Ein Leben wird erzählt. Die Frau heißt Thea, geschieden, zwei Kinder, im ersten Beruf Wirtschaftskaufmann, Wechsel in die Kulturarbeit, Fernstudium am Literaturinstitut in Leipzig, später Bürokauffrau, allerlei Lehrgänge, diverse Pseudo-beschäftigungen. An der Aufzählung der Tätigkeiten kann man erkennen, dass sich Theas Leben in zwei Gesellschaften abgespielt hat. Ein Vierteljahrhundert vor der Wende und die nächsten fünfundzwanzig Jahre im neuen Deutschland. Sie ist um die Fünfzig, spürt das Altern im Gemüt und in den Knochen, und sie will den freiwillig gelebten gesellschaftlichen Konsens, zu funktionieren „wie es sich gehört“, nicht mehr ertragen. Verklärung von Sex, angeborene Mutterliebe, Geburtenwunder… Thea will die Übereinkunft mit der permanenten Verlogenheit aufkündigen. Kinderkriegen zerreißt einem den Leib, Mutterliebe ist pragmatischer Natur, und Sex, nun gut, es gibt ihn wie auch andere notwenige Verrichtungen. Das Schreiben und die Literatur sind ihre stetige Liebe, ihr geschützter Raum, ihr Drinnen. Draußen fügte sie sich, ihr Leben war unauffällig, für Freunde und Umwelt normal. Nun wird sie auffällig. Sie macht sich frei, um dem Anspruch vom eigenen Leben näher zu kommen. Sie findet eine Partnerin. Sie hat eine Vorstellung davon, wie es gehen könnte.
Wir haben nach der Wende viel vom mündigen Bürger gesprochen. Wir meinten das politisch. Sonja Voß-Scharfenberg ist eine mündige Schreiberin. Ich meine das literarisch.
Die Erzählung heißt „Eisblumen“, ein Name für Kälte und für Poesie. Zwischen diesen Polen ist die Geschichte gefasst.
Eine Frau bricht ihre Grenzen auf, macht Schluss mit der eigenen Versöhnlichkeit, die ihr Leben dimmt.
Sonja Voß-Scharfenberg erzählt ihren Stoff in der dritten Person und schafft sich damit die gewünschte Distanz zu Thea, ihrer Protagonistin. Diese Distanz hält sie durch bis zum Schluss, gestattet ihrer Heldin nicht ein einziges Mal den Ausbruch in die persönliche Rede, gibt ihr kein ICH. Sie berichtet, nüchtern und sachlich und in der dritten Person, über das Leben von drei Generationen, von Thea, ihrem Ex, von ihren und seinen Eltern, von ihren Kindern. Ein biografisches Protokoll – spröde, emotionslos. Es friert einen beim Lesen. So möchte man nicht sein. Der Schock wird gemildert, weil die eine oder andere Passage den Finger an die eigene Nase führt: Wie bin ich denn? – Die beschriebenen Personen agieren in ihrem sozialen Umfeld zwischen Nachkriegszeit, DDR und Gegenwart. In ihren Schicksalen liegt vielfacher Stoff für Geschichten, für einen Roman. Aber das ist hier nicht gemeint. Im Fokus des erzählenden Berichtes steht ganz und gar die Sonja-Figur, ein Mensch, der sich emanzipiert, der sich frei macht von sich, für sich.
„Eisblumen“ ist ein mutiges biografisches (und autobiografisches?) Protokoll, spannend zu lesen nicht nur der stringenten Form wegen, sondern auch weil es ein Feld berührt, das jedermann zu beackern hat: wie weit lasse ich mich in meinem Leben abtreiben vom eigenen Kurs. – Sonja Voß-Scharfenberg beendet ihren sachlichen Erzählbericht mit einer poetischen Metapher. „Eisblumen gefrieren in einer Art Hochzeitsweiß zu ungeheuerlichen Brautsträußen … von Gräsern und Farnen, Wegerich und Scharfgarbe, Sauerampfer und Tausendschön, so als hätte Dürer sein Großes Rasenstück ins Glas gepresst.“
Poesie kann sie auch, nicht nur Sachlichkeit.
Wie für ihre Protagonistin Thea gilt auch für Sonja Voß-Scharfenberg: das Schreiben und die Literatur sind ihr Zufluchtsort, ihr geschützter Raum.
Immer schon. Und immer wieder.
Sonja Voß-Scharfenberg: Eisblumen
freiraum-verlag 2014 
96 Seiten; Softcover
ISBN: 978-3-943672-53-4
12,95 EUR (D)