Angelika Janz (Bild: fixpoetry.com)Um Texte wie die von Angelika Janz – ich meine nicht die Lyrik, die ich sehr schätze, sondern ihre halb essayistische oder essayistische Prosa in Texten wie Barackenleben, Die Implodierten oder In Scheindemokratien – müssten sich die Verlage und Redaktionen reißen. Aber das tun sie nicht. Warum? Wahrscheinlich haben sie nicht genug Phantasie und Neugier. Während der Wende vor zwanzig Jahren sagte, ich glaube, es war der frühere Bundeskanzler Willy Brandt oder vielleicht Wolfgang Thierse, gleich wer, es passt auf beide, Thierse Ost und Brandt West: „Wir müssen uns gegenseitig unsere Geschichten erzählen.“ Ist das in zwanzig Jahren passiert? Ich fürchte nein oder kaum ausreichend. Bequemer, in Überheblichkeit oder Wehleidigkeit jeder auf seinem Horizont zu verharren.

Wer ist Angelika Janz? Geboren wurde sie 1952 in Düsseldorf am Rhein. Sie studierte u.a. in Essen Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Dort und später in Berlin stürzte sie sich in die Kunst- und Literaturszene. Sie machte sich bald einen Namen für ihre „experimentellen“ Arbeiten an der Grenze zwischen den Künsten. Schon 1981 bekam sie einen ersten Preis für experimentelle Lyrik der Stadt Düsseldorf. Sie schrieb und schreibt Gedichte und Prosa, arbeitet als Grafikerin, macht Ausstellungen von Grafik und visuellen Arbeiten zwischen Bild und Text, sie schrieb Hörspiele, machte Aktionen und Performances in Essen oder Berlin ebenso wie später in Vorpommern. Eines ihrer Markenzeichen bei Kennern der Szene in Deutschland und Österreich sind ihre Fragmenttexte, die sie in verschiedenen Büchern und Heften veröffentlichte und in Deutschland wie im Ausland – u.a. in Prag, London, New York – ausstellte. Sie gehörte zu den Gründern der Zeitschrift Schreibheft, die sich anfangs junger Literatur widmete, bevor sie zu einer maßgeblichen Publikation für Weltliteratur wurde.

Das Jahr 1994 brachte einen Einschnitt mit dem Umzug in das Dorf Aschersleben bei Ferdinandshof in Vorpommern. Was sie vielleicht nicht ausreichend vorhersehen konnte, war, dass sie so aus den Möglichkeiten des Kunstbetriebs und -markts herausfiel – Ausstellungsmöglichkeiten, Projekte, Preise, Publikationen, Galerien und Käufer; alles, was man für eine künstlerische Existenz braucht. Neue Kontakte eröffneten sich z. B. nach Greifswald, in der Kunstwissenschaft lernte ich sie vor etwa fünfzehn Jahren bei einem Vortrag persönlich kennen, der Verlag Wiecker Bote druckte einen Gedichtband. Wenig bekannt ist, dass sie an der Konzeption für die Errichtung des Literaturzentrums Vorpommern maßgeblich beteiligt war. Aber die Strukturen sind relativ schwach, die Möglichkeiten begrenzt. Vielleicht ja auch die Neugier.

Der Umzug in den Osten brachte aber eine wesentliche Neuerung für sie. Vielleicht ist es zunächst nur die Kehrseite ihrer materiellen Nöte. Man braucht Geld zum Leben, die Kunst ist für die meisten brotlos. So kam sie zum Barackenleben. Sie geriet in das System der Maßnahmen und Projekte auf dem sekundären Arbeitsmarkt. Im ländlichsten Teil Vorpommerns arbeitete sie mit Kindern und Jugendlichen an sozialen und im weitesten Sinne kulturellen Projekten. Sie macht Kunstprojekte und Ausstellungen mit Kindern, sie organisiert Fußballspiele für die (oft von Rechtsextremisten beeinflussten) Jugendlichen der Region. Jahr für Jahr ist sie mit der Ablehnung von Projekten und der Streichung oder Kürzung von Mitteln konfrontiert. Der Prophet gilt nichts im eigenen Land. Im Jahr 2008 erhielt sie in Leipzig den 4. Deutschen Lokalen Nachhaltigkeitspreis – Zeitzeiche(N). Dieser Preis soll beispielhaftes Engagement und innovative Ideen für eine lebenswerte Zukunft ins öffentliche Bewusstsein heben. Angelika Janz wurde für ihr Projekt KinderAkademie Uecker-Randow ausgezeichnet. In der Pressemitteilung heißt es: „Die Initiatorin der KinderAkademie organisiert und betreut schon seit 1995 eine erfolgreiche sozio-kulturelle und umwelt- und naturbezogene Arbeit mit Kindern ab dem Vorschulalter. In einer von hoher Arbeitslosigkeit und Abwanderung betroffenen Region gelingt es Angelika Janz seit Jahren, mit ihren Aktionen und Initiativen auch eine wichtige Wertevermittlung für die nachwachsende Generation zu sichern. In mehreren generationsübergreifenden Projekten führt sie mit hohen Synergieeffekten Alt und Jung in der Region zusammen.“
Angelika Janz verkörpert wie nicht gar so viele den Prozess des Zusammenwachsens von Ost und West durch ihre schiere Biografie und ihr tatkräftiges Wirken. Die soziale Arbeit ist trotz der aufgezwungenen Umstände für sie und ihrer künstlerischen Arbeit nichts Fremdes. Die Lyrikerin und avantgardistische Künstlerin Angelika Janz hat mehr Einsicht in soziale Bedingungen als die meisten Politiker, Journalisten oder Kritiker. Und man interpretiert wohl nichts fehl, wenn man unterstellt, dass ihre jahrzehntelange Arbeit an avancierten ästhetischen Fragen – sie schreibt an einem Werk über die Ästhetik des Fragments – ihr geholfen hat, ihre Beobachtungen zu schärfen. Ihre Essays weisen die atemberaubende Prägnanz des an der Philosophie und Ästhetik der Neuzeit geschulten Blicks auf. Zum Abschluss drei Auszüge aus ihrem Text Barackenleben“:

„Gleich rechts hinter dem Bahnübergang, unweit der ehemaligen Käserei, deren häßliche Verfallenheit sich als Inbild des Wendeelends seit Jahren am Rande des Dorfes, einstige DDR-Metropole für Fleischproduktion, bald kaum etwas mehr zu erzählen haben wird, unweit des hellblau gekachelten, seit einigen Jahrzehnten in seiner kargen, reclamelosen Einrichtung unverändert gebliebenen Fischladens, der nur für wenige Stunden in der Woche öffnet, gegenüber der alten Kornmühle, die seit der Wende allmählich vor der täglichen Zeugenschaft tausender vorüberfahrender Fahrzeuge und als Kulissenschutz vor dem prächtig dahinter verwilderneden Garten ein wenig würdevoller verfällt, hinter dem schwer zu schließenden, doch leicht zu überwindenden Eisentor gegenüber, da, wo die Pflasterung aufhört, wo sie, je nach Wetter und Einsatzstimmung den Schlamm oder Staub der Zugangs-und Zufahrtswege verschieben, kehren und harken, jene einander in den Nachwendejahren abwechselnden Brigaden der „Maßnahmen“, Menschen mit ausnahmslos müden Gesichtern, traumatisch langsamen Bewegungen, dort ist unsere Baracke, gegenüber der Klobaracke, die im Winter nur zu festen Zeiten und bei Frost gar nicht benutzbar ist, dort ist nach letzten tiefen Zügen die eilig vor Arbeitsantritt entzündete Zigarrette im übervollen Aschenbecher aus Blech auszudrücken, der an die Form einer um-und ausgestülpten ägyptischen Pyramide erinnert.“

„In den verbleibenden Räumen finden in wöchentlichen Abständen seit sieben in der Frühe Schulungen für die Kräfte aller Maßnahmen, zumeist ehemalige Arbeiter und Ungelernte aus der ehemaligen Tierproduktion statt, mager bestückte Klassenräume, in denen übermüdete, abgearbeitete, enttäuschte, gelangweilte Frauen und Männer für die Dauer eines Arbeitstages eingeschlossen sind, um von Arbeitsamt pflichtverfügt Landschaftsvermessung, Gütervermarktung, Demokratie-und Rentenkunde, Arbeitsrecht und Versicherungspraxis zu lernen, viel Mathematik ist dabei, – und alle 2 Stunden stehen 20 Leute fröstelnd und stumm im engen Eingangsbereich, die meisten rauchen, niemand ißt, niemand sitzt, weil es nichts zu sitzen gibt, niemand weiß, wohin sonst. Auf den ersten Blick bilden sie eine erschöpfte Front noch immer lauernden Mißtrauens, wenn du dir einen Weg durch ihr haltloses Zusammengehören bahnst, doch auf dein erstes Lächeln und eine ihnen zugewandte, banale Bemerkung reagieren sie als überaus freundliche, oft auch scheue, manchmal gar zu einem kleinen Witz aufgelegte Menschen, die an eigene Rechte keinen Gedanken mehr verschwenden, dort bleibend, wo man sie hingestellt hat, mit dem noch kleinen, unauslöschbaren Drang zu stillem, absichtsvoll unhörbarem Aufbegehren, das sich in kurz ausgestoßenen, einander bestätigenden Bemerkungen äußert. Viele veratmen Alkoholdunst, und oft erinnern sie mich an die stumme Karawane vor dem zollfreien Verkauf der nahegelegenen Fähre nach Polen: da verläßt niemand auf der kurzen Hin-und Rückfahrt das Schiff, allenfalls, um am Kai eine erworbene Flasche halb zu leeren, um das Anrecht auf den Kauf einer neuen zu erwerben.“

„Bararackenleben, das ist die Institutionalisierung der Vorläufigkeit, arbeitstagefüllendes Ausweichen auf die unwandelbare Erkenntnis, ausgeliefert zu sein jeder Zumutung, die ein größeres Ziel aus vielen kleinen Schritten zusammendenkt. Wie war es damals, das Barackenleben vor 10, 15 Jahren? Eines ist sicher: es war immer gut beheizt.
Und wann hat die Entwertung der selbstbestimmten Arbeit oder wenigstens doch jener Arbeit, die sich mit einem sichtbaren Ertrag kenntlich gezeigt hat,, begonnen? In den Pausenzeiten und vor Feierabend treffen die Brigaden ein, die draußen an den Dorfrändern Wege anlegen für die Dauer eines ABM-Jahres, Wege, die tatsächlich nirgendwo hinführen, die unvermittelt in Unkraut und Gestrüpp abbrechen und die nach wenigen Monaten hoffnungslos zugewachsen sind, weil niemand sie erhält, unterhält, unbegehbare, sinnlose Wege in schwerer körperlicher Arbeit angelegt, sie graben Steine aus, schaffen sie weg, reißen das filzige Gras aus, durchsuchen, durchsieben das Erdreich nach Unkrautwurzeln, besäumen die Ränder mit schweren Baumstämmen, harken den gesäuberten, nun sandigen Boden bis zum Ende ihrer befristeten Arbeitstage-und Wochen, daß man darüber schweben möchte, und mit den klapprigen Schubkarren schaffen sie alles Unnötige fort, Unkraut, Astwerk, irgendwo nah am Wald entsteht so ein Refugium für Insekten und Kleintiere, bis…bis eines Tages der große Bagger kommt, in sinnloser Tat das einzig mit Chance Gewachsene lieblos wegschaufelt, abtransportiert, irgendwohin, wo es eines Tages wieder weggeschafft wird.“

(Michael Gratz für Plattform – Die Literatursendung auf Radio 98eins)