LogoWenn man sich zu Fragen der Bedeutung von kultureller Vergangenheit im positiven Sinne äußert, begibt man sich schnell in die Gefahr, wie ein pathetisch-schwulstiger Oberlehrer zu wirken, weshalb ich die Phrase ‚kulturelles Erbe’ zu Beginn des Satzes absichtlich vermied; dies treibt keinem mehr ehrfurchtsvolle Schauer über die Haut, sondern ein Gähnen ins Gesicht.

Man ist versucht die vielen darin mitschwingenden Komplexe mitzuverarbeiten, ohne sie nur oberflächlich anzureißen. Geht man wiederum zu weit, verrät man die gewichtige Bedeutung des Themas dadurch, dass man sich in eine (zugegebenermaßen bequeme und vielleicht gar nicht vorhandene) Außenperspektive begibt und den Wert dieser Texte für unsere gegenwärtige Welt unterschlägt. Diese in den nur drei Sätzen vorweggenommene Apologie soll aber genügen, um auf die Probleme des – man möchte fast sagen europäisches – Phänomens ‚Kanon’ einzugehen.

Jeder altkluge Verteidiger einer langen Literaturgeschichte und deren Bedeutung für uns bis in die Gegenwart hinein würde mit einem Zitat eines antiken Autors beginnen; so auch ich. Aischylos schrieb in ‚Sieben gegen Theben’: „Der Ahnen Heiligtümer fromm beschirmend fiel er ohne Tadel, wie's dem Mann zu streben ziemt.“ Auch wenn es unredlich scheint, Phrasen aus ihrem Zusammenhang gerissen in eigene Überlegungen mit einzuweben, so soll doch mit diesem Zitat zweierlei veranschaulicht werden: zum einen haben Sätze aus einer Zeit von vor über 2500 Jahren weiterhin eine Geltung; damit ist aber nicht Aktualität gemeint, denn aktuell ist dasjenige, was kurzlebig und intensiv in Köpfen und Mündern kursiert und bei nächst bester Gelegenheit durch ein anderes Schlagwort ersetzt wird. Zum anderen – damit ist die inhaltliche Seite des Zitats hervorgehoben – bedürfen kulturelle Erbstücke (jetzt habe ich es doch gesagt!!!) einen Schutz auch in der Gegenwart. Leider wird darunter oft ein Spruch auf Grußkarten, schmückende Zier über Aufsätzen oder nur als gut gemeinter Rat in passender Situation, jeweils mit namentlichen Verweis auf den Schöpfer, verstanden und insofern missverstanden. Solche Missverständnisse dienen nur dem Nachschwätzer bzw. seiner Eitelkeit, um eine Pseudoweisheit, -belesenheit oder was auch immer herauszustreichen.

Bei der Auseinandersetzung mit Kunstwerken vergangener Zeiten steht der Bezug zu einer lebensweltlichen Gegenwart im Vordergrund, der sich jedoch nicht unter ‚Alltagserfahrungen’ subsumieren lässt, denn: eine Kunsterfahrung ist unbedingt verschieden von einer Alltagserfahrung, damit aber immer noch ein Teil unseres Lebens. Zwar trennt uns eine zeitliche Distanz von den Produzenten; wir sollten sie aber niemals als Vorväter monumentalisieren, sondern als geistige Brüder und Schwestern in unser Hier und Jetzt mit einbeziehen. Selbstverständlich liegen ihre Lebenswelten Jahrhunderte zurück und diese waren bestimmt von ganz anderen Voraussetzungen; sie handelten aus unterschiedlichsten und uns heute fremdartig erscheinenden Maximen, Nöten usw. heraus. Dennoch waren sie uns heutigen Menschen – da bin ich mir ziemlich sicher – keineswegs handwerklich, intellektuell, moralisch, künstlerisch oder in jeder anderen beliebigen Kategorie, die uns neben einen Naturwesen zum Kulturwesen machen, unterlegen. Sie schufen etwas, was über sie hinaus ging und bis in unsere Gegenwart hineinstrahlt. Auf den Prozess schließlich, welcher sie zum Teil eines Kanons machte, hatten die Schöpfer (vielleicht mal abgesehen von Goethe oder eins zwei anderen, die schon zu Lebzeiten an ihrem Nachruhm mitarbeiteten) mit am wenigsten Einfluss. Wie hätten sie es auch haben können, wenn das Geschaffene weit über sie und damit auch ihre eigene Zeit herausreicht? Die Wirkung, insbesondere für den Schöpfer selbst, ist unabsehbar, weil die eigene lebensweltliche Zeitwahrnehmung vom historischen Reflex werden sollte. Hinzu kommt ein Konglomerat an äußeren Faktoren, wie mögliche Paradigmenwechsel, Verlustgeschichte oder ähnliches. So können wir heute nicht absehen, ob die derzeit viel diskutierten und im Feuilleton vorkommenden Künstler für eine Gesellschaft Anno 2099 noch irgendeine Relevanz in Anspruch nehmen können – außer vielleicht, dass sie über unser jetziges Denkgefüge oder auch uns noch nicht bekannten Irrtümer Auskunft geben. So kann es auch sein, dass sich unter uns ein Künstler befindet, wenig beachtet, kaum rezipiert, möglicherweise gar angefeindet, im wahrsten Sinne des Wortes am Rande der Gesellschaft stehend, für eine kommende Menschengemeinschaft einen ganz eigenen und besonderen Wert besitzt. Dies ist in der Kulturgeschichte relativ häufig vorgekommen, so dass selbsternannte Künstler, unter ihnen auch viele Nichtskönner, grämend, von der Welt missverstanden fühlend, einsam in ihrer Klause hocken und auf diese Karte des ‚späteren Ruhms’ setzten – oft zu unrecht.

Was sind aber nun die Kriterien, die Kunstwerke aus einer weit zurückliegenden Zeit für uns noch wertvoll erscheinen lassen und welche halten dem nicht stand? Dies ist beispielsweise für Skeptizisten und jeden anderen, der kein festes Geschichtsbild für sich ausgefertigt hat, schwierig zu beantworten. Mir scheint es so, dass es etwas elementar Menschliches – was genau zu benennen ich mir nicht getraue – zu sein scheint, dass immer wieder aufgegriffen, modifiziert, umgedeutet und stets mit neuer Brisanz geladen wird. Natürlich liegt darin ein didaktisches Problem zu sagen: „Das Werk ist aktuell, weil …“ Mit dieser aufdoktronierten Phrase wird wohl kaum ein Lernender etwas anzufangen wissen, da unter solchen Bedingungen Bezüge zwanghaft gesucht werden, die nicht einmal bestehen müssen. Zielführender ist es einfach die Wege möglicher bereits getroffener Erkenntnisse bei eigener künstlerischer Tätigkeit aufzuzeigen. Das kann frustrierende Effekte hervorrufen, wenn man sich der Tatsache bewusst wird, dass ein künstlerisch ausgearbeiteter und für einzigartig individuell gehaltener Gedanke bereits von Geistesgrößen schon vor langer Zeit und eventuell professioneller herausgearbeitet wurde, kann anderseits auch ein optimistisches Gefühl evozieren, da man sich in einem Gedankenkreis beheimatet betrachten kann mit jenen Brüdern und Schwestern, die zwar schon lange tot sein können, ihre Emanationen es aber bei weitem nicht sind.

Also laufen wir bewusst oder unbewusst in den Spuren bereits hervorgebrachter Kunstwerke. Der Umgang mit diesem ist nicht nur rein informativ und zeigt uns eine Traditionslinie bis heute auf. Darüber hinaus gilt es eine real gesellschaftliche Dimension zu beachten, die uns in Zeiten der Krisen offenbar werden sollte. Stefan Zweig schrieb in der Auseinandersetzung mit dem Umsichgreifen des Nationalsozialismus den historischen Konflikt zwischen Luther und Erasmus von Rotterdam nieder. Die Figur Luthers wurde dabei in einem gewissen Luther-Hitler-Vergleich historisch gesehen ungerecht ausgearbeitet, diente jedoch nur der Anschauung von zwei unterschiedlichen Wertekonzepten: dem Despotismus vs. Humanismus. Zweig sah sich angesichts der Bedrohungen seiner Zeit in der Linie des Humanismus und sucht nach geistigen Verwandten – auch in der Vergangenheit. „In Schiller ersteht die Botschaft des Weltbürgertums dichterisch beschwingt, in Kant die Forderung des ewigen Friedens, immer wieder bis zu Tolstoi, Gandhi und Rolland verlangt der Geist der Verständigung mit logischer Kraft sein sittliches Recht neben dem Faustrecht der Gewalt.“

Insbesondere große Krisen lösen den Reflex auf kanonisierte Werke aus; Lessings „Nathan der Weise“ hatte nach dem Zweiten Weltkrieg Hochkonjunktur. Anliegen des antiken Dramas war ja auch eine ständige Neuinszenierung der selbstbewussten Konstituierung. So gelangen wir durch die Kunst zu einer Schau in unser eigenes Leben, denn die Kunst produziert, wie die Wissenschaften (nur auf andere Weise), auch Wahrheiten.