Die klassische Soul- und Funkmusik der 60er und 70er Jahre ist in den letzten Jahren in diversen Retrowellen immer mal wieder auch in den Mainstream-Medien zurück ins Bewusstsein gerufen worden. Künsterinnen wie Sharon Jones & The Dap Kings oder Nick Waterhouse haben Alben veröffentlicht, die wie aus der Zeit gefallen wirken, wenn man nicht genau hinhört. Und ein Megahit wie das mit den Musikern von Daptone Records eingespielte Back To Black von Amy Winehouse ist ohne die klassische Soulmusik nicht denkbar. Hier sind Alben entstanden, die den traditionellen Mechanismen des Popmarktes deutlich widersprachen und dennoch auf weltweite Aufmerksamkeit stießen. Soul ist nicht tot. Diese zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung entstandene Musik kann selbst im 21. Jahrhundert neu wirken. Doch ist das noch „echter“ Soul? Oder ist das nur epigonenhaftes Kunsthandwerk?
Soulmusik ist, wenn man nach der These des amerikanischen Autors Peter Guralnick gehen will, heute eine Musik, die ebenso wie die Lautenmusik der Renaissance, der Blues oder der klassische Jazz aus New Orleans ein abgeschlossenes Kapitel der Musikgeschichte, ein Fall für historische Aufführungspraxis, wenn man zugespitzt formulieren möchte.
„Sweet Soul Music“ hat Guralnick Anfang bis Mitte der 80er Jahre geschrieben. Für seine umfassende und äußerst gut lesbare Studie hat er zahllose Interviews mit Musikern, Produzenten und anderen Beteiligten geführt. Und er hat immer wieder seine persönliche Geschichte mit einbezogen in die Darstellung. Schließlich ist er mit dieser Musik groß geworden, hat die Künstlerinnen schon als Teenager live gehört und ihre Singles in Plattenläden gekauft, die sich genau auf diesen Sound des Südens spezialisiert hatten.
Soul – und hier widerspricht Guralnick der gängigen Geschichtsschreibung – ist in den Südstaaten entstanden aus der Kombination von Gospel und klassischem Rhythm & Blues und einer Spur Country. Am Fließband entstandene Hits wie die von Motonwn gehört seiner Meinung nach nicht dazu. Das ist Musik, die sich von Anfang an auf einen „normalen“ Popmarkt richtete. Die Soulmusik war dagegen etwas, was man heute mit „Independent“ bezeichnen würde, Musik, die jenseits des Mainstreams entstand und einen eigenen Nischenmarkt bediente. Und – und auch diese Meinung Guralnicks ist alles andere als allgemeingültig – Soulmusik entstand von Anfang an im regen Austausch zwischen Farbigen und Weißen. Vor allem die Studiomusiker in Memphis bei Stax oder in Muscle Shoals waren zumeist weiße oder gemischte Bands. Die entwickelten einen rauhen und direkten Sound, der den Soul vom geschliffenen Pop abhob.
Von Atlantic Records mit seinem Produzenten Jerry Wechsler und Stars wie Ray Charles, Solomon Burke, Wilson Pickett, Aretha Franklin und Sam & Dave über Stax in Memphis mit Otis Redding, Booker T & The MGs, Rufus Thomas, Isaak Hayes bis zu den Studios in Muscle Shoals geht die breite Darstellung. Und unabhängig dazu darf natürlich ein Kapitel zu James Brown nicht fehlen, der mit seiner Musik quasi einen Sonderstatus einnahm, der fast im Alleingang den Soul hin zum rhythmischen Funk fortentwickelte.
Neben der Musik beleuchtet Guralnick auch die wirtschaftliche Seite der Musikproduktion. Und hier kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ausgebuffte Geschäftsleute wie Jerry Wechsler die „Hinterwäldler“ immer wieder über den Tisch zogen. Beispiel dafür ist etwa das Vertriebsabkommen, dass Stax mit Atlantic Records geschlossen hatte. Als das ausgelaufen war, besaß Atlantic den kompletten bislang auf Stax veröffentlichten Katalog inklusive der Masterbänder.
Guralnicks Buch ist heute wahrscheinlich ebenso provokant wie in den 80er Jahren. Gerade in einer Zeit, wo kulturelle Idenditäten immer wieder in der Debatte betont werden, ist eine These äußerst ärgerlich, die behauptet, dass Soul – die „klassische“ Musik der Bürgerrechtsbewegung – von Anfang an keine schwarze Angelegenheit war. Für mich ist aber gerade diese schlüssige Beobachtung ein Hoffnungszeichen: Ebenso ging es auch bei der Entstehung des Blues zu. Fahrende Musiker egal welcher Hautfarbe trafen sich und spielten zusammen. Trennungen zwischen den einzelnen Stilen erfolgten erst später und waren zunächst nicht wirklich überzeugend.
Was einem Buch wie „Sweet Soul Music“ heute fehlt, wäre der Versuch, ähnliche Gespräche mit Musikern und Produzenten von heute zu führen, die dieser klassischen Musikform neues und aktuelles Leben einhauchen und heute wie damals bewusst neben dem Mainstream-Markt agieren.