Mit dieser Frage endet Reiner Kunzes „Die wunderbaren Jahre“, diese Mischung aus Kurzgeschichten, Gedichten und Gedankensplittern, dieses so unerklärliche wie faszinierende Buch. Eine erneute Annäherung
Ich war elf, und später wurde ich
sechzehn. Verdienste erwarb ich
mir keine, aber das waren
die wunderbaren Jahre
Truman Capote
Irgendwann, ich glaube es war in den 80ern, hatte ich dieses Buch schon einmal in der Hand und es mit Faszination gelesen. Ein Teil der Geschichten, die Kunze hier erzählt, hatten sich irgendwo in das Gedächtnis eingebrannt und kamen immer wieder hoch. Und jetzt wurde Kunze 80 Jahre alt. Das ist ein Grund zu überprüfen, ob die Faszination sich wieder einstellt oder ob auch dieser Text wie so viele, die man in der DDR oder kurz danach gelesen hatte, der Gnade des Vergessens anheim fallen kann. Die Frage muss ich zwiefach beantworten: Einerseits ist das ein großartiges Buch. Andererseits sollte jeder, der nostalgische Anwandlungen in Bezug auf die DDR bekommt, es zur Hand nehmen, um sein Gedächtnis aufzufrischen und sein eigenes Bild von der Vergangenheit mit diesen Texten zu konfrontieren. Für alle anderen könnten die „Wunderbaren Jahre“ eine Hilfe sein, um zu verstehen, was die DDR auch war. 8 Jährige, 9 Jährige… Wehrerziehung, vormilitärische Ausbildung, Erziehung zum Frieden auf Ostdeutsch: Es ist zum Heulen! Es treibt mir immer noch den Schrecken in die Knochen. Ja: Fahnenappell – diese Scheiße! Ja sicher, ich weiß, dass das undiff erenzierte Bemerkungen sind. Aber man muss es wohl einfach mal wieder bewusst machen, was Generationen von Schülern widerfahren ist. Diese Erinnerungen wecken Kunzes Texte, holen sie aus dem Verdrängten hervor, machen die alten Schmerzen wieder spürbar. Und dann sind da diese wundervollen lyrischen Übertragungen von Gedichten aus tschechischen Untergrundpublikationen:
Diese paar Jahre
Du willst nicht aufgeben.
Noch hoffst du.
Bewahrst die fingerabdrücke auf
aller katastrophen.
Sehnst dich, sie bei der tat zu ertappen.
Der schnee fällt doppelt.
Mit einem mal haben wir graues haar, beide.
Antonin Bartušek
Und doch trotz allem: Es waren die wunderbaren Jahre.
Kunzes Buch erschien erstmals 1976 in der Bundesrepublik, wo es großes Erfolg hatte. In der DDR durfte es nicht erscheinen. Und wegen der Veröff entlichung im Westen wurde Kunze aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. Das stellte de facto ein Publikationsverbot dar. Als man ihm 1977 eine mehrjährige Haftstrafe androhte, stellte der Dichter einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR, wie der Ausreiseantrag in der Bürokratensprache hieß, und verließ die DDR. Nein: „Die wunderbaren Jahre“ waren nicht sein Ticket in den Westen, wie ich letztens voller Entsetzen sinngemäß in einer Zeitung lesen musste. Rainer Kunze wurde durch massive Zersetzungsmaßnamen des Ministeriums für Staatssicherheit gezwungen, das Land zu verlassen. Nachzulesen ist das in dem nach der Wende veröff entlichten Band „Deckname Lyrik“. Das könnte man auch als die notwendige Ergänzung zu diesen poetischen Schlaglichtern sehen: Die Banalität und Grausamkeit dieses untergegangenen Landes, für das Dichter gefährlich waren.
PS.: Verboten waren die Wunderbaren Jahre im Osten, wie alle Druckerzeugnisse aus dem Westen. Doch sie wurden gelesen. Es war Mitte der 80er Jahre, als ich ein handgeschriebenes Exemplar von Kunzes Buch in die Hand bekam. Ich verschlang die Texte förmlich. Und machte mich sodann an die Arbeit, die Weiterverbreitung fortzuführen. Mit Schreibmaschine und Durchschlagpapier entstanden in kurzer Zeit drei weitere Ausgaben und wurden an gute Freunde verschenkt. Raimund Nitzsche.