Was haben die Bibel und der Blues miteinander zu tun? Für den Theologen und Bluesfan Gary Burnett eine ganze Menge. Schon die Psalmisten, so meint er in seinem Buch „The Gospel According To The Blues“ hätten eindeutig den Blues gehabt. Und so unternimmt er den spannenden Versuch, an Hand der Geschichte des Blues und des Lebens von Blueskünstlern aus Vergangenheit und Gegenwart Vorschläge zum Verständnis der Bergpredigt Jesu zu geben.
 

Für weltabgewandte Christen kann das eine echte Herausforderung sein: Wie kann man Blues und Bibel in einem Atemzug nennen? Wie kann man überhaupt davon ausgehen, dass die immer wieder als Musik des Teufels bezeichneten Songs und ihre Sänger Hinweise zum Verständnis der Bibel geben könnten? Mit dieser Debatte hält sich Burnett zum Glück nicht lange auf, die ist seit Jahrzehnten schon erledigt. Schon allein die Existenz einer Vielzahl von Bluesmusikern, die eindeutig christliche Inhalte in ihren Songs haben, reicht als Gegenbeispiel. Der Teufel hat einfach keine Musik!
Die Bibel und die Musik – besonders der Blues – haben eine Menge gemeinsam. Diese Welt, so sagt es die Bibel, ist eine Welt, die sich absolut in die falsche Richtung entwickelt hat: Egoismus, Krieg, Ungerechtigkeit – wo man auch hinschaut, liegen die Dinge im Argen. Schon Jahrhunderte vor Christus haben die Propheten das ausgesprochen. Christi Botschaft war dagegen anders: Er verkündete, dass Gott die Welt verändern, erneuern, will. Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen, so fassen die Evangelien die Kernbotschaft von Jesu Predigten zusammen. Gott will diese Welt erneuern – und wer Jesus nachfolgt, der soll Teil dieser Erneuerung werden, der ist selbst mit verantwortlich für das, was in der Welt geschieht.

Die Erfahrung von Ungerechtigkeit, von Gewalt und Ausgrenzung, von Hunger und Elend steht am Anfang der Musik, die sich zum heute bekannten Blues entwickelt hat. Der Bluessänger erzählt von diesem Elend – und er erweckt Hoffnung bei den Zuhörern. Der Blues ist im Innersten nicht pure Widerspiegelung, sondern Überwindung der Hoffnungslosigkeit. So wie das Evangelium spricht auch er davon, dass diese Welt sich ändern kann, dass sich Dinge zum Besseren wandeln können und werden. Der Blues, so Burnett in einem Interview, war in vielerlei Hinsicht ein Protestgeschrei, ein Ausdruck der Schmerzen der afrikanischstämmigen Amerikaner angesichts von Diskriminierung, Rassismus und Gewalt im Süden der USA. Auch heute reflektiert er auf viele Weise die Erfahrungen von Menschen überall auf der Welt.

Burnett vergleicht die Erfahrungen der Zeitgenossen des neuen Testaments zu Zeiten des Römischen Reiches mit den Erlebnissen der aus Afrika Verschleppten, die zwar nach dem Bürgerkrieg auf dem Papier freie Menschen waren, denen aber jegliche Rechte abgesprochen wurden. Und davon ausgehend kann man die Linie weiterziehen in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts, wo noch immer Gewalt, Unfrieden und eine immer schlimmer werdende soziale Ungerechtigkeit in der Welt zu beobachten sind.
Heute, so Burnett, kümmerten sich die Gesellschaften viel zu sehr darum, das Leben so einfach wie möglich zu machen. Für den Aufschrei der anderen, die in dieser Welt leben und nicht so gesichert sind wie wir, für die Leidenden und Unterdrückten, sind wir taub geworden. Dabei gehöre die Klage über den Schmerz in der Welt, auch die Anklage an Gott über den Zustand der Welt, zum Kern des christlichen Glaubens. Der Blues könne dabei helfen, die Schmerzen auszudrücken – und sie zu verstehen.
Und anders als vielfach missverstanden, geht es im christlichen Glauben eben nicht um eine Vertröstung auf eine jenseitige Glückseligkeit sondern um eine umfassende Transformation der Welt nach Gottes Plan. Und jeder Christ ist Teil dieser Veränderung. Wenn Jesus, so Burnett, in den Seligpreisungen die Friedensstifter benennt, dann meint er keine kleine Elite, dann meint er kein unerreichbares Ideal, an dem wir immer scheitern müssen. Nein, wer Jesus nachfolgt, der wird zu jemandem, der den Frieden im umfassenden Sinne (Schalom) anstrebt, einen Zustand der Gerechtigkeit, der Gewaltlosigkeit, des Miteinanders aller über sämtliche Grenzen und Ideologien hinweg.

Es geht um diesen Frieden, um Gottes Gerechtigkeit in Jesu Predigt. Wer sich das immer wieder vergegenwärtigt, der kann die Bergpredigt letztlich nicht anders als als konkrete Aufforderung zum eigenen Handeln verstehen. So zugespitzt Burnetts These. Und das ist neben den vielen historischen und theologischen Denkanregungen, die „The Gospel According To The Blues“ dem Musikliebhaber, dem Theologen und dem Christen gleichermaßen liefert, der Kern eines wirklich wichtigen Buches. Glauben und Nachfolge Jesu sind eben nicht außerhalb der Welt, in einer heiligen Nischengesellschaft möglich, sondern nur aktiv in dieser Welt und in der Veränderung dieser Welt.

Gary Burnett: The Gospel According To The Blues
Cascade Books 2014
Sprache: Englisch
ISBN-10: 1620327252
ISBN-13: 978-1620327258
Taschenbuch: 17,00 Euro
Kindle-Edition: 9,39