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Jakob Hein: Herr Jensen steigt aus

Robert Klopitzke für Plattform – Die Literatursendung auf Radio 98eins

Verlag: Piper; Auflage: 5 (Dezember 2007)
ISBN-10: 3492250769
ISBN-13: 978-3492250764

Bei jeder Aussteigerthematik stehen sich zwei Spannungskräfte gegenüber: die Gemeinschaft und das Individuum. Sie treten in eine Wechselbeziehung, die nicht unproblematisch ist, da sie massenweise Schnittmengen haben, denn das eine ist ohne das jeweils andere nicht denkbar. Die Gemeinschaft kann nur funktionieren (und an dem Gelingen der Funktion wird sie gemessen), wenn die einzelnen Individuen miteinander Kontakte herstellen und das Individuum kann nur dann ein Unteilbares sein bzw. bleiben, wenn es sich durch gewisse Kriterien von der Gemeinschaft, aus der es stammt und von der es zu einem nicht geringen Teil lebt, abgrenzt. Dies sind die beiden Pole zwischen denen sich das Spannungsfeld aufspannt, in welchem sich der Aussteiger und somit auch die literarische Beschäftigung mit demselben bewegt.

Nach dem weltweiten Erfolg von Jon Krakauers „In die Wildnis“ („Into the wild“) erfreut sich die Aussteigerliteratur einer Hochkonjunktur, obschon die Figur des Aussteigers literarisch schon länger tradiert wird und beinahe ein Topos ist; dennoch geht das Spektrum der einzelnen Motive und die sich daran anknüpfenden Szenarien ins Unermessliche. Gemein ist ihnen aber eine veränderte Einstellung zu der Welt, die wir unverabredet als die Welt der Gemeinschaft kennen. Camus hat es so ausgedrückt: „Manchmal stürzen die Kulissen ein. Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist meist ein bequemer Weg. Eines Tages aber erhebt sich das ‚Warum’ und mit diesem Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an.“

Dieses ‚Warum’ fällt auch Herrn Jensen an, dem Protagonisten in Jakob Heins: „Herr Jensen steigt aus“. Vorher legt Herr Jensen einen Weg zurück, der von Passivität durchzogen ist; das ‚Warum’ ist schließlich die unausweichliche Konsequenz seiner passiven Lebenshaltung. Ebenso ist auch die Geschichte angelegt. Wir erfahren weder den Vornamen von Herrn Jensen, noch wird eine äußere Personenbeschreibung von ihm gegeben. Lediglich sein Lebensweg gibt Anhaltspunkte und lässt Rückschlüsse – wenn auch nur vage – zu. Während des Studiums wurde ihm von seinem Freund Mathias ein Ferienjob als Postbote vermittelt, den er zu Beginn des Buches immer noch ausübt. Nach der Exmatrikulation, die seinem Unvermögen, sich rechtzeitig für das kommende Semester anzumelden, geschuldet ist, wird der einstmalige Nebenjob seine Haupteinnahmequelle – die Zwischenlösung zur Regel. Zehn Jahre lang verharrt Herr Jensen ohne weitere Ambitionen in diesem Job, bis er eines Tages aufgrund von Stellenkürzungen und der Tatsache, dass er den von ihn ausgeübten Beruf nie erlernt hat, entlassen. Gezwungenermaßen muss er sich nun mit seiner neuen gesellschaftlichen Rolle und dem sozialen Stigma, welches er aber nicht als solches empfindet, des Arbeitslosen auseinandersetzten. Ausgeschieden aus der niemals hinterfragten Kette des Arbeitsprozesses steht er nun am ‚Rand der Gesellschaft’ eben jener Kette gegenüber als passiver Beobachter.

Es schließen sich kleine zynisch-humoristische Anekdoten über die vermeintliche Alltagswelt des Arbeitslosen an. Von der Freude an der Krankheit als willkommene Abwechslung und Beschäftigungsmöglichkeit, über den Fernseher als neu entdeckte Bezugsgröße, bis hin zu Gesprächen auf dem Arbeitsamt und sinnlose Weiterbildungsmaßnahmen; alles in allem aber schon hinlänglich bekannte und oft geschilderte Phänomene aus der Arbeitslosenwelt. Interessant wird es wieder, als Herr Jensen den Entschluss fasst, sich intensiv mit dem Fernseherprogramm als gesellschaftliches Ereignis zu beschäftigen. Am Ende dieser exzessiven Beschäftigung kommt er zu der Einsicht und einer vorläufigen Antwort auf die Frage des ‚Warums’: „Herr Jensen musste feststellen, dass er nicht normal war. Er seufzte erschöpft. Herr Jensen konnte sich nicht erinnern, jemals etwas falsch gemacht zu haben. Stets hatte er getan, was ihm gesagt worden war und niemals war er rebellisch gewesen. Trotzdem musste er nun erstaunt erkennen, dass er am Rand der Gesellschaft stand.“ Der Rest des Buches beschäftigt sich mit dem Umgang dieser Erkenntnis. Herr Jensen demontiert seinen Briefkasten und ist bemüht sich in seiner Autarkie einzurichten, was ihm teilweise gelingt, bis er sich in ein Extrem hineinbewegt…

Auf der formalen Seite ist wenig zu kritisieren, aber auch nicht viel hervorzuheben. Hein bleibt – wie schon angedeutet – im personalen Erzählverhalten seiner Linie treu und verrät auf den ca. 130 Seiten nicht einmal den Vornamen von Herrn Jensen. Es wird auch auf eine groß angelegte Bildsprache verzichtet, was aber im Angesicht der Nüchternheit des Arbeitslosenalltags nicht unangemessen ist. Wer aber auf ein tiefes Psychogramm eines Aussteigers hofft, wird ziemlich schnell enttäuscht werden, da vielmehr ein Prozess anhand von einzelnen und gelungen überspitzt dargestellten Ereignissen geschildert werden.

Die kurzen Kapitel mit ihren jeweilig anzeigenden Charakter in der Namensgebung derselben sind so angelegt, dass Herr Jensen eher wie ein Spielball seiner äußeren Umwelt wirkt, als aktiver Part dieser. Somit sind die weiteren Entwicklungen – wenn auch nicht in jede einzelne Facette, jedoch in ihrer Gesamtausprägung – absehbar, denn der vorweg festgelegte Habitus des Protagonisten, der Titel und die einzelnen Kapitelnamen lassen zwar anfangs noch Spielraum für Spekulationen zu, verengt sich aber zunehmend mit dem Verlauf der Handlung. In diesem Kontext ist es auch schwierig ein Werturteil bezüglich der Konstitution von Herrn Jensen abzugeben, weil schon im Vorfeld seine Disposition zur Gemeinschaft festgelegt wird und sich diesbezüglich auch wenig ändert (abgesehen von der Selbstreflexion und dem Bewusstwerden dieser Disposition); nur die äußeren Umstände verschieben sich und drängen ihn in eine Position, die er konsequent – d.h. bis zu der vollständigen Negierung seiner öffentlichen Person und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – bis an ihren äußeren Rand verwirklicht; gipfelnd im letzten Satz des Buches: „Dann stand er auf, suchte einen Schraubenzieher aus der Werkzeugkiste im Flur und entfernte das Namensschild von seiner Tür.“

Bei dieser Anlage des Buches, die unzertrennlich mit der Geisteshaltung des Protagonisten verwoben ist, kann man kein ernsthaftes subversives Statement, welches sich unter dem Motto ‚Anleitung zum Ausstieg’ oder ähnliches subsumieren lassen würde, erwarten. Es birgt also nicht literarischen Sprengstoff, wie er z.B. in Georg Kreislers Lied „Wenn alle das täten“ verankert ist, wenn dieser beginnt: „Bleiben sie doch mal Ihrer Arbeit fern / gehen Sie stattdessen spazieren…“ und zum Schluss hin radikal fordert: „Steigen Sie aus und die Sorgen verschwinden / wer stets zur Hand ist, den kann keiner finden / Ehrbaren Leuten ist schwer zu verzeihen / und der Verlässliche werkelt allein.“ Diese Forderung würde Jakob Heins Herr Jensen niemals erheben, weil er sich nicht bewusst für seinen Ausstieg entschieden hat, sondern diesen im Nachgang rechtfertigt und verfeinert.

Ebenso verhält es sich mit der geistigen Ausgestaltung des neu eroberten Freiheitsraumes, den er seiner Autarkie zu verdanken hat. Außer einer speziellen Form des Protests, eines demonstrativen Desinteresses an gesellschaftlich-globale Zusammenhänge und der stetigen Selbstvermeidung, wird der freie Raum nicht ausreichend zur Konstruktion einer eigen zweck-mittel-unabhängigen Wirklichkeit genutzt und ein viel weiteres mögliches literarisches Feld – metaphorisches gesprochen – nicht bearbeitet. Dostojevskis nächtlicher Spaziergänger aus „Weiße Nächte“ hingegen hat sich in einer weniger dramatisch-demonstrativen Vorgehensweise von der ‚Alltags-Kette’ gelöst, geht in der geistigen Verfeinerung seines Aussteiger-Daseins hingegen viel weiter bzw. tiefer, wenn er sich selbst als Träumer klassifiziert und darüber wie folgt in der dritten Person über seine Träumer-Persönlichkeit sinniert: „Was soll ihm noch unser wirkliches Leben!…da er selber der Künstler seines Lebens ist und es zu jeder Stunde nach neuer Laune sich erschaffen kann. Wie Leicht und wie selbstverständlich wird diese märchenhafte, phantastische Welt erschaffen! […] Man könnte in mancher Minute fast glauben, dass dieses Leben nicht etwa nur eine Erregung der Gefühle sei, kein Gaukelspiel, kein Trug der Einbildung, sondern dass es geradezu das wirkliche, wahrhaftige und rechte Leben ist.“