In den 60er Jahren hatte Marion James mit ihrer Debütsingle „That‘s My Man“ einen Top-Ten-Hit. Kurz vorher gehörten Jimi Hendrix und Billy Cox zu ihrer Band. Heute nennt sie sich „Blues Queen of Nashville“. Mit „Northside Soul“ veröffentlicht James jetzt ein Album zwischen Soulblues, New-Orleans-R&B und Jazz.
Aus europäischer Perspektive kann man die Lebendigkeit des Soulblues und Southern Soul über die Jahrzehnte in den Südstaaten der USA kaum verstehen. Abseits der Medienaufmerksamkeit und der Hitparaden-Zahlen wird der Blues der späten 50er Jahre von Musikern live dargeboten und findet noch immer ein begeistertes Publikum. Wobei – und hier kommt der Musikologe durch – dieser Blues auch als Soul bezeichnet werden könnte. Aber wenn man anfängt zu hören, dann ist das völlig gleichgültig. Es geht um Musik, die aus vollem Herzen dargeboten wird und auf dein Herz und deine Füße zielt. Eines der Zentren dieser Musik liegt spätestens seit den 50er Jahren im Umfeld der Jefferson Street der Country-Metropole Nashville. Heute ist das leider nur noch wenigen bekannt. Nashville ist für viele zum Synonym für Country-Musik geworden. Und selbst in den offiziellen Seiten der Stadt spielen Blues und Soul im Bereich der Kultur in der Stadt neben Country und christlicher Popmusik keine wirkliche Rolle. Doch in den 60ern war die Gegend in der Nähe der zwei schwarzen Universitäten Tennessee State und Fisk mit ihren vielen Clubs der Platz, wo Ray Charles, James Brown, Little Richart, Otis Redding und Etta James regelmäßig auftraten. Und als Jimi Hendrix von der Armee entlassen wurde, war genau hier der Ort, an dem er seine Karriere als Musiker starten wollte. Eine der vielen Band-Stationen seiner Karrierefrühzeit war bei Marion James, die zu den Pionieren des Rhythm & Blues in der Stadt gehörte mit Zeitgenossen wie Joe Tex, Earl Gaines oder Roscoe Shelton. – Wie lange Hendrix und Cox bei ihr blieben, weiß ich nicht. Sie selbst verweist nur knapp darauf, das Jimi wohl zu keinem der Auftritte pünktlich erschien. Und so wird das Kapitel Marion James/Jimi Hendrix ähnlich kurz gewesen sein wie bei sämtlichen anderen seiner damaligen Engagements. Auf jeden Fall dürfte diese Episode vor dem großen Hitparaden-Erfolg von James gelegen haben. 1966 war es, als bei Excello ihre Debütsingle „That‘s My Man“ erschien und bis in die Top Ten bei Billboard kletterte. Spätere Hitparadenerfolge blieben für sie zwar aus. Doch als Blues- und Soulsängerin war sie seither (bis auf eine lange Pause in den 80ern) aktiv. Vor allem seit sie Anfang der 90er Jahre „Marion James & The Hypnotics“ veröffentlichte, ist sie eigentlich ständig auf Tournee nicht nur in den USA sondern auch im Rest der Welt. Allerdings kam erst 2011 mit „Essence“ ein Nachfolgealbum in die Läden. Weltweit wurde es von Ellersoul vertrieben und in der Szene bekannt gemacht. Und jetzt folgt beim gleichen Label mit „Northside Soul“ quasi die Fortsetzung dazu.
Heute habe der Blues eine Menge von seinem ursprünglichen Feeling verloren, meint Marion James. In den 60er Jahren seien die Stücke „sweeter“ gewesen und tiefergehende Geschichten erzählt. Wenn man sich die Alben zahlreicher aktueller Bluesrocker heute anhört, dann kann man diese Meinung sofort unterschreiben. Jedenfalls dann, wenn man selbst auch Wert auf diese niemals wirklich mit Worten zu beschreibende Ehrlichkeit legt, die einen guten Blues ausmacht. Und das ist genau der Punkt, der der altgedienten Sängerin auch heute noch wichtig ist: Geschichten in Liedern zu erzählen, die man im Kern selbst erlebt hat, mit denen man seine Zuhörer innerlich und äußerlich bewegen will.
Vielleicht ist es genau auch das, was die Faszination eines Albums wie „Northside Soul“ ausmacht, das Marion James mit Bassist/Produzent Tod Ellsworth auf der „Northside“ von Richmond eingespielt hat: Hier sind Lieder, die einen in ihrer Direktheit und Persönlichkeit sofort ergreifen. Hier braucht es keine ausgefeilten Produktionen, keine instrumentalen Höchstleistungen. Hier braucht es allein diese Sängerin und ihre Geschichten. Sofort fühlt man sich um Jahrzehnte zurück versetzt in eine Zeit, wo Blues und Soul zusammengehörten, wo Rhythm & Blues noch die musikalische Alltagssprache war und nicht eine Musik für Spezialisten und Fans. Da ist kein gewolltes „Retro“-Feeling produziert worden, um einen altertümlichen Sound neu zu erschaffen. Hier ist diese Musik noch so lebendig wie 1966. Eben weil es die Sprache und die Seele von Marion James ist.
Ob sie predigt mit der Inbrunst der Südstaatenkirchen in „Corrupted World“ oder einfach davon erzählt, wie ihr schon wieder mal das Herz bricht („Crusshing My Heart“): Es sind ihre Geschichten. Und sie sind nicht von gestern, sondern wenn sie sie singt, dann passieren sie genau hier und jetzt. Und auch wenn sie ein paar Klassiker zwischen „I Just Want To Make Love To You“ und „Next Time You See Me“ zwischen ihre eigenen Lieder schiebt, dann ist das mehr als Crowdpleasing. Denn auch diese Lieder macht sie sich mit der Ehrlichkeit ihres Gesanges ganz zu eigen. Da verschwindet der Macho-Ton von Muddy Waters und das Lied wird in einer Art interpretiert, die eher an Etta James erinnert. (Man kann gut verstehen, warum Marion Etta neben Ella Fitzgerald und Big Maybelle zu ihren größten Vorbildern zählt. Gerade von ihnen hätte sie gelernt, dieses „Blues-Feeling“ zu begreifen und mit der Stimme auszudrücken.) Hinzu kommt dann noch ein lässiger Funk-Groove und Zitate aus Songs von James Brown, den man bei diesem Song sonst eher nicht erwartet hätte.
Wobei es solche Details sind, die Marion James und ihre Studioband auszeichnen und die „Northside Soul“ auch für Anhänger der aktuellen Classic-/Retro-Soul-Szene empfehlenswert machen. Je nach Lied wird ein ganz eigener musikalischer Kosmos erschaffen. Das kann der traditionelle Bluessound mit Gitarre und Bluesharp sein, eine New-Orleans-Jazz-Atmosphäre oder der Gospelsound in der Kirche um die Ecke.
Begleitet wird Marion James auf „Northside Soul“ von einer Band, die (bis auf Bassist Ellsworth) aus der Region stammen. Und all die sollten – so das Mantra des Produzenten – das Feeling des Blues transportieren und nicht eine technische Perfektion, die niemals wirklich in einer lebendigen Produktion zu erreichen ist. Wenn es ab und zu in der Begleitung ein paar kleinere Ecken und Kanten gibt – genau die machen klar, dass es nicht um ein weiteres stromlinienförmiges Produkt für den Massenmarkt geht sondern um ein Blues-Album im Sinne der Künstlerin. Ein Album mit jeder Menge Gefühl, mit Geschchten aus dem Leben. Und mit der Kraft, einen Hörer aus dem Stuhl zu reißen.