ich hörte schon das signal. wollte nach links vom NORMA-parkplatz auf die straße fahren, sah weiter rechts die blaublinkende feuerwehr in meine richtung über die kreuzug jagen und dachte: vor dem teil mußt du noch schnell die 150 meter bis zur einbahnstraße vor deinem wohnblock kommen. „du schaffst das!“ feuerte meine neben mir sitzende frau mich an.

und ich schaffte es. doch vor dem wohnblock, direkt vor unserer haustür, stand bereits eine fahrzeugkolonne aus rettungswagen, notarztauto, polizei und schon einem feuerwehrauto. „scheiße, direkt vor unserer haustür. wie soll ich denn da jetzt einparken?“ fragte ich meine frau. 

„du schaffst das schon.“ antwortete sie mir. 

tatsächlich, trotz der fahrzeuge manövrierte ich mich ein paar mal vor, zurück, vor, zurück auf unseren bezahlten stellplatz. „da haben die leute hier wieder schön was zu gucken.“ sagte ich zu meiner frau. 

und im wohnblock gegenüber lehnten sie auch schon aus den fenstern, einige hatten kissen auf die fensterbretter gelegt, um es sich bequem zu machen, einige standen auf ihren balkonen, manche stützten sich auf der brüstung ab, andere standen wie wache haltend mit verschränkten armen vor der brust. 

„das bier lassen wir jetzt mal im auto und das wasser auch.“

„ich glaub, die gehen im aufgang nebenan rein, nee, jetzt kommen sie wieder zurück, gehen in unseren aufgang. oh, da stehen aber schon viele.“ hörte ich meine frau.

ich schnappte mir kraftlos die einkaufstüten, und wir schlängelten uns an einem mit der polizei gestikulierenden, als notarzt gekennzeichneten mann vorbei durch die haustür.

„hallo.“ sagte ich, bekam aber keine antwort. verständlich bei dem streß den die haben, da haben die auch keinen bock mehr, mich abzugrüßen. wer weiß, wen’s hier erwischt hat. ich dachte an den über uns wohnenden nachbarn und an eine junge blondine unterm dach, daß sie vielleicht durchgedreht sei. 

wir gingen zwei treppensteigen empor, als wir auf die dritte bogen, schlug uns staub wie auf einer baustelle entgegen, und es sah vor unserer tür zwischen all den uniformierten menschen aus, als hätte eine bombe eingeschlagen. feuer in unserer wohnung? wie denn? hatte ich vorhin vor dem verlassen der wohnung, vor dem mich-zum-einkauf-verschleppen durch meine frau, gedankenlos in meinem psychisch weggetretenen zustand einen kippen einfach auf den teppich geworfen?

„das ist aber schön, so viel besuch heute.“ hörte ich meine frau zwischen all den leuten und dem staub sagen.

„was ist denn hier los?“ fragte ich beladen und mit unter dem arm geklemmten toilettenpapierrollen.

„sind sie herr landt?“

ja, klar, bin ich. wieso, was ist los hier?“

ich schaute in unsere aufgelochte, türlose wohnung und sah die wohnungstür platt zwischen herausgebrochenem mauerwerk und türrahmensplittern im korridor liegen, tapetenfetzen ringsum, abgerissene fernsprech- und klingelanlage, die auf dem korridor aufgereihten schuhe unter der tür und all dem dreck verschwunden…

„lassen sie mich mal durch, ich muß pinkeln.“

„sie sind jürgen landt?“

„ja, was ist denn? lassen sie mich jetzt mal durch, ich muß pinkeln.“ wiederholte ich und balancierte auf der wippenden tür zwischen all dem mauerschutt und staub in richtung klo, ließ die schweren einkaufstüten fallen und machte, daß ich vors klobecken kam, doch es tropfte mir schon etwas in die hose. ich hörte stimmengewirr zwischen meinem restlichen strahl, ließ die immernoch zwischen achselhöhle und linken oberarm eingeklemmte zehnerpackung klorollen fallen und taumelte aus dem bad heraus durch den staubigen flur ins menschenvollgestellte wohnzimmer.

„sie haben angerufen, daß sie sich umbringen wollen.“ schlug es mir entgegen.

„ich? ich hab doch nicht angerufen. ich doch nicht. ich hab nicht angerufen. cornelia, ich hab doch nicht angerufen. stimmt doch, cornelia, ich hab doch gar nicht angerufen.“

„die rettungsleitstelle hat unsere dienstelle angerufen und gesagt, daß sie dort angerufen haben, weil sie sich umbringen wollen.“ sagte der mann der polizei zu mir.

„gar nicht wahr! ich hab da nicht angerufen. ich habe die schwester in der ambulanz der odebrecht-stiftung angerufen. ich habe zu ihr gesagt, daß ich heute einen termin beim oberarzt habe, daß ich mich aber so kraftlos fühle, mich so kraftlos fühle, daß ich den heutigen termin bei ihm nicht wahrnehmen kann, und daß sie bitte dem arzt bescheid sagen soll, daß ich heute nicht zum termin kommen kann, sie solle es ihm sagen, damit er mich nicht, in anführungszeichen, vermissen tut, also in anführungszeichen vermißt. und sie hat ist gut gesagt, und dann hat sie aufgelegt. und ich saß hier komplett kraftlos mit dem hörer in der hand und hab geheult, und meine frau wollte brot holen gehen, hatte sich schon geld gegriffen, ist dann aber so nach gut einer oder dreiviertel stunde zu mir gekommen und hat mich gefragt, ob wir das nicht lieber gemeinsam machen wollen. und ich hab ja gesagt, und hab mich dann mit ihr zusammen hier rausgeschleppt. war doch so, oder nicht, cornelia, du hast mich doch irgendwie motiviert, mich hier in meinem zustand rausentführt, ich hab doch nichts weiter gesagt, als daß ich keine kraft habe, den termin heute wahrzunehmen, stimmt doch, oder nicht, cornelia?“

„das stimmt, so hat es mein mann am telefon gesagt. ich war ja hier, ich hab’s ja mit angehört.“ sagte sie dem beamten der polizei.

der notarzt vernahm mich. schrieb ein protokoll über die ereignisse, sagte, „ich konnte nicht auf die feuerwehr warten, die zeit verstrich zusehends, und wenn sie schon gehangen hätten, wäre es zu spät gewesen, noch auf die feuerwehr zu warten, also hab ich veranlaßt, die tür gewaltsam zu öffnen, wir konnten nicht auf das türschloßöffnen der feuerwehr warten.“

ich wußte wo der sessel stand und ließ mich ohne rückzublicken in das teil fallen und rauchte eine nach der anderen, bückte mich nach jeder zigarette etwas nach vorne und ließ die kippen in dem seitlich auf dem teppich stehenden trinkglas mit wasser verzischen und wartete ab. mir gegenüber machte es sich ein polizist mit einer seiner dicken arschbacken auf einer kleinen freien ecke unserer kommode bequem. seine knarre baumelte nur etwa einen meter vor mir, und kurz verspürte ich den impuls aufzuspringen und ihm die pistole abzunehmen, war aber bereits sekunden später in einer empfindung, die mich in mir hören ließ: gut, daß du das nicht getan hast!, und der notarzt schrieb eine volle stunde lang einen bericht, legte die seiten auf unserem teppich aus und lichtete sie noch einmal mit seinem handy ab. zwischendurch schauten ständig irgendwelche gesichter ins zimmer und verschwanden wieder, gesichter von einsatzleuten und noch mehr einsatzleuten in leuchtfarbenen westen und einfarbigen uniformen.

„wir waren vor der feuerwehr da, ich mußte so handeln.“ erklärte der notarzt noch einmal, „man kann einen hängenden nicht länger als fünfzehn minuten hängen lassen, dann kriegt man ihn nicht mehr zurück.“

„wieso? ich war doch noch ’ne stunde hier, bevor wir los sind.“ leierte ich hervor. „wär doch eh zu spät gewesen.“

„stimmt, was er sagt. ich kann bestätigen, was der doktor sagt.“ bestätigte der bulle auf dem kommodenecksitz. „der notarzt hat schon mit den füßen getrampelt und ständig auf die uhr geschaut. ich muß rein, hat er gesagt, wir können nicht länger auf die feuerwehr warten, damit die das schloß aufbohren, und da hab ich das abgenickt und dann haben wir die tür eingetreten.“ er zeigte auf seinen kollegen. „aber ich kenn sie irgendwoher, wir beide hatten doch schon mal das vergnügen, ihr gesicht kommt mir bekannt vor.“ 

„wie lange bist du denn schon dabei?“ fragte ich ihn.

„über dreißig jahre.“ antwortete er mir.

„na, dann kann das vielleicht hinhauen. kann sein, daß wir uns schon mal begegnet sind.“ sagte ich und steckte mir eine nächste zigarette an. 

„jetzt mal einen moment nicht rauchen.“ unterbrach mich der notarzt. „sagen sie mir erstmal, ob sie suizidale gedanken haben. wir haben im keller nach ihnen gesucht, unterm bett und im schrank. sind sie suizidal? wollen sie sich umbringen? was haben sie für gedanken, suizidale?“

„ja, hab ich immer wieder. ist doch klar in so einer langen und anhaltenden erkrankung, so einer pausenlosen depression.“

„haben sie schon mal versucht, sich umzubringen?“

„nein.“

„hatten sie schon mal einen selbstmordversuch?“

„nein, hab ich doch eben gesagt.“

„noch nie?“

„nein.“

„und sich auch noch nie selbstverletzt?“

„nein.“

der polizeibeamte schaltete sich ein: „das machen sie auch nicht. das leben ist viel zu schön. und dann haben sie noch so eine hübsche frau.“, er scannte mit seinen blicken meine frau ab.

„ja, kann man gar nicht machen, das leben ist viel zu schön.“ bestätigte ich ihm.

„ja, das leben ist viel zu schön.“, wandte er seinen blick von meiner frau ab und fügte hinzu: „und wer sich umbringen will, ruft vorher auch nicht an. ich hab gleich gesehen, als ich hier reinkam, daß alles so aufgeräumt ist. und dann haben sie noch solch eine schöne frau.“ er klebte wieder mit seinen augen an meiner frau.

„wir haben auch gleich noch in den schrank geguckt und unter die betten und im keller nachgeschaut. wohnen sie auch hier?“ fragte der notarzt meine frau.

„ja.“ sagte sie.

„ja klar, wohnt sie hier.“ schmiß ich meinen kippen ins trinkglas.

„wie lange haben sie das schon, die krankheit?“ fragte der polizist.

„fünf jahre.“ antwortete ich.

„einfach so gekommen?“ fragte er nach.

„einfach so gekommen.“ sagte ich und steckte mir, den kopf hängen lassend, eine weitere zigarette an.

„gut, daß du dich nicht aufgeregt hast, sonst hätten die dich noch mitgenommen, und ich hätte in die klinik zur geschlossenen station gemußt, um dich zu besuchen, und wer weiß, ob die mich da überhaupt so ohne weiteres zu dir reingelassen hätten, oder die hätten mich auch noch mitgenommen und in einer zelle bei der polizei verwahrt.“ sagte meine frau immernoch aufgeregt zu mir, nachdem die nun eingangstürlose wohnung von all den buntuniformierten rettungskräften entvölkert war.

ich hatte die ganze zeit einfach nur dagesessen und geraucht, ab und an war ich ein paar meter zwischen den leuten auf und ab gelaufen, hatte mir ein neues glas wasser für die kippen geholt, weil ich das alte einfach übersah, irgendwie nicht mehr fand. auf die idee mir stattdessen einen aschenbecher zu holen, kam ich nicht.

ich konnte mich nichteinmal aufregen, es ging in meinem zustand nicht. die depression lähmte mich zusehends, so, als wenn ich mit einer lähmenden flüssigkeit aufgespritzt worden wäre, die sich von minute zu minute mehr in mir ausbreitete. dann ging es wieder halbwegs einen augenblick, bis eine neue imaginäre injektion mich lähmend heimsuchte, im hirn, im körper, überall. in mir hätte sich nicht einmal eine reaktion breitgemacht, wenn ein aufgeschlitzter mensch bei mir im wohnzimmer gelegen hätte. ich kannte das. es war genauso, als wenn ich mir in dieser mich schon so lange heimsuchden depression eine möse anschauen würde, libidokabel gekappt, butter wie margarine, möse wie radiergummi, ich konnte nichts mehr damit anfangen, weder radieren noch reagieren. verdammt, ich saß da, die bude war wieder leer, aber mir war immernoch so, als wenn vereinzelt leute durch die bude huschten, mich hin und wieder verharrend anstierten, keiner wollte mehr wirklich etwas von mir, aber dennoch waren sie da. sie waren da, die alten gedankenspiralen drehten sich in meinem kopf, bohrend und zwingend, spiralten sich drehend, schlängelten sich durch mein hirn hindurch wie durch die löcher eines fleischwolfes gezwängt, genudelte hirnbandwürmer, spiralschlängelnde schlangen im hirnfleischwolf, um mich dann wie immer, die immer gleichen unverrückbaren feststellungen treffen zu lassen, mich denkend wortlos sagen zu lassen, daß, in welchem augenblick oder welcher situation auch immer, kein unterschied bestehen würde, ob eine möse ein- oder ausgepackt vor mir war. ich empfand nur butter oder margarine, margarine wie butter, wenn ich auf eine möse schaute, wußte zwar, daß margarine nicht dasselbe war wie butter, konnte aber keinen unterschied empfinden. warum ließ mir das gerade jetzt keine ruhe, ich hatte doch ständig noch unzählige andere zwangsgedanken, warum machten mir gerade diese jetzt auch noch zusätzlich so zu schaffen? was für eine bescheuerte und widerliche, mich um mein leben betrügende erkrankung.

was hatte es mich am frühen nachmittag kraft gekostet, bei der sprechstundenhilfe in der ambulanz anzurufen, um mich beim arzt abzumelden. die arme waren nicht zu bewegen gewesen, ich hatte zusammengefallen dagesessen, in tiefster erschöpfung und unter quälenster depressionssymptomatik vor mich hin gejammert und in einem heulenden sprechgesang zu meiner frau gesagt: „laßt mich doch einfach alle in ruhe!“ der telefonhörer hatte neben mir gelegen, sechsmal war besetzt gewesen, noch ein weiterer kraftüberfordernder anlauf, wieder besetzt, erneut letzte kräfte mobilisiert, den antrieb ähnlich einem reservekraftakt bündelnd, nochmals anrufen: „tag, hier ist jürgen landt, ich habe heute einen termin beim doktor. ich fühle mich aber zu kraftlos um den termin heute wahrnehmen zu können. sind sie so nett und sagen ihm bitte bescheid, daß ich heute nicht komme, damit er mich in anführungszeichen nicht vermißt?“ „mach ich.“ hatte sie geantwortet und aufgelegt, und meine frau hatte es tatsächlich geschafft, daß ich mit zum einkauf stolperte, mich am einkaufswagen und jeder regelreihe festhielt, beim gehen in zeitlupe erstarrt und im supermarkt im zerspringen meines kopfes und in brechreizen zwischen wortfetzen würgend gejammert hatte…

butter wie margarine, die leute in unserer wohnung. stundenlang, butter wie margarine. die tür im flur samt rahmen und mauerwerk, tapetenfetzen, wolken aus kalkstaub, abgerissene wechselsprechanlage… ’sonja’-bratenfett, butter wie margarine, nur die französische butter mit den salzklumpen drin wie kristallzucker sah ich überhaupt nicht zwischen all dem fett. und die mindesthaltbarkeitsdauer der noch nicht geöffneten salzbutter in unserem kühlschrank war bestimmt auch schon lange überschritten… würde heute abend noch ein tischler kommen und die tür vor unsere wohnung stellen, irgendwie provisorisch befestigen? und wann würden die maurer kommen, die maler, der elektriker, der tischler mit einer neuen tür?

als ich die noch immer im flur liegende tür anhob, sah ich unsere zermatschten schuhe darunter. leute über leute waren über die tür und unsere darunterliegenden schuhe gelatscht und hatten sie regelrecht zertreten. ich zog zwei schuhe jeweils von einem paar hervor, beulte an ihnen rum, versuchte sie zurückzubeulen, dann einen von meiner frau, der absatz war verschwunden und eine tiefe steinharte beule an ihrem schuh ließ sich nicht mehr herausdrücken, die ränder der schuhe waren keine ränder mehr, zu sehr weggedrückt und eingerissen. an all die anderen drunterliegenden schuhe kam ich gar nicht ran, zu schwer die tür für mich, um sie alleine aufzurichten. und wohin auch mit dem ding?

„hier blinkt ja die rote lampe am anrufbeantworter.“ entdeckte ein paar stunden später meine frau. „soll ich mal abhören?“

„von mir aus.“ sagte ich.

„und welchen knopf soll ich drücken?“

„weiß nicht. irgendwas mit einem pfeil.“

eine frauenstimme meldete sich: „drei alte nachrichten. nachricht eins. dienstag neunter juli fünfzehn uhr siebenunddreißig.“ dann eine männerstimme: „hallo herr landt, felgenhauer hier, melden sie sich doch mal bei mir. ich will mal mit ihnen den nächsten termin besprechen gerne. wiederhören.“

dann wieder die frauenstimme: „nachricht zwei. dienstag, neunter juli fünfzehn uhr vierzig.“

danach nichts, nur rauschen zu hören.

dann erneut die frauenstimme: „nachricht drei. dienstag neunter juli fünfzehn uhr siebenundfünfzig.

abermals die männerstimme. „herr landt, äh, ich möchte sie bitten mich dringend zurückzurufen ist ganz wichtig. und zwar unter der nummer 876 786. wiederhören.“

„das war er doch, das war mein arzt. aber da waren wir doch schon lange losgefahren, waren brot holen und einkaufen.“ stellte ich in meinem dichten und von innen zugepreßten kopf fest.

als meine frau am nächsten tag die tageszeitung hochholte, hörte ich: „hier, das gibt es doch gar nicht, stell dir mal vor, was hier steht! hör dir das mal an. was die hier über uns in der zeitung schreiben.“ und sie las vor:

Großeinsatz

in der Feldstraße

Greifswald – Zwei Feuerwehren,

Kranken- und Notarztwagen sorg-

ten gestern am späten Nachmittag

in der Feldstraße für Aufregung

bei Bürgern. Wie die Leitstelle auf

Nachfrage der OZ informierte, er-

folgte der Großeinsatz wegen des

Verdachts auf Suizid. Ein Mann

sei nicht ans Telefon gegangen

und habe nicht die Tür geöffnet. In

so einem Fall würden immer Not-

arzt, Polizei und Feuerwehr zum

Einsatz kommen.

mir ging es nicht anders als am tag zuvor. ich konnte einfach nicht mehr. die depression schlug mir die beine unterm rumpf weg, ließ mich beinlosgefühlt nicht laufen können. dennoch konnte ich aus meinem zugeleimten und dichtgeschraubten hirn hervorbringen: „das geht so nicht, ich muß da anrufen, so geht das doch nicht.“

meine frau drückte mir sofort das telefon in die hand und nannte mir die einzutippende nummer. es meldete sich jemand von der ostsee-zeitung.

sätze formierten sich aus meinem kopf ins telefon: „ich muß das hier mal klarstellen. ich bin der von gestern aus der feldstraße, über den sie heute berichten. dieser großeinsatz. und sie berichten über die aufregung bei den bürgern. ich war und bin aber nicht suizidal. und hab mich auch nicht umgebracht. ich hatte meinen arzttermin abgesagt, weil ich mich zu kraftlos fühlte, um ihn wahrnehmen zu können. hatte ich alles der schwester im ambulanten institut, also in der institutsambulanz, telefonisch mitgeteilt, und auch, daß sie das bitte dem arzt mitteilen soll, damit er mich in anführungszeichen nicht vermißt. dann hat mich aber meine frau motiviert, mit zum einkaufen zu kommen, so etwa eine stunde nach meinem anruf. und dann sind wir los, und der arzt hat versucht mich anzurufen, auch so nach einer stunde, wir waren aber noch unterwegs, und als wir mit den einkaufstüten wieder eintrafen, war die tür schon eingetreten, samt rahmen und mauerwerk, lag alles in der wohnung, tapetenfetzen, abgerissene wechselsprechanlage, und die ganzen leute hier in der wohnung, alles ein mißverständnis. wär nicht schlecht, wenn sie das nochmal richtigstellen.“

„das ist ja interessant, so geht das ja wirklich nicht.“ hörte ich eine männliche stimme.

und einen weiteren morgen darauf las meine frau mir vor:

Missverständnis

löst Einsatz aus –

Mann hegt keine

Suizidgedanken

Greifswald – Der Großeinsatz von

Polizei, Feuerwehr und Notarzt in

der Feldstraße am Dienstag ist auf

ein Missverständnis zurückzufüh-

ren. Die Rettungskräfte rückten

aus, weil sie den Auftrag bekamen,

einen angeblichen Selbstmord zu

verhindern (die OZ berichtete).

Allerdings hegte und hegt der

Mieter, dessen Wohnungstür im

Zuge des Einsatzes aufgebrochen

wurde, keinerlei Selbstmordge-

danken, wie er der OZ versicherte.

Am Dienstag hatte der Mann ei-

genen Angaben nach einen Arztter-

min abgesagt, weil er sich an jenem

Tag zu kraftlos fühlte. Wörtlich sag-

te er der Assistentin: „Sagen Sie

dem Arzt Bescheid, damit er mich

nicht vermisst.“ Danach motivierte

ihn seine Frau, trotzdem zum Ein-

kaufen mitzukommen. In dieser

Zeit muss wohl der Arzt versucht

haben, den Mann anzurufen. Weil

sich am Telefon niemand meldete,

wurde die Leitstelle informiert und

der Einsatz ausgelöst.

Als der Mann mit seiner Frau spä-

ter die Einkaufstüten hochtrug, wa-

ren die Rettungskräfte schon wie-

der abgezogen. Die Tür lag in der

Wohnung, Tapete und Mauerwerk

sind beschädigt und müssen nun in-

standgesetzt werden.

nun gut, die tür wurde nicht aufgebrochen sondern samt rahmen und mauerwerk eingetreten, die wechselsprechanlage und tapeten runtergerissen, ich hatte nicht nur einkaufstüten in den händen sondern auch noch klorollen unterm arm, die rettungskräfte und polizei waren noch über eine stund da, und die assistentin war keine assistentin, sondern die schwester im anmeldebüro der klinikambulanz, die dem arzt die patientenakten auf einen stapel legt, „scheiß drauf, aber beinah alles richtig.“ durchschaute ich und hörte mein brennen im kopf und in sämtlichen knochen dieses schädels als seien es geräusche.

der arzt meldete sich weder am nächsten tag und auch in den nächsten tagen nicht mehr bei mir, und als ich einen termin bei seiner sekretärin vereinbarte, sagte sie: „das muß schnell gehen, nicht wahr?“

„ja.“ sagte ich erschöpft.

„dann kommen sie morgen um 14.00 uhr.“

„danke.“ japste ich.

doch am nächsten morgen rief sie an und gab mir einen termin zum ende des monats.

„aber das ist doch noch so lange?“

„in vierzehn tagen.“ sagte sie, und vor erschöpfung fiel mir der hörer aus den händen. 

der arzt bestrafte mich. hatte er doch oftmals gesagt: „wenn was ist, wenn was sein sollte, wenn es ihnen nicht gut geht, rufen sie meine sekretärin an und sie sagt mir umgehend bescheid, sie können dann sofort oder so schnell wie möglich zu mir kommen.“

doch es gab seit fünf jahren keinen einzigen tag mehr, an dem ich nicht den schlimmen symptomatiken und zuständen unterlag, und wenn ich zu ihm ging, dann kam in aller regel: „soll ich sie einweisen? ich weise sie ein! dann können sie sich mal aus allem rausnehmen und zur ruhe kommen.“ 

„nein, nicht einweisen. in der psychiatrie kommt man doch nicht zur ruhe. und ich kann mich doch nicht aus mir selbst herausnehmen. das ist doch in mir. ich, ich bin doch in mir, wie soll ich mich denn rausnehmen. und stationäre psychiatrie, das ist doch der pure stress.“ und jedesmal seine frage: „haben sie suizidale gedanken?“

und einmal hatte er mir erklärt, daß das einen guten psychiater ausmache, daß ein guter psychiater seinen patienten jedesmal und unbedingt nach seinen suizidalen gedanken zu befragen hätte.

doch was hätte es genützt, ihm meine schwere suizidalität jedesmal zu bejahen. es hätte einen aufenthalt auf der geschlossenen station eingebracht und nach jeder entlassung aufgrund der ständigen suizidalität die nächste einlieferung auf die geschlossene station, und die nächste, und die nächste und eine weitere, und weitere, und weitere…

nachdem ich mich am monatsende zur sprechstunde geschleppt hatte, sprach er am ende des gespräches, bereits im aufstehen begriffen, die aktion an. 

„keiner hat schuld.“ hechelte ich.

„doch, sie haben schuld, daß das passiert ist. wir haben ein abkommen.“

„ja, wir haben gesagt, wenn ich den suizidalen schüben, der suizidalität nicht mehr herr werde, das nicht mehr aushalte, komme ich her. und ich habe die sprechstundenhilfe angerufen und mich abgemeldet, zu ihr gesagt, daß ich mich kraftlos fühle und den termin heute nicht wahrnehmen kann, sie ihnen bescheid sagen soll, damit sie mich in anführungszeichen nicht vermissen.“

„da sehen sie, wie sie sich verhalten haben, ich ruf sie dann auch noch an und sie gehen nicht ans telefon, da muß ich dann als guter arzt so handeln. was meinen sie, wie man mich als arzt wahrnehmen würde, wenn sie dann da gehangen und ich nichts unternommen hätte.“

„meine frau hat mich irgendwann motiviert, zum einkauf mitzukommen, mich mitgenommen, wie auch immer, und dann müssen wir uns um ein paar minuten verpaßt haben, ich war ja noch fast eine stunde zuhause, saß kraftlos erstarrt auf dem hocker vor dem telefon. keiner hat schuld.“ keuchte ich und hörte noch einmal: „sie haben schuld. was wäre ich denn für ein arzt, wenn ich am nächsten tag höre, sie haben sich suizidiert, und es kommt raus, daß sie vorher hier bei mir angerufen und gesagt haben, daß sie keine kraft mehr hätten.“

zehn tage lang rückten frühmorgens die handwerker an. manchmal schlief ich trotz ’zopiclon’-’tavor’- und ’faustan’-cocktail erst gegen fünf uhr morgens ein, die handwerker betraten gegen 7 uhr den korridor, schwangen ihre maurerkellen, sägen und pinsel, irgendwann hatten wir eine neue tür und eine neue wechselsprechanlage, die aber schon nach drei tagen nicht mehr funktionierte. die zerquetschten schuhe schmiß ich weg.

UNTERM SAFT GEHT’S WEITER / 99