Erinnerungen an die Zeit der Wende lassen sich gut auch parallel lesen zur Geschichte der Befreiung Israels aus Ägypten. Und die Zeit danach zu der Geschichte vom Tanz um das Goldene Kalb. Auszüge aus einer Predigt.

Vielleicht sollte man sich wirklich mal daran erinnern, wie man die Zeit vor 20 Jahren selbst erlebt hat.

Da ist ein Abend im Februar oder März in Leipzig. Für eine Forschungsarbeit bin ich in Merseburg im Archiv und übernachte bei befreundeten Theologiestudenten, die mich zu einem Treffen mit Westdeutschen einladen: Warum macht Ihr hier in der DDR nicht was, was, was im Grundgesetz bei uns nicht möglich ist? Warum strengt Ihr nicht eine Volksabstimmung an? Die Verfassung der DDR lässt doch so eine basisdemokratische Mitbestimmung zu. Ne Menge bedrucktes Papier und paar schöne Aufkleber wandern ins Gepäck. Und der Gedanke: Was können wir hier eigentlich tun bleibt im Hintergrund.

Dann der Sommer. Wir sind in Altwarp im leer stehenden Pfarrhaus, um gemeinsam theologisch zu arbeiten und den Tagesablauf der Mönche im Kloster ein wenig ein zu üben. Dazwischen immer wieder Gespräche: Was können wir tun, damit sich was ändert an der Uni und letztlich in der DDR? Pläne werden geschmiedet. Doch ob man sie umsetzen kann? Die Erlebnisse von der peinlichen Domeinweihung mit Honeckerbesuch machen immer noch wütend. Abends dann schwimmen wir im Oderhaff und kommen immer wieder über die nahe Grenze nach Polen. Manchmal hilft nur das Wegtauchen, um nicht von den Scheinwerfern der Grenzer erwischt zu werden.

Dann der Herbst: In Leipzig wird immer wieder demonstriert. Auch in anderen Orten gehen die Leute auf die Straße. In Greifswald ist noch Ruhe. Jedenfalls äußerlich. Denn die Studenten beginnen sich zu organisieren und versammeln sich regelmäßig. Und irgendwann gehen selbst in Greifswald die Menschen auf die Straße, riefen: Wir sind das Volk. Und wir besetzen irgendwann die Stasi, die Parteizentrale, den Rat des Kreises: Ein Gefühl der Befreiung ist das: einfach die Angst nicht mehr ernst nehmen. Einfach tun, was man für richtig hält. Und es funktioniert: plötzlich wollen alle mit einem reden, wollen alle gemeinsam nach Lösungen suchen. Diskussionsrunden sind überfüllt. Der Runde Tisch wird auch hier etabliert und kümmert sich um lokale Belange auch jenseits von Wahlbetrug und Stasi.

Bis letztlich die Grenze aufgeht: auf einmal verschieben sich die Prioritäten. Da tauchen neue Ziele auf und der Traum von einer selbst mitgestalteten Gesellschaft ist für die Menschen nur noch am Rande interessant. Wichtiger ist nicht das ferne Ziel, sondern die möglichst schnelle finanzielle Angleichung. Nicht Freiheit sondern Sicherheit ist den Menschen wichtiger. Etwas, woran man sich festhalten kann – eine harte Währung etwa und ein Pass, der was gilt. Und Verantwortliche, die man beim Scheitern verantwortlich machen kann.

Freiheit ist anstrengend und unsicher. Was nützt einem der Traum von einer schönen Zukunft, wenn man in der Gegenwart nichts zum Festhalten hat? Das war auch das Problem beim Volk Israel. Gott hatte sie unter der Führung von Mose aus Ägypten befreit und ihre Verfolger umgebracht. Doch was nützt das, wenn man mitten in der Wüste ist und das Ziel noch so weit entfernt ist, dass es unwichtig erscheint?

Was nützt der Traum von dem Leben in Freiheit, wenn jeder Tag unsicher ist. Und wenn Gott einfach nicht zu greifen ist? Und so kommt es zu dem, was bösartiger Weise immer als „Tanz um das Goldene Kalb“ bezeichnet wird.

Die Menschen wollen ein sichtbares Zeichen für Gott haben. Etwas, was ihnen immer als Bild von Macht und Stärke vor Augen ist. Ein Gott, der nicht einfach unsichtbar irgendwo schwebt, sondern immer sichtbar bei ihnen ist. Und so schmelzen sie alles Gold ein, was sie haben, und gießen ein Bild von einem Stier: Ein Bild der Macht und Stärke. Hier: das ist Gott, ein starker Gott, einer der Fruchtbarkeit und Gewalt mitbringt!

 

Gott ist sauer. Da hat er die Menschen befreit, hat versprochen immer für sie da zu sein. Hat ihnen ein Land in Aussicht gestellt, wo sie leben können. Und dann haben die Leute nichts anders zu tun, als von den Regeln abzuweichen, kaum dass sie verkündet wurden: So nicht!, meint Gott. Er ist wütend, weil er enttäuscht ist.

Und das Volk: es sehnt sich einfach nach Sicherheit. Und demgegenüber ist ihm alles andere egal. Schnell wird das „Wir sind das Volk“ von anderen Sprechchören abgelöst. Wir brauchen was, woran wir uns festhalten können – und wenn Gott mit dem Mose vierzig Tage verhandelt – wo bleiben wir eigentlich? Kümmert er sich nicht um uns? Dann müssen wir halt selbst sehn, wo wir bleiben. Und so wird die Freiheit genutzt, um sie gegen eine selbstgewählte Sicherheit einzutauschen.

Als sich Moses auf der Wüstenwanderung sich auf den Berg Sinai zurückgezogen hatte, damit der Herr mit ihm rede, und er lange ausblieb, wurde es dem Volk unheimlich und die Leute sprachen zu Aaron: „Auf, mache uns einen Gott, der vor uns hergehe!“ Und Aaron hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihnen ein goldenes Stierbild vor Augen zu stellen, wie das Volk es von den Götterbildern in Ägypten kannte: „Siehe, das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat“. Und schon wurde ein Fest ausgerufen, dem goldenen Stier zu Ehren, man brachte ihm Opfer dar, führte Reigentänze auf und das Volk „setzte sich zu essen und zu trinken, und sie standen auf, um ihre Lust zu treiben“. Dieser „Tanz um das goldene Kalb“ ist seither zu einem Sprichwort geworden für eine Gesellschaftsverfassung, die dem äußeren Wohlbehagen alles zu opfern bereit ist; wo für jeden nur noch eines zählt: daß jederzeit genug Geld auf dem Konto ist. Daß es mit einer solchen Lebenseinstellung auf die Dauer nicht gut gehen kann, ahnt wohl jeder. Doch was soll`s: „Nach uns die Sintflut“. Oder mit einem Bibelwort ausgedrückt: „Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“. (1. Kor. 15, 32).

Soll Gott dem untätig zuschauen? Soll er sein Volk fallen lassen und ins Verderben rennen lassen?

Mose packt ihn bei der Ehre. Gott – was sollen die Leute von Dir sagen? Da befreist Du das Volk, nur um es dann bei den ersten Schwierigkeiten zu vernichten? Da versprichst Du Abraham und seinen Nachkommen das Land – und dann willst Du davon nichts mehr wissen und suchst Dir ein neues Volk? Das bitteschön ist doch wohl nicht dein Ernst! Das kannst Du doch nicht wirklich wollen!

Und Gott – er lässt ab von seinen Plänen. Er überlegt es sich noch mal. Er bereut sogar, was er geplant hat.

Vom Zorn Gottes reden Predigten heute nur noch selten. Und die Theologen sehen sich da in einer noblen Umgebung. Schon Friedrich Schleiermacher, einer der wichtigsten evangelischen Theologen im 19. Jahrhundert hatte gemeint, dass wir im Wissen um das Wirken Jesu von Gottes Zorn nichts mehr zu reden haben. Mit Jesus hat sich dieses Kapitel endgültig erledigt meinte er. Was soll das Reden von der Rache Gottes, wenn doch der Glaube an die Liebe Gottes den Menschen die Furcht vor Gott austreibt? Wenn wir daran glauben, dass Jesus jedem Menschen den Weg zu Gott ebnet, dann muss Schluss sein mit der Rede von Gottes Zorn und seiner Rache. Doch die Bibel schildert das anders.

Die Bibel, und nicht nur das Alte, sondern auch das Neue Testament, spricht ganz unbefangen vom Zorne Gottes. So auch unser heutiger Text aus dem zweiten Buch Mose. Dürfen wir dann einfach davon schweigen? Dürfen wir darüber hinweg gehen, so wie wir auch ungern über Sünde und Gericht reden? Es scheint peinlich geworden zu sein, unser Gottesbild als des allgütigen Vaters, des guten Hirten, der uns beschützt, der uns hilft, der alles verzeiht, mit solch ernsten Zügen zu verunstalten. Aber machen wir es uns damit nicht zu bequem?

Dietrich Bonhoeffer hatte einst die Prediger vor der Verkündigung einer „billigen Gnade“ gewarnt, die so wohlfeil zu haben ist, daß sie schließlich niemand mehr achtet. Vielleicht müssen wir heute auch vor einem bequemen Glauben warnen, der jeder Anstrengung aus dem Wege geht und jede Prüfung meidet, der zum Diener unseres Wohlbehagens gemacht wird und darum dem Ernst des Lebens auch nicht mehr gewachsen ist. Den wir darum auch nicht mehr brauchen.

Die Erinnerung daran, dass Gott eben nicht alles mit sich machen lässt, dass es ihm wichtig ist, wie wir unser Leben führen, ist heute so wichtig wie damals in der Wüste am Sinai.