Von Robert Klopitzke
Richard Huelsenbeck, einer der Hauptvertreter der Strömung des Dada, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts aufzublühen begann, umreißt in dem von ihm 1920 herausgegebenen Dada-Almanach, in dem sich neben theoretischen Schriften auch allerlei lyrische und prosaische Texte gesellen, die Bewegung wie folgt: „Dada ist der tänzerische Geist über den Moralen der Erde.
Dada ist die große Parallelerscheinung zu den relativistischen Philosophien dieser Zeit, Dada ist kein Axiom, Dada ist ein Geisteszustand, der unabhängig von Schulen und Theorien ist, der die Persönlichkeit selbst angeht ohne sie zu vergewaltigen. Man kann Dada nicht auf Grundsätze festlegen.“ Hört man diese Sätze, fühlt man sich zu Recht an den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche erinnert. Auch die von ihm geschaffene Figur Zarathustra äußert unter ähnlicher Wortwahl: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“ Die Parallele ist nicht zufällig. Die Künstler des Dada haben sich ernsthaft mit Nietzsches Fundamentalkritik am europäischen Geist beschäftigt und Ableitungen in ihr Schaffen eingewoben, ohne sie zu einer weiteren von Huelsenbeck berechtigt kritisierten ‚relativistischen Philosophie’ zu kreieren und zu erheben. In einer Zeit nach dem Verschwinden der deutschen klassischen Philosophie, wo der Positivismus in alle Wissenschaftsbereiche vorgedrungen ist, entwickeln sich eine Vielzahl von Strömungen, die einen durch reine Empirik und nüchterner Faktensammlerei entstandenen Mangel zu kompensieren versuchen. Psychologische, positivistische oder weltanschauliche Modelle tauchen in unzähligen Publikationen auf und schmücken sich – ähnlich wie heute jeder billige Ratgeber – mit dem Etikett ‚Philosophie’, geben vermeintliche Antworten, sind aber nicht in der Lage eine allumfassende Systematik, welche Probleme der Kunst, Wissenschaft und Lebenswirklichkeit des beginnenden Jahrhunderts beinhalten, zu bündeln, sondern dümpeln für sich daher. Der Dada nimmt an keinem dieser Sinngebungsversuche teil; er stellt sich da drüber. Die Zeit war gekennzeichnet durch starke Umbrüche: 1905 entwickelt Einstein seine Relativitätstheorie, 1908 geht Kandinsky vom gegenständlichen Malen ab und Picasso und Braqe malen erstmals kubistisch, 1909 erscheint das ‚Futuristische Manifest’, welches großer Impulsgeber des Dada war, von Filippo Thommaso Marinetti (bereits 1899 hatte Arno Holz „Über die Revolution in der Lyrik“ geschrieben), 1911 stellen Marcel Duchamp und Francois Picabia zusammen mit Delaunay und Léger im „Salon des Impépendans“ aus und das darauf folgende Jahr 1912 bildet den vorläufigen Höhepunkt mit dem Erscheinen von Kandinskys „Über das Geistige in der Kunst“, dem Herausgeben des „Blauen Reiters“ in München und der Publikation Matiettis eben genannter Schrift im „Sturm“.
Die Frage, ob Dada ein Vorbild für die Popkultur ist, scheint berechtigt, wenn mit Produkten gegen eine Epoche der Esoterik und Abstraktion, gegen Snobismus und intellektuelle Verfeinerung agiert wird. Sicherlich gibt es, wie bei jedem Formalbruch mit herrschenden Konventionen strukturell gesehen Vorbilder oder auch epigonale Auftretensweisen – selbst wenn sie unbewusst in die Welt kommen. So kann eine waghalsige These lauten: Frederike Kempner – der „Schwan von Schlesien“ – wie sie sich gerne selbst nannte, ist die stilistische Hebamme des Dadaismus. Jene Frau war Schriftstellerin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und gelangte mit den von ihr ernsthaft gemeinten und vom Publikum belächelten Gedichten zu zweifelhaftem Ruhm. Mit relativ geringem Weltwissen – sie reiste nicht viel oder weit und pflegte keinen fundierten Kontakt zu wissenschaftlich oder künstlerischen Diskursen ihrer Zeit – brachte sie eigenwillige Anschauungen in Verse, die dadaistisch anmuten, wie hier die letzten vier Zeilen in einem Gedicht über Heinrich Heine illustrieren soll: „Singe in des Himmels Sphäre, Alle Engel stimmen ein, Witzli Putzli sei vergeben – Alle Poesie ist rein!“ Leider beging Frau Kempner damit nicht eine bewusste Ästhetizismuskritik, sondern glaubte im vollen Ernst große Kunst nach Maßgabe ihrer Zeit zu schaffen. Peter Hacks schrieb 1982 über die Lyrikerin: „Zwei Eigenschaften drängen Kempner ins komische Fach: ihre Ernsthaftigkeit und ihre Entschiedenheit.“ und resümiert später: „Kempners Komik beruht auf ihren Stärken. Ihre körperhaftesten, durchgeführtesten, eigensten Verse sind ihre ulkigsten: lässt sich da eigentlich noch von unfreiwilliger Komik sprechen?“ Die Mythen, die sich um ihre Schriftstellerei wanken, z.B. dass ihre Verwandten verarmten, als sie sich beschämt und zur Reinhaltung ihres Namens große Bestände des publizierten Werkes ihres lyrisch ambitionierten Familienmitgliedes aufkauften, um sie einem breiten Lesepublikum vorzuenthalten, mögen überzogen sein. Jedoch hatte das lyrische Bemühen Frederike Kempners auch ihr Gutes, um diesen Exkurs bzw. diese Anekdote einer spielerischen These abzuschließen: Der Schwan von Schlesien war Lebzeiten von der Angst erfüllt, lebendig begraben werden zu können, was sich auch in einigen ihrer Gedichte (z.B. „Kind im Grab“) niederschlug. Deshalb setzte sie viel Engagement und Geldmittel ein, um die klinischen Bedingungen insoweit zu verbessern, dass nur diejenigen zur Beisetzung freigegeben wurden, bei denen unter verschärften Kriterien der Tod festgestellt und somit eine lebendige Bestattung weitestgehend ausgeschlossen werden konnte. – soviel zu unbewussten Vorläufern des Dada.
Vorher der Name ‚Dada’, der ab 1916 regelmäßig benutzt wurde, faktisch stammt, ist strittig, da sich seine Genese aus mehreren Quellen speist. So könnte die Geburtsstunde im Jahre 1914 liegen, als Hugo Ball in der Münchner Künstlerkneipe ‚Simplicissimus’ mit folgendem Vers auftrat: „O Eduart steck den Degen ein / Was denkst du dir dada bei’n“ Huelsenbeck behauptet, dass Ball das Wort zufällig in einem deutsch-französischen Wörterbuch entdeckt habe; auch eine Tagebuchnotiz Balls gibt einen Hinweis darauf: „Dada heißt im Rumänischen Ja, Ja, im Französischen Hotto- und Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen.“ Eine weitere, viel tiefer greifende Interpretation geht davon aus, dass die Initialen des mittelalterlichen Autors Dionysios Areopagita doppelt genommen – also: D.A. D.A. – den eigentlichen Ursprung des Wortschöpfungsprozess bildeten. Diese Annahme ist nicht so weit hergeholt, wie es vielleicht im ersten Moment erscheint, denn Hugo Ball beschäftigte sich mit dem Autor intensiv seit der Jahrhundertwende bis zu seinem Tod, wie sein Tagebuch belegt; auch finden sich in diesem ernst zu nehmende Hinweise des Einflusses der Initialen auf die Namensgebung der künstlerischen Bewegung. Dagegen ist die Behauptung Hausmanns von 1960, er habe den Namen kreiert, widerlegt. Grundsätzlich ist es schwierig, den Dada in eine Begrifflichkeit zu bringen, da die Bewegung sich konzeptionell jeglichen Festlegungen entziehen wollte.
Auch wenn man heute versucht, verschiedene Gruppen und Strömungen auszumachen, kann man davon ausgehen, dass lediglich in Zürich sich eine Gemeinschaft etablierte, auch wenn zu späterer Zeit Versuche unternommen wurden, dies wieder aufzulösen, da ein ‚Ismus’, dem Projekt ohne Festlegungen auszukommen, widerspricht. Heute – mit einem gewissen zeitlichen Abstand – kann man jedoch ein grobes geographisches Gefüge ausmachen, wo sich dem Dada zugehörig fühlenden Künstler zentrierten. Zürich gilt als die eigentliche Wiege der Bewegung, wo Hugo Ball 1916 – inmitten des Ersten Weltkrieges – mit seiner Freundin Emmy Hennings das ‚Cabaret Voltaire’ gründete. Sie sang Chanson, die Ball auf dem Klavier begleitete. Später stieß der exzentrische ungarische Dichter Tristan Tzara dazu, der mit außergewöhnlichen Gedichten, die er im großen Stil inszenierte, auftrat und dabei das Publikum verstörte. Noch im gleichen Jahr schlossen sich der Gruppe Richard Huelsenbeck, Hans Arp und Marcel Janco an. Das Domizil der Dada-Künstler der ersten Stunde, das Cabaret Voltaire, in der Spiegelgasse 1 musste schon nach kurzer Zeit aufgegeben werden. Mit Lautgedichten, wo teilweise mehrere Künstler gleichzeitig – begleitet von Zurufen des Publikums – vortrugen, erregte das Umfeld arg. Publikumsbeschimpfungen gehörten ebenso dazu, wie harsche Reaktionen desselben auf den Vortragenden. So wurde beispielsweise Werner Serner von der Bühne herunter auf die Straße gejagt und anschließend seine Requisiten zerstört. Neben Zürich waren New York, Hannover, Berlin, Köln und Paris weitere Standorte, wo der Dada blühte. In New York war der Fotograf Alfred Stieglitz, der mit seinem ‚Anti-Kunst‘-Ansatz die Fotografie von dem Vorurteil, sie bilde realistisch ab, befreien wollte, maßgeblicher Initiator. Ihm schlossen sich Duchamp und Picabia, die unter der Voraussicht des Ersten Weltkrieges von Europa nach Amerika geflohen waren, an. Der extreme Berlin-Dada war inspiriert durch das Dada-Manifest Huelsenbecks, in dem er hart mit dem Futurismus und Kubismus abzurechnen versuchte. Man eröffnete einen Dada-Club in Abgrenzung zu den Herrenclubs der politischen Elite, wo sich das Mitglied Johannes Baader, der sich selbst als „Oberdada“ titulierte, zum Präsidenten der Erde ausriefen ließ. In Berlin fand dann auch 1920 die Erste International Dada-Messe statt, wo ersichtlich wurde, wie ausdifferenziert die Bewegung mittlerweile war. In Hannover arbeitete der Künstler Kurt Schwitters, der mit seiner Anti-Kunst sich dem Dada verbunden fühlte, es aber ‚MERZ‘ nannte, nachdem er für eine Collage diese Silbe aus dem Wort ‚Commerzbank‘ herausgelöst hatte.
Was bleibt vom Dada? Hauptsächliches Anliegen, mit allen Konventionen zu brechen, ist ihm vermutlich gelungen. Viele aus ihm hervorgegangene neue Techniken gingen in die bildende Kunst ein und beeinflussten spätere Strömungen. Gescheitert ist das Projekt Dada dadurch, das es posthum kanonisiert wurde und damit ein Teil der Kunstgeschichte, mit der sie doch eigentlich brechen wollte – eine späte Ironie. Aber stellt nicht jede neu inszenisierte Epoche einen gewollten formalen Bruch mit Konventionen dar? Ist nur die Intensität des Bruchs ausschlaggebend für den Erfolg? Zumindest in seiner Radikalität bewegte der Dada die Gemüter und durchbrach viele Grenzen, um neue Räume zu eröffnen. In seiner Subversivität sollte er einigen ’satten‘ Künstler der Gegenwart als Vorbild dienen.
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