Es gibt immer noch Menschen, die David Hasselhoff für einen Helden der Wende 1989 halten oder für die das Pfeifen von „Wind of Change“ die Mauer zum Einsturz gebracht hat. Für mich waren es andere Lieder, die ich in den späten 80er und frühen 90er Jahren immer wieder gehört habe. Sortiert habe ich sie in der zeitlichen Reihenfolge, wie ich sie entdeckt habe. Die Auswahl hab ich danach getroffen, was ich auch heute noch höre – wenn auch mit anderen Ohren.
 

1. Lift – Nach Süden

Am Anfang ist die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach Ferne irgendwo. Nach dem „Westen“ oder „Süden“. Nach irgendwo, wo ich nicht war und kaum hinkommen werde. Es ist 1984 und ich bin fast raus zu Hause – zumindest die meiste Zeit. Die musikalischen Helden der Schulzeit waren alle vom Westen. Besonders Udo Lindenberg und BAP zählten dazu. Doch der Traum, dass man sie würde mal live sehen können, schien schneller ausgeträumt, als er Realität zu werden schien.

Das Internat im „Tal der Ahnungslosen“ schneidet brutal ab von den üblichen Möglichkeiten des Musikkonsums. Aber gleichzeitig eröffnet sich eine ganz neue Möglichkeit, musikalische Welten zu entdecken. Das eine sind die Plattensammlungen oder Tonbandmitschnitte, die Klassenkameraden mitbringen. Plötzlich höre ich zwischen der Musik der 60er und Punk, zwischen Jazzrock und Folk, Artrock und Ska Musiker, von deren Existenz ich noch nicht gehört hatte. Und natürlich gibt es nahe der Stadt Dresden auch die Chance, Konzerte zu besuchen. Ein Abend ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Normalerweise war ich nicht der Typ für den Kulturpalast. Aber da gab es ein Treffen verschiedenster Bands aus dem Dresdner Umland. Und so konnte man Gruppen wie Regenwiese oder Zwei Wege kennenlernen. Von beiden hört man zumindest hier im Norden seit Jahrzehnten nichts mehr. Headliner war an dem Abend allerdings Lift, mir bis dahin auch noch nicht bekannt. Und deren lyrische Popmusik mit jazzigen und sonstigen Einflüssen blieb im Kopf. Stücke wie „Nach Süden“ wurden zum Vehikel der jugendlichen Sehnsucht. Nein: die Mauer kam nicht vor im Text. Aber dafür der vielen gemeinsame Wunsch nach der Ferne, nach dem Aufbruch.

2. Renft – Nach der Schlacht

Die Jahre gingen weiter. Die musikalischen Entdeckungsreisen ebenso. Erstmals bekam ich hier von Freunden Alben von Renft zu hören, die damals zu Höchstpreisen gehandelt wurden. Besonders die zweite Platte gehört für mich noch heute zum Besten, was die deutsche Rockmusik hervorgebracht hat. Denn da fehlt der später übliche pädagogische Zeigefinger – oder er richtet sich nicht nur gegen den Hörer, sondern vor allem auch gegen die Obrigkeit, die gnadenlos an ihren Idealen der Revolution gemessen werden. Die Schlacht, so war mir klar, wird viel länger sein. Auch wenn Renft heute es sich bequem eingerichtet haben im Dasein einer sich selbst reproduzierenden Oldiekapelle. Da fehlt die Revolte Und es passiert nichts neues mehr.

3. Slim Harpo – Rainin‘ In My Heart

Irgendwann hatte das DDR-Label AMIGA begonnen, eine ausgezeichnete Reihe mit Bluesalben zu veröffentlichen. Doch als Sammler war man natürlich immer auf der Pirsch nach dem Unbekannten. Und eines Tages fand ich beim Stöbern in einem Second Hand Laden tatsächlich eine amerikanische Bluesscheibe: Von Slim Harpo hatte ich bis dahin nur Songs in den Versionen der Rolling Stones zu hören bekommen. Doch diesel leise Melancholie packte mich sofort – das war der Blues für den liebeskranken Teenager ebenso wie für den Jugendlichen mit einer Sehnsucht nach Weite.

4. Die Skeptiker – 1933

Es dauerte eine Weile, bis die Punk- und Underground-Musik der DDR den Weg in meine Ohren fand. Doch eine Band fand ich schon auf ihrem ersten Demo gut. Die Skeptiker unterschieden sich vom Rest der Szene schon allein dadurch, dass von Anfang an eine gut und druckvoll spielende Band waren. Und ihre Texte schafften es, den Alltag in der Zone aufs Korn zu nehmen und gleichzeitig den Zensoren was anderes vorzutäuschen. Der Ruf „Spion im Cafe“ war deutlich, war voll auf die Zeit passend. Die allgegenwärtige Überwachung haben wir damals hingenommen, uns auch über sie lustig gemacht. Doch der Arm der Stasi reichte weit: Freundschaften mit Leuten im Westen zerbrachen, weil keine Briefe mehr durchkamen. Das Misstrauen wuchs auch gegenüber den Freunden. Wer notiert im Geiste die Bemerkungen? Wer wird mich verraten? Ich hab irgendwann begonnen, mir darüber keinen Kopf mehr zu machen. Wenn ich einmal meine Autobiografie schreiben sollte, werde ich auch die Stasiunterlagen einsehen. Vorher nicht.

5. Hans-Eckardt Wenzel – Halb und halb

Neben den Punks waren es vor allem die Liedermacher, die die Zustände im Land deutlicher aufs Korn nahmen. Da gab es die braveren Leute wie Pension Volkmann, die „vom Ausweis in der Tasche, der was zählt“ sangen. Oder es gab Rebellen wie Wenzel & Mensching. Besonders „Halb und halb“ von Wenzels zweitem Soloalbum ist so böse, wie es nur sein durfte. Die Mitte, das halbe Glück – und die Halbheiten würden bald ein Ende haben. Entstanden ist das Lied für die Hammer-Revue mit Mensching. Und darin gab es noch wesentlich deftigere Sachen. Aber die kursierten damals nur auf Bändern im Untergrund.

Erfolgreicher – und auch wesentlich deutlicher – wurde damals nur noch Gerhard Schöne. Seine Lieder wie „Mit dem Gesicht zum Volke“ und wenig später „Das weiße Band“ waren damals absolute Mitsinghits. Heute aber wirken sie – wie so viele Songs, die sich auf aktuelle Ereignisse beziehen, wie historische Artefakte, die man bewundert und in die Sammlung einsortiert. Doch als Lieder funktionieren sie nicht mehr wirklich.

6. Engerling – Nr. 48

Keine Band aus dem Bluesumfeld hat es in der DDR über die ganzen Jahre wie Engerling geschafft, in ihren Texten die Sehnsüchte der Fans und Kritik an den Verhältnissen derartig zu verpacken, dass die Zensoren dennoch keine Chance hatten. „Wir laufen nicht im Gleichschritt“ bezog sich im Lied auf eine Beziehung – doch viele Fans sangen es als Ablehnung gegen die staatliche Uniformität. Oder ein Lied wie der „Narkose Blues“ vom Album „So oder So“ ist nicht nur ein Stück über das Erlebnis einer schweren Krankheit. Man könnte es auch als Lied über den Zustand des Landes allgemein hören. Scheinbar kafkaesk ist die Geschichte von Nr. 48: Wir sind auf einer endlosen Suche – auch wenn das Ziel offenbar einfach nicht existiert. Dennoch ist keine Chance, die Sache einfach aufzugeben. Wenige Jahre später wurden Engerling dann ganz direkt; Dylans „The Times They Are A-Changing“ wurde zu „Es kommen andere Zeiten“. Und auch das hat den Test der Jahre überstanden. Heute ist es kein Kommentar zu den Umwälzungen der Wende mehr, sondern ein Lied von der Sehnsucht, dass die offenbare Stagnation sich doch mal wieder auflösen möge.

7. Feeling B – Artig

Da hatten die Verantwortlichen der FDJ-Hochschulleitung wohl nicht wirklich nachgedacht: Ein Konzert mit den im Untergrund angesagtesten Punkbands während der FDJ-Studententage? Klar, der Anfang war noch unverfänglich: Eine polnische Band, die heftigen Bluesrock im Stile von Led Zeppelin durch den Keller der Mensa dröhnen ließ. Auch die irgendwie belanglose Band „Zuma“ störte den Frieden nicht wirklich. „Pass auf, als nächstes treten Freygang auf“, sagte mir ein Kumpel, der die Musiker kannte. Freygang, die den Gerüchten nach bei Konzerten schon mal Fahnen verbrennen sollten? Haben die nicht mal wieder komplettes Auftrittsverbot? Darum scherten sie sich aber nicht, und damit begann die Verwandlung des Mensakellers in ein Inferno aus Alkoholmissbrauch und Pogo. Und keine Band konnte das in der Zeit so auf den Punkt bringen, wie Feeling B. Musikalisch primitiv, textlich oft kryptisch. Aber manchmal auch genial wie bei „Mix mir einen Drink“ oder eben bei „Artig“: Wir wolln immer artig sein, denn nur so hat man uns gerne. Das ist ein besoffener Kampfschrei gegen diesen Staat. Die Fans pogen, die leeren Bierflaschen fliegen durch die Luft. Und als danach auch noch Die Firma auftritt, sind die Punks im Himmel. So lange, bis die Partie vorbei ist, weil der Keller einfach nur noch ein lebensgefährliches Feld aus Glassplittern und Schnapsleichen ist. Wegen des Auftritts Freygang sollte der FDJ-Sekretär der Uni gerüchteweise zum Rücktritt gezwungen worden sein.

Nach der Wende war es bald vorbei mit Feeling B. Auch Sandow, die Skeptiker und andere Undergroundbands zunächst schnell weg vom Fenster. Flake spielt inzwischen bei Rammstein seine Keyboards. Die Skeptiker sind seit einigen Jahren wieder aktiv, sind aber für die Punkszene noch immer zu intelligent. Andere Bands sind für immer in der Versenkung verschwunden. Und eigentlich vermisst man sie auch nicht.

8. Duo Sonnenschirm – Der Tribünenheber

1989 waren die Zensoren wohl innerlich schon im Ruhestand. Plötzlich kamen Alben auf den Markt, wo die lyrische Verbrämung weggelassen wurde. Die Brachialromantiker des Dresdner Duos Sonnenschirm etwa sang in ihrem Siegfriedlied: Wo bleibt denn meine Strafe? Und im genialen „Lied vom Drüberstehen und Drunterliegen“ wird die ganze Manie mit den huldvoll winkenden Genossen auf den Tribünen aufs Korn genommen. Aber vielleicht wollte die Obrigkeit 89 einfach nur dem Volk etwas zum Abreagieren bieten, denn: „Wenn der Bürger sitzt und flennt, vermisst er meist das Happy End. Drum serviere man zum Schluss ihm eine Schüssel Opti-Mus“.

9. Blankenfelder Boogie Band – Heißer Sommer

Was die FDJ geritten hatte, gerade Rio Reiser zu einem Konzert nach Berlin einzuladen, ist mir noch immer rätselhaft. Klar, er spielte in der Seelenbinderhalle nicht „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“. Aber als er „Der Traum ist aus“ anstimmte, waren die Besucher mit ihm ganz einer Meinung: So geht es hier nicht weiter. Und gemeinsam mit Lutz Kerschowsky sang er dann als Zugabe noch dessen Bearbeitung des „Summer Time Blues“. Ein heißer Sommer steht bevor – und genau so kam es dann auch für die Genossen.

10. Keimzeit – Irrenhaus

Nicht nur in der Bluesszene hatten sich Keimzeit mit ihren Liedern zu dem Zeitpunkt längst eine eingeschworene Fangemeinde erspielt. Gelegentliche Auftrittsverbote gehörten damals für die Bands einfach dazu. Heute kann man kaum verstehen, was die Zensoren an Stücken wie „Mama sag mir warum“ auszusetzen hatten. Stücke wie „Maggie“ waren da noch harmlos und verspielt. Doch dass plötzlich auch „Irrenhaus“ im Jugendradio lief, war ein deutliches Hoffnungszeichen. Klar, die Schlauen kamen letztlich doch nicht unbedingt ins Parlament. Aber das konnte man ja noch nicht ahnen.
Keimzeit hatten das Glück, dass durch die Wende ihre Alben sofort bei einem westdeutschen Major-Label erschienen. Und als sie schließlich auch das uralte „Kling Klang“ auf Platte pressten, kamen sie damit sogar ins gesamtdeutsche Musikfernsehen.

11. Pankow – Langeweile

Auch Pankow, die mit ihrem Rocknroll ja eh schon immer ganz im tristen Alltag zu Hause waren, nahmen jetzt keine Blätter mehr vor den Mund. „Aufruhr in den Augen“ wurde ihr bestes und gleichzeitig ihr politischstes Album. Und Langeweile, das Stück drüber, das man schon viel zu lange den alten Männern vertraut hat, ist eine wirkliche Hymne der Wende geworden. Ob die Tatsache, dass Gitarrist Jürgen Ehle IM bei der Stasi war und seinen Kollegen Andre Herzberg bespitzelte, zur Nachsicht der Zensoren beitrug? Ich weiß es nicht. Nur dass Pankow nach der Wende niemals wieder so gut werden konnte, wie damals.

12. DEKAdance – Alex goes to Hollywood

Schon fast zu spät erschien 1989 auch das Debütalbum der Dresdner Spaß-Jazz-Funker DEKAdance. Für uns war das im Herbst die richtige Partymusik, wenn man grad mal keine Transparente für die nächste Demo malen musste oder auf wichtigen Treffen die nächsten Aktionen plante. Frech und ohne jegliche Scheuklappen wurden die Verhältnisse hier zum Tanzen gebracht. „Happy Birthday“, der Titelsong der Scheibe ist gleichzeitig ein wunderbar böses Geschenk zum 40. der DDR. Und mit der absurden Fluchtgeschichte von Alex, der unbedingt nach Hollowood wollte, und dort versehentlich von Indianern erschossen wurde, hatte man schon paar Monate vor dem Sommer die Massenflucht zum Thema gewählt.