SORGENICHs MITTWOCHs-REVUE 14
meine ex-frau brachte hastig unser kind zu den großeltern, und ich schaute der kleinen tochter in ihrem grünen mäntelchen hinterher, wie sie sich mit schnellen, trippelnden schritten dem eiligen gang ihrer mutter anpaßte. am sperrgürtel, fünf kilomter vor der staatsgrenze der ddr, kniff mir meine geschiedene frau ohne umarmung im abschied noch mal zwischen die beine, drehte sich um und fuhr im von ihrem vater für diese tour geliehenen „skoda“ davon.
nie war ich allein. ein großer pappkoffer mit ein paar slips und anderen textilien und eine plastikschreibmaschine namens ‚erika‘ standen neben mir. nicht lange. ein alter bus hielt vor mir an, die tür wurde von innen aufgestoßen, und ein unfreundlicher mensch fragte: „sind sie landt? jürgen landt?“ ich nickte.
„einsteigen!“ sagte der mann. ich schnappte mir die ‚erika‘ und den pappkoffer und stieg ein.
der bus fuhr mit uns an. eine für den öffentlichen verkehr stillgelegte allee schlich an uns vorbei. kahle, in der dunkelheit zusätzlich düster erscheinende bäume blickten im fahren zu uns rein. schwarze äste, pechschwarze kronen.
in der ferne tat sich grelles licht auf. ein riesiger platz wurde irgendwann sichtbar. mir war, als könnte es ein flugplatzgelände sein. doch mich erwarteten nur sechs oder acht uniformierte mit pelzmützen auf dem kopf. ‚bärenfotzen‘ hatten wir diese kappen immer genannt. doch jetzt stimmten mich diese mützen nicht lustig.
die uniformierten öffneten von außen die tür. „landt?“
ich nickte und sagte: „johh!“
„austeigen!“ rief einer der bekappten. „endstation!“ hörte ich noch einen anderen.
ich stieg aus.
„identitätsbescheinigung der deutschen demokratischen republik!“ sagte ein nächster.
ich griff in meine brusttasche und reichte dem kerl den wisch.
er klappte das ding auseinander, hielt es gegen eines der strahlenden flutlichter und meinte: „landt, keine staatsangehörigkeit mehr, kinder wurden ihm aberkannt, oder er hat keine, verwaltungsgebühr ist bezahlt, körpergröße ist groß, soll blaugraue augen haben und keine besonderen kennzeichen, wohnanschrift demmin! mitkommen!“
ich schnappte mir erneut den koffer und die schreibmaschine, ging mit, und der troß der uniformierten kreiste mich ein und ging denselben weg.
in einem gebäude angekommen, stellten sie sich um mich. „ausziehen!“ hörte ich. „und zwar alles!“ fügte jemand hinzu.
ein anderer warf eine decke vor meine füße, und dann zog ich mich aus. „koffer auspacken! inhalt ablegen!“ ich packte meinen koffer aus. „auf die decke stellen! kniebeuge machen!“ ich stellte mich auf die decke, streckte die arme nach vorne und machte diese nackten kniebeugen, dachte: ‚wenn mir jetzt noch eine flasche apfelsaft aus dem arsch rutscht, bin ich mode.‘ doch mir rutschte nichts mehr raus.
die uniformierten durchsuchten meine sachen, fanden fünf fünfzigmarkscheine mit friedrich engels konterfei und legten das geld beiseite. alle klamotten und schuhe schoben sie durch eine röntgenanlage und bestrahlten das zeug. „unterhosen aufspannen!“ ich mußte mich vor einen kerl stellen, meine slips auf die ersten drei finger jeder hand spannen, und der typ mit seiner pelzmütze fühlte im gesichtsabstand unserer köpfe von zirka dreißig zentimetern die säume meiner unterhosen ab. wir schauten uns in die augen. ich konnte nichts weiter entdecken als meine alten slips in seinen pupillen, blickte auf das blechige emblem der ddr auf seiner pelzmütze und dachte an nichts anderes als an eine in letzter minute aufgedrängelte, langjährige haftstrafe für nichts weiter als das pech, daß man seine eingeweide auf dem falschen planeten eingebettet bekommen hatte.
„anziehen! einpacken!“
ich zog mich an und packte meinen kleiderkram zurück in den koffer, klappte der ‚erika‘ den deckel ihrer dazugehörigen reiseumhüllung auf die tasten und stand einfach nur da.
„landt, es ist jetzt dreiundzwanzig uhr dreißig! sie haben bis null uhr die deutsche demokratische republik zu verlassen! zu fuß dürfen wir sie nicht rüberlassen! sehen sie zu, wie sie hier wegkommen!“
‚doch noch zuchthaus, doch noch jahre im laufschritt! wegen republikflucht?‘ zuckte es durch meinen ganzen körper.
da stand ich im grellen scheinwerferlicht eines geländes, das kein flughafengelände war, angeleimt auf einem riesigen grenzposten, wohnhaft in demmin und staatenlos, mit einer zurückgelassenen tochter, blaugrauen augen und dem gefühl, so groß zu sein wie ein kleines, nach einem spiel absichtlich vergessenes plüschtier.
minuten später fuhr ein mercedes an einem kontrollpunkt vor, ich rannte hin, sah zwei frauen in dicken pelzmänteln, erklärte ihnen meine lage, und sie meinten: „klar nehmen wir dich mit, greif den koffer und steig ein.“
mein koffer und ‚erika‘ landeten im kofferraum, ich auf der breiten rückbank.
der mercedes rollte an, die uniformierten schauten mir nach, ein stückchen weiter saß ein anderer uniformierter in einem häuschen, und die frauen sagten nur: „wir haben einen flüchtling aus dem osten drin!“ der neue uniformierte nickte nur und winkte den wagen durch. „da kannst‘ ja jetzt untertauchen!“ lachte eine der frauen.
„wo denn?“ fragte ich.
„bei der raf!“ lachte die andere.
die räder des wagens surrten auf der nächtlichen autobahn.
wir sagten lange gar nichts. irgendwann fragte ich: „wo fahren sie denn hin?“
„nach hamburg“, antwortete die beifahrerin.
„gut, da steig‘ ich denn auch aus“, sagte ich.
„wo denn da?“ fragte die fahrerin.
„auf der reeperbahn“, sagte ich knapp.
„auf der reeperbahn nachts um halb eins, was? schaffen wir aber nicht mehr ganz bis um halb eins!“ sie lachten beide.
rechts und links der reeperbahn flackerten so viele bunte lichter, daß ich fast den koffer und die ‚erika‘ beim aussteigen vergaß.
„den koffer noch!“ sagte eine der frauen, fummelte in ihrer manteltasche, zog einen zwanzigmarkschein raus, sagte: „viel glück!“ und gab ihn mir.
ich wechselte zig mal die fahrbahn, bekam brennenden durst, verlor den griff des koffers, marschierte durch einen unverschlossenen türeingang auf einen hinterhof, klaute mir eine abgehängte wäscheleine und schlang sie verknotend notdürftig um meinen koffer. jetzt konnte ich wieder die grünen ampeln passieren, mit vollgehangenen armen vor den lokalen stehen.
mein gaumen pappte mittlerweile zusammen, und ein kerl sprach mich an: „kommen sie rein, junger mann! live-show! super frauen! eintritt frei! bier nur zehn mark! komm rein! live-fick-show!“
ich ging rein. spärliches licht umhüllte mich, es roch muffig, und eine mittfünfzigerin mit vernarbtem bauch schlenkerte ihre riesigen bis auf die narben hängenden titten. ein paar ältere typen saßen einfach nur so rum.
ich bewegte mich auf die vordere sitzreihe zu, stellte den koffer und ‚erika‘ links und rechts neben mir ab, setzte mich, schluckte meinen brennenden speichel und schaute auf die wulstigen bauchnarben der plump tanzenden frau.
„na süßer, was soll’s sein?“
dick geschminkte augenlieder schauten müde auf mich runter. ich umklammerte den zwanziger in meiner hosentasche mit schwitzigen fingern. ‚wenn ein bier einen zehner kostet, dann muß ich cola trinken!‘ schoß es mir durch den kopf.
„eine cola, bitte“, sagte ich zu ihr.
„sofort, der herr“, antwortete sie, war gleich zurück und stellte mir die cola hin.
„gleich zahlen, bitte“, sagte ich.
„achtzehn mark“, sagte die frau.
ich befühlte noch einmal den zwanziger, reichte ihn ihr und sagte: „stimmt so!“, stürzte die cola runter, schnappte mir die beiden abgestellten teile und ging vor die tür.
„was‘ los? sind doch geile bräute hier!“ meinte der kerl vor dem laden, „bist auf reisen, was?“ rief er mir hinterher.
ich wartete auf grün, wechselte die straßenseite und schleppte mich zur beleuchteten, weithin erkennbaren polizeiwache.
es dauerte eine weile, bis ich dran war.
„was gibt’s denn?“ fragte mich ein uniformierter.
„guten tag, ich komme gerade aus der ddr. ich habe überhaupt kein geld. ich weiß gar nicht, was ich machen soll?“
„na, sie werden doch wohl jemanden kennen, der ’nen zippel leberwurst hat!“ sagte der beamte der polizei.
irgendwer lallte dazwischen: „…mich echt abgelinkt, hat gesagt fünfzig für blasen, und dann hat sie mein geld genommen und ist…“
ich sackte meinen pappkoffer an, spürte die ins fleisch schnürende wäscheleine, griff mir ‚erika‘, sah wieder die blinkenden lichter, rannte ein paar mal die straßenseite hoch und runter und hörte immer wieder: „fick-shows vom feinsten! treten sie ein! eintritt frei! bier nur zehn mark…“, spürte meinen schweiß antrocknen und wußte, daß es im winter spät hell werden würde.