Am 03.02.2012 hatte sich anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald an Raimund Fellinger, dem Cheflektor des Suhrkamp Verlages, einige Prominenz im Koeppenhaus versammelt, um den Namensgeber desselben, den Ehrendoktor und Wolfgang Koeppen zu feiern. Es war ein denkwürdiger Abend. Ernüchternd war der nächste Tag… Beobachtungen von Erik Münnich.

Im Koeppen hatte sich ein für Greifswalder Verhältnisse prominent besetztes Publikum versammelt: zahlreiche und weitgereiste Autoren, Lektoren, Angehörige der Universität, Kulturschaffende oder -ermöglichende aus Stadt und Land und der ein oder andere Verleger  – nur zwei der bereitgestellten Stühle blieben unbesetzt.  Diejenigen, die auf dem Podium Platz nahmen, standen diesem in keiner Weise nach. Neben den Schriftstellern Thomas Meinecke, Albert Ostermaier und Ralf Rothmann war das der Cheflektor des Suhrkamp Verlages, Raimund Fellinger. Erst Genannter wird gern mit dem Begriff der Popliteratur in Verbindung gebracht, war von 1978 bis 1986 Mitherausgeber und Redakteur der legendären und avantgardistischen Zeitschrift Mode und Verzweiflung; in den  80er Jahren schrieb er außerdem in unregelmäßigen Abständen Kolumnen für Die Zeit. Seinen ersten Band mit Kurzgeschichten veröffentlichte er unter dem Titel Mit der Kirche ums Dorf bei Suhrkamp, weitere Veröffentlichungen folgten erst ab Mitte der 90er Jahre in regelmäßigeren Abständen – er habe, so Meinecke, bis dahin einfach noch nicht gewusst, dass er Schriftsteller sei – mit seinem Roman Tomboy fand er auch in akademischen Kreisen Gehör. Albert Ostermaier veröffentlichte zuerst Gedichtbände – sein lyrisches Schaffen brachte ihm nicht nur einiges Ansehen, sondern auch das Münchner Literaturstipendium sowie die Auszeichnung des P.E.N. Liechtenstein für eben jenes ein – bevor er in den 90er Jahren den Weg zum Theater fand. Als Hausautor an namhaften Theatern (Bayrisches Staatsschauspiel, Wiener Burgtheater) arbeitete er mit namhaften Regisseuren zusammen. Außerdem konnte er auch als künstlerischer Leiter verschiedener Festivals (u.a. Lyrik am Lech, abc* AugsburgBrechtConnected) überzeugen. Ralf Rothmann wuchs im Ruhrgebiet auf, machte nach der Volksschule eine Maurerlehre und arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen, bevor er mit seiner Erzählung Messers Schneide auf dem Literaturmarkt Fuß fassen konnte. Die folgenden Arbeiten – Romane wie Erzählungen, außerdem Gedichte – brachten ihm renommierte Auszeichnungen (u.a. Heinrich-Böll-Preis, Max-Frisch-Preis, Hans-Fallada-Preis) und das Urteil der Neuen Zürcher Zeitung, zu „einem Großmeister seiner Zunft herangewachsen“ zu sein, ein. Diese drei hatten sich anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der hiesigen Universität an Raimund Fellinger – und durch seine tatkräftige Unterstützung – auf dem Podium zusammengefunden.

Der Ehrendoktor stellte eingangs fest, dass der Titel der Veranstaltung – Vier Autoren und ein Lektor – irreführend sei, schließlich haben nur drei der angekündigten Autoren neben ihm Platz genommen. Der fehlende Vierte aber sei, dem Veranstaltungsort und einem Teil seiner Arbeit entsprechend, Wolfgang Koeppen, von dem ein Auszuge aus einem Roman sowie einigen Briefen gelesen werde sollen. Die Überleitung Fellingers zu dem in Greifswald geborenen Autor und dessen zweiten Roman war pointiert, verzichtete auf die oftmals üblichen zähen Einordnungen und beschränkte sich somit auf das Wesentliche. Die Mauer schwankt erschien 1935 bei dem jüdischen Verleger Bruno Cassirer, der sich trotz der zunehmenden Schwierigkeiten noch nicht vom Bücher-machen abbringen ließ.  „Der Roman zeigt die fortschreitende Auflösung und den Zusammenbruch einer überkommenen, den Pflicht-Begriff absolut setzenden Ordnungswelt – gemeint ist das Deutsche Kaiserreich zwischen 1913 und 1918 – am Beispiel des von Zweifeln geplagten, konservativen Baumeisters Johannes von Süde“ (Killy Autoren- und Werklexikon, Bd. 6, S. 439). Jener ist Teil einer Beamtenfamilie, die sich über Jahrhunderte in den Dienst für den Staat, verschiedene Ministerien und Administrationen gestellt hat und so – bildlich gesprochen – zu einem Aktenbestand beigetragen hat, der nicht mal ansatzweise in der größten, uns bekannten Bibliothek Platz finden würde. Und eben jener Johannes von Süde – übrigens Koeppens Onkel – konfrontiert seinen Vater damit, Künstler werden zu wollen. Dieser ist überhaupt nicht einverstanden und überzeugt den Sohn davon, die in der Tradition der Familie begründete Pflicht und sein damit nur schwer zu vereinendes  Interesse an der Kunst zu verbinden und Baumeister zu werden.  „Zwanghaft versucht er, seine Erfüllung in der gewissenhaften Ausführung seiner Arbeit zu finden, in Selbstbeschränkung und Disziplin, in Unnachgiebigkeit sich selbst, seinen Untergebenen, den Bittstellern und seiner Familie gegenüber“ (http://www.belletristik-couch.de/wolfgang-koeppen-die-mauer-schwankt.html). Mit der Zerstörung von Kolberg durch die Rote Armee erhält er die Chance, eine Stadt neu aufzubauen. Er scheitert allerdings an sich und den Umständen.

Anschließend las Thomas Meinecke die ersten zehn Seiten aus diesem Werk. Sein unaufgeregter  Vortrag gab diesen angemessenen Raum, um ihre Wirkung zu entfalten. Ich hatte mich bis zu diesem Abend nur oberflächlich mit Wolfgang Koeppen beschäftigt. Einige Male hatte ich in seine Romane „Jugend“ und „Tauben im Gras“ hineingelesen und konnte diesen nur bedingt etwas abgewinnen. Die wunderschöne, feinsinnige Sprache Koeppens ist mir bisher schlicht entgangen. Das wirklich Beeindruckende aber war die Konzeption des Romans – treffender: der ersten zehn Seiten –, die dem entspricht, was ich an Erzählliteratur u.a. schätze: verschiedene Erzählebenen, keine gradlinige Handlung, also ein Erzählen, das scheinbar keiner Kausalität folgt, sondern zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her springt, beides immer wieder verknüpft, in Beziehung setzt und damit immer wieder neue (erwartete wie unerwartete) Anknüpfungsmöglichkeiten für mich als Leser bietet; ein Erzählen, das nicht alles ausspricht, aufdeckt, darstellt usw., Spielräume lässt und doch konkret ist oder wird, aber irgendwie auch nicht. Unterm Strich: ein lesenswertes Buch, dessen Lektüre ich unbedingt nachholen muss.

Diesem Vortrag schloss sich ein Gespräch zwischen Meinecke und Fellinger an – übrigens: Letzterer ist nicht Lektor des Ersteren, da hat die Ostseezeitung nicht richtig hingehört – das auf angenehme und sehr amüsante Weise von Koeppen wegführte, sich den literarischen Anfängen Meineckes, seinem Beginn beim Suhrkamp Verlag – „und dann führte mich Unseld in den Keller und von da an war ich Suhrkamp-Autor.“ – und einigen Seitenhieben gegen etablierte Angehörige des Literaturmarktes – „der Raddatz“ – widmete. Selten habe ich während einer Lesung so gelacht (ich war nicht der Einzige), obwohl das in der Sache gar nicht angelegt war. Vielmehr lag das daran, dass sich beide die Bälle immer wieder elegant zugespielt haben, ohne einen (peinlichen) Fehlpass zu produzieren: Fellingers zugespitzte Fragen, die eine Antwort Meineckes aufnahm, präzisierte und viele interessante Hintergründe ans Licht förderte, weil Meinecke locker und ohne sich selbst über die Maßen zu inszenieren, antwortete, eine um die andere Anekdote zum Besten gab und somit auch selbst immer weitere Zuspitzungen lieferte.
Als Albert Ostermaier dann verschiedene Briefe Koeppens an seine Tante Olga vorlas – eine Weltpremiere übrigens – bestätigte sich mein Eindruck, den ich im ersten Teil der Lesung hatte. Die zum Einen pointierten Beschreibungen persönlicher Um- oder Zustände, die zum Anderen oftmals unerwarteten Erläuterungen bestimmter Beobachtungen zeichnen ein zu meiner Wahrnehmung Koeppens gegensätzliches Bild: ein vermeintlicher Lebemann, der die eine oder andere Nacht in Bars verbringt, die Frauen liebt und sucht – ein nicht unbeträchtlicher Teil der rezitierten Briefe befasst sich mit dem weiblichen Geschlecht: ob das eine Rangliste von Bekannten ist, deren Vor- und Nachteile aufgezählt und begründet werden; oder ob es das niederschmetternde Urteil über eine Schönheitskönigin ist, die mit einem sehr reichen Mann zusammen ist, welches die damit verbundene Oberfläche präzise auf den Punkt zu bringen im Stande ist – das Erstaunliche daran: völlig zeitlos – und, auch wenn das für Literatur völlig irrelevant ist, ganz alltägliche Probleme hat.
Anders als nach dem ersten Teil schloss sich nun kein Gespräch zwischen Fellinger und dem Autor an, sondern Ostermaier las eine Ode, die er dem Cheflektor gewidmet hat. In anderen Kontexten mag das ziemlich kitschig anmuten. In diesem Moment aber hat sie – und der Vortrag derselben – gepasst und gerührt. Sie übertrug  – aus Sicht des Verfassers, auch wenn das eine unnötige Gleichsetzung zwischen Autor und Text darstellt – die wichtige und notwendige Arbeit eines Lektoren (darauf wies schon Thomas Meinecke hin: „ohne Lektor kein Text“) in doppeldeutige Bilder, welche zu beschreiben völlig unsinnig ist. Sollte die Ode an dieser Stelle nun nicht abgedruckt erscheinen, war meiner Anfrage an den Verlag des Autors kein Erfolg beschieden.

Den weiteren Fortgang der Veranstaltung konnte ich leider nicht verfolgen – und auch ich ärgere mich über die Leerstelle, die nun entsteht, zumal sie von der lokalen Presse nicht hinreichend gefüllt werden konnte – weil eine SMS mich darüber informierte, dass mein Sohn den Babysitter überforderte. Als ich das Koeppen verließ und Richtung Innenstadt lief, musste ich erstaunt feststellen, dass die Uhr bereits 22 Uhr anzeigte. Normalerweise bin ich von fast zwei Stunden dauernden Lesungen überfordert oder missmutig. Diesmal hatte ich vor Begeisterung die Zeit völlig vergessen.

Diesem grandiosen Abend folgte eine schmerzliche Ernüchterung: Hatte sich die vermeintliche Provinz am Abend noch von ihrer besten Seite gezeigt, so zeigte sie einen Tag darauf ihr „hässliches“ Gesicht. In der Aula des Hauptgebäudes der Universität Greifswald wurde Raimund Fellinger die Ehrendoktorwürde verliehen. Die Laudatio hielt der Lehrstuhlinhaber für Neuere Deutsche Literatur und Literaturtheorie, Prof. Dr. Eckhard Schumacher, eine Festrede hielt der Philosoph Peter Sloterdijk und Christoph Hein las aus seinem noch unveröffentlichtem Manuskript Prometheus. Im Publikum saß u.a. Volker Braun. Das war nicht schlimm, sondern der Sache völlig angemessen. Schlimm war, dass sich weder der Rektor der hiesigen Universität noch der Bürgermeister der Stadt Greifswald darauf einließen, einem solchen Anlass beizuwohnen. Es gab keine Blumen für den Ehrendoktor – nur einen äußerst deplatziert wirkenden Blumenkübel, der wohl immer dort wie bestellt und nicht abgeholt steht – und den Sekt musste jener auch noch selbst bezahlen. Zu hoffen bleibt, dass Veranstaltungen dieser Art keine Ausnahme bleiben – ich weiß, Lesungen gibt es wie Sand am Meer in Greifswald, selten aber eine, die so in den Bann ziehen kann – und der Sonnabend schon wieder vergessen ist.{module Erik Münnich}