und gelesen und sogar besprochen. Und sie wurde mit der höchsten Auszeichnung für einen Schriftsteller geehrt, dem Nobelpreis. Allerdings waren die Reaktionen gespalten, ja sehr kontrovers. Heftige Zustimmung und heftige Ablehnung. In Amerika erfuhr sie mehr Ablehnung, und ein Mitglied der schwedischen Akademie trat (1 Jahr später!) aus der Akademie aus, weil er plötzlich der Meinung war, dass Elfriede Jelinek den Nobelpreis zerstört habe.

Publikumsspaltung wäre vielleicht ein Kriterium. Das war ein Eckwert in der ästhetischen Theorie Bertolt Brechts. Die Theaterbesucher wollen eher Stücke, die ihnen aus dem Herzen sprechen. Subversiv nenne ich Autoren, die das Publikum spalten wollen. Die deshalb auf Widerstand stoßen. Das löst keine Revolutionen aus, noch nie waren Bücher dazu in der Lage. Und doch hatten Machthaber und Interessenvertreter des Publikums immer wieder Angst vor Büchern und Schriftstellern. Viele wurden und werden isoliert, inhaftiert, ermordet. Das gibts auch heute, wenn auch in dieser Schärfe nicht bei uns.

Aber ich verweise auf einen österreichischen Schriftsteller, der seit vielen Jahren das Publikum in Wien spaltet und Obrigkeit, Justiz und Polizei auf sich zieht. Ich meine Helmut Seethaler, genannt der Zettelpoet. Tausende Anzeigen der Wiener Verkehrsbetriebe und der städtischen Behörden zog er auf sich. Voriges Jahr wurde er auf Bewährung verurteilt. Er bewährt sich aber nicht. Er fährt fort zu provozieren. Was tut er?

Er schreibt kleine Ausprüche auf Zettel und hängt sie auf Leinen im öffentlichen Raum auf. Die Texte klingen wie harmlose kleine Sprachspielchen.

NIMM EIN GEDICHT

BEVORS VERNICHT`

EIN AMTLICHER WICHT

(igtuer)

stand vor kurzem auf einem. Und was passierte? Er kündigt seine Aktionen via Twitter und Facebook an: heute nacht um 3 an dem und dem Bahnhof. Und dann erscheinen 3 Polizisten, reißen die Zettel ab und schmeißen sie auf den Boden.

Warum tun die das?

Was kostet das?

Wer bezahlt das?

Natürlich der Steuerzahler. Ist das in seinem Interesse? Da ist das Publikum gespalten.

Ich halte dafür, jemanden für subversiv zu halten, der so wütende Reaktionen auf sich zieht wie etwa Elfriede Jelinek oder Helmut Seethaler, der Zettelpoet.

Ich halte nichts von einer Literaturkritik, die bekrittelt, diese Texte seien doch trivial, schon mal dagewesen und so weiter.

Die amtlichen Abreißer haben das besser begriffen. Der Zettelpoet stört die öffentliche Ordnung. Er ist subversiv.

Und die Literaturwissenschaftler, die ihn aus theoretischen oder ästhetischen Gründen verreißen, sind für mich Hilfspolizisten. Solange es Polizisten und Hilfspolizisten gibt, die Gedichte verreißen oder abreißen, solange gibt es subversive Literatur.

 

Der Text entstand als Beitrag für die Literatursendung "Plattform" auf radio 98eins.