Predigt vom 12. August 2007 im "Kontorkeller am Markt"

Text: Lukas 19, 1-10

 

Ihr Lieben,

Ich werde Barbra Streisand verklagen. Echt mal, sie ist Schuld daran, dass ich seit meiner Kindheit der festen Überzeugung bin, die Liebe käme selbst zu einem absoluten Langweiler mit der Gewalt eines zerstörerischenTornados – um im ewigen Glück zu enden. Ein netter Augenaufschlag, wir sollten aufhören uns auf diese Weise zu treffen, dann bricht nicht nur das Regal zusammen sondern auch die Hälfte von San Francisco mitsamt Daddys Gerichtssaal. Und am Ende: „Lieben heißt, niemals um Entschuldigung zu bitten.“

Prima das. Langweiler bin ich sowieso, also müsste ja auch irgendwann bei mir die Liebe anklopfen. Doch selbst als ich vor Jahren eine karierte Reisetasche besaß: nothing, nada, niente! Sie hat gelogen!

Filme können ganz schönen Schaden anrichten bei Kindern, die ansonsten von Liebe und ähnlichen Gefühlen noch keine Ahnung haben. Ich weiß nicht, wer „Is was Doc?“ aus den 70ern kennt – das war einer der ersten nicht speziell für Kinder gemachten Filme, die ich jemals im Kino sah. Eigentlich ein Film über karierte Reisetaschen. Aber daneben: Die Geschichte, wie eine Frau das komplette Chaos verursacht, um den Mann zu retten von seiner langweiligen Existenz und der extrem nervigen Verlobten. Welch ein Traum, gerettet zu werden, ohne was dafür tun zu müssen.

Doch das funktioniert leider nur im Film. Ich war für die Mädchen zu langweilig. Kein harmloses: Is was, Doc? zu hören. Wandertag. Der langweilige Spinner hat keine Chance! Verwirrung meinerseits durch lange Schul- und Studienjahre. Schönen Dank, Barbra!

Wie so ein Leben extremen Außenseiters wirklich gerettet werden kann, schreibt Lukas im 19. Kapitel.

Lk 19, 1-10

19,1 Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch.

19,2 Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich.

19,3 Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt.

19,4 Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen.

19,5 Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muß heute in deinem Haus einkehren.

19,6 Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.

19,7 Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.

19,8 Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.

19,9 Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn.

19,10 Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Was die Geschichte für einen Tiefgang hat! Es geht hier um Gnade, es geht um die Vorsehung Gottes. Es geht um Minderwertigkeitskomplexe und Lieblosigkeit, um Wiedergutmachung, um Sehnsucht und die komplette

Runderneuerung eines menschlichen Lebens. Genug Stoff für einen abendfüllenden Spielfilm.

In einer der Hauptrollen natürlich Jesus, der Sohn Gottes, der damals gerade auf dem Höhepunkt seiner Popularität stand. Er war ein Mann, den man gesehen und möglichst auch gehört haben musste. Über ihn kursierten die unglaublichsten Geschichten. Als er Zachäus begegnete, befand er sich gerade auf dem Weg nach Jerusalem – das Passahfest stand bevor und viele 1000 Juden waren auf der Reise in die Hauptstadt, wo sie miteinander das große Fest feiern wollten. Es herrschte Kirchentagsstimmung. Was allerdings nur der innere Kreis der Jünger wusste: Jesus ging nach Jerusalem, um dort zu sterben. Er hatte ihnen seinen Tod bereits angekündigt.

Man kann sich leicht vorstellen, dass ihn diese Aussicht stark beschäftigt hat. Ich meine, wie würde es Ihnen gehen, wenn Sie wüssten, dass Sie nur noch wenige Tage zu leben haben und dann ein qualvoller Tod auf Sie wartet?

Mich würde das ganz schön beschäftigen. Vermutlich würde ich mir eine Liste von all dem machen, was ich vor meinem Tod noch erledigen möchte. Und da stünden nur noch die wirklich wichtigen Dinge drauf. Die Zeit wäre zu

kostbar für irgendwelchen alltäglichen Kleinkram. Ich würde am liebsten nur noch mit den Menschen zusammen sein wollen, die mir wirklich am Herzen liegen. Von dieser Perspektive aus betrachtet, gewinnt das, was Jesus vor seinem Gang ans Kreuz noch gesagt und getan hat, ein großes Gewicht.

Bei Lukas erfahren wir, dass es in dieser Zeit noch zwei wichtige Begegnungen mit Menschen gegeben hat, und beide waren soziale Außenseiter. Das eine war ein Blinder, der vor den Mauern Jerichos saß und so laut hinter Jesus herbrüllte, dass man versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen. Er war den Leuten peinlich und schien viel zu unwichtig zu sein, um den berühmten Meister zu belästigen. Aber Jesus hatte für ihn Zeit. Er machte ihn sehend. Und der andere, dem er noch begegnet ist, wartete in der Stadt auf ihn – es war Zachäus, der Oberzöllner, um den es heute gehen soll.

Sein Name bedeutet übrigens soviel wie "Der Reine" oder "Der Rechtschaffende". Aber das war er ganz und gar nicht, wie er ja selbst zugibt. Natürlich hat das alles seine Geschichte, und wir brauchen nicht viel Phantasie, um uns seinen Werdegang auszumalen. Wir wissen von ihm, dass er außergewöhnlich klein war – im Spielfilm würde ich diese Rolle mit Danny deVito besetzen – und man kann sich leicht vorstellen, wie seine Kindheit und Jugend verlaufen ist. Immer war er der Kleinste, immer war er der Schwächste, immer war er der Außenseiter, der über den sich alle lustig machen, der, der im Sportunterricht immer als Letzter in die Mannschaft gewählt wird, und das auch nur unter Protest. Ständig war er das Opfer dummer Sprüche und mieser Streiche.

So was frisst an der Seele. Wie soll denn jemand, der ständig zu kurz kommt, weil er zu kurz geraten ist, ein vernünftiges Selbstwertgefühl aufbauen? Es ist unglaublich schwer, sich selbst anzunehmen, wenn man ständig gemobbt wird. Es ist unglaublich schwer zu glauben, dass Gott ein guter Gott ist, der einen so gewollt hat, wie man ist, wenn einem die Umwelt ständig signalisiert, dass man in ihren Augen eher ein Unglücksfall der Natur ist.

Er flüchtet sich in die Arbeit, macht sein Abi mit 1, studiert Finanzwirtschaft und legt eine steile Karriere hin. Er will es allen zeigen. Schon als junger Mann wird er Zolleinnehmer in einer der reichsten Städte des Landes. Das war eine klare Entscheidung. Wer Zöllner wurde, wählte das Geld und zugleich das soziale Abseits, denn mit dem wollte keiner mehr etwas zu tun haben. Wer Zöllner wurde, arbeitete mit dem Feind zusammen, mit den Römern, mit der verhassten Besatzungsmacht, und saß damit automatisch zwischen allen Stühlen.

Aber was hatte Zachäus denn zu verlieren? Er hat ja sowieso nie wirklich dazugehört. Dann konnte er ebenso gut auch Zöllner werden – am besten sogar Oberzöllner. An ihm kam keiner vorbei. Wer in der Stadt Handel treiben

wollte, musste sich mit ihm gut stellen. Ohne Schmiergeld lief da gar nichts. Es machte ihn nicht wirklich beliebt, aber ziemlich reich, und alle waren vordergründig freundlich zu ihm.

Zachäus hatte vermutlich alles, was zum Leben eines Reichen dazugehörte.Nur seiner Seele ging es schlechter und schlechter. Wenn man "Herr Ehrlich" heißt und gleichzeitig einer der größten Gauner der Stadt ist, dann spürt man ständig, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Wenn man genau weiß, dass die Freundlichkeit der Leute nicht viel wert ist und dass die wenigen Freunde, die man hat, wohl eher am Geld interessiert sind, als an einem selber, dann fehlt da was im Leben. Man kann sich hundertmal sagen, dass man es allen gezeigt hat – aber die alten Wunden schmerzen noch immer und das Minderwertigkeitsgefühl will einfach nicht aufhören.

Und plötzlich heißt es "Jesus kommt in unsere Stadt". Er soll der Messias sein, heißt es. Zachäus will ihn unbedingt sehen, er weiß selbst nicht so genau, warum eigentlich. Aber er kommt nicht durch. Die Leute lassen ihn nicht vorbei. Im Gegenteil, etliche nutzen die Gunst der Stunde, um ihm im Gedränge "ganz aus Versehen" ein paar ordentliche Rippenstöße zu verpassen. Das ist leider bis heute so, dass für manche, die zu Jesus kommen wollen, andere Menschen der größte Hinderungsgrund sind.

Aber Zachäus gibt nicht so schnell auf. Er klettert auf einen Baum. Das muss ein witziger Anblick gewesen sein – der Herr Oberzöllner steht Anzug und mit Krawatte auf einem Ast und hält Ausschau. Wenn nicht alle so gespannt auf Jesus gewartet hätten, hätten sie ihn bestimmt ausgelacht. Dann kommt Jesus um die Ecke. Aus irgendeinem Grund muss Zachäus plötzlich an ein Streitgespräch denken, dass er vor kurzem mit einem seiner Kunden gehabt hat. Der hat sich über den hohen Zoll geärgert und gerufen "warte nur, wenn der Messias kommt, dann seid ihr die ersten, die er aus dem Land fegt!". Unbehaglich versteckt sich Zachäus zwischen den Blättern des Baumes.

Und plötzlich passiert das Unfassbare. Jesus bleibt mitten unter dem Baum stehen, sieht nach oben – alle folgen seinen Blicken, die ganze Stadt starrt den Oberzöllner auf dem Baum an – und dann sagt er: "Zachäus, steig herunter, ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein". Unfassbar. Woher kennt der ihn mit Namen? Was hat man ihm von ihm erzählt – und Moment, hat er richtig gehört? Jesus will sein Gast sein?

Übrigens sagt Jesus genau genommen noch viel mehr als dass er gerne sein Gast sein möchte. Er sagt: "Ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein". Das ist ein unglaublich gewichtiges Wort. Diesen Ausdruck benutzt Jesus

sonst nur bei zentralen Punkten der Heilsgeschichte. Jesus muss leiden. Die Schrift muss erfüllt werden. Dieses und jenes muss geschehen, bevor das Ende kommt.

Kaum zu fassen, dass der kleine Zachäus in diesen Zusammenhang mit hinein gehört. Bevor Jesus nach Jerusalem ans Kreuz gehen kann, muss er zuvor zu Zachäus gehen. Warum? Warum ausgerechnet er? Womit hat er das verdient? Die Frage bleibt offen. Es ist Gnade. Jesus wendet sich diesem einen Menschen liebevoll zu, er sieht ihn an und nennt ihn beim Namen. Das ist Gnade. Du bist gemeint. Womit habe ich das verdient, dass Jesus seine Hand auf mein Leben gelegt hat, dass er mich in seine Nachfolge gerufen hat? Womit habe ich das verdient? Ich weiß es nicht.

Zachäus weiß es auch nicht, und nach menschlichem Ermessen hat es auch nicht verdient. Darauf weist die Menge dann ja auch unmissverständlich hin. Die Leute sind sauer. Ausgerechnet diesem Kerl, diesem stadtbekannten

Halsabschneider wird die Ehre erwiesen – das kann doch nicht richtig sein! Jesus lässt das geplante Staatsbankett sausen, redet nicht mal mit dem Bürgermeister und den Stadträten, die ihn auf dem Marktplatz erwarten, sondern geht zu diesem Blutsauger ins Haus, ein Skandal ist das! Ungerecht ist das!

Und genau das ist Gnade. Zutiefst ungerecht. Gnade schenkt uns, was wir nicht verdient haben und erspart uns, was wir verdient hätten. Strafe zum Beispiel. Gnade ist unverfügbar, man kann sie in keiner Weise einklagen. Es gibt kein Recht auf Gnade, das wäre ein Widerspruch in sich. Zachäus hatte kein Recht auf diese Gnade, er hat sie nicht verdient, er hatte ja nicht einmal darum gebeten. Aber trotzdem wendet Jesus sich ihm zu. Fertig.

Und so steigt Zachäus so schnell er kann vom Baum herunter und tut zum ersten Mal seit langer Zeit etwas, das für ihn völlig untypisch ist: er beschenkt andere, anstatt sie auszuplündern. Er bewirtet Jesus und seine Freunde. Und indem er das tut, bekommt die Festung, die ihn bislang gefangen gehalten hat, einen tiefen Riss.

Der Name dieser Festung lautet: "Gott Mammon". Jesus benutzt dieses Wort zuweilen, wenn er mit den Menschen über die Macht spricht, die hinter dem Geld lauert. "Mammon" ist nicht einfach ein anderer Name für Geld, sondern

es ist eine Macht, die hinter dem Geld steht und versucht, Menschen in ihren Einflussbereich zu bekommen. Jesus sagt: "Ihr müsst euch entscheiden. Ihr könnt nur einem von beiden dienen – entweder Gott oder dem Mammon". Beides zusammen geht nicht. Wer Gott dient, der lebt in einer Welt, die von Empfangen und Verschenken geprägt ist. Du empfängst Dinge von Gott und gibst sie an Menschen weiter. Das ist das Grundgefühl deines Lebens. Du weißt: Gott ist dein Versorger und der gibt dir was du brauchst. Wenn du Mammon dienst, dann sieht das Leben etwas anders aus. Dann lauten die Grundpfeiler "Verdienen" und "Besitzen". Im Reich des Mammons gilt der Grundsatz: "Mir schenkt auch keiner was – jeder ist sich selbst der Nächste". Wer Mammon dient, der sucht seine Sicherheit nicht in Gott, sondern im Geld. Das aber kann nicht funktionieren, weil Geld keine letzte Sicherheit geben kann. Folglich ist das Leben im Reich Mammons mit einer tiefen Angst verbunden. Angst, dass das Geld nicht reichen könnte, Angst, dass Diebe kommen, die das Geld stehlen. Und es gibt im Reich des Mammons kein "genug". Wer dem Mammon richtig verfallen ist, der bekommt den Hals nicht voll. Für jeden Wunsch, den man sich erfüllt, wachsen drei neue nach. Doch da wo ein Mensch etwas verschenkt, beginnt die Macht des Mammons zu schwinden.

Bei Zachäus jedenfalls ist es so, als wäre durch das Geben plötzlich frische Luft in sein muffiges Gefängnis gekommen und plötzlich weiß er, was zu tun ist. Er springt auf und nimmt Abschied von seinem Reichtum. Die Hälfte gibt er den Armen, zudem will er noch vierfach zurück zahlen, wo er betrogen hat – sein Haus wird er vermutlich verkaufen müssen. Da wird unter dem Strich nicht mehr viel für ihn übrig bleiben.

Und hier sehen wir, wie Gnade funktioniert. Echte Gnade verändert den Empfänger. Zachäus kommt gar nicht auf die Idee, Jesu Besuch bei ihm als Bestätigung seiner Taten zu werten. Hätte ja theoretisch passieren können, dass er sagt: "Naja, wenn der Messias zu mir zum Essen kommt, dann kann ich ja gar nicht so schlecht sein. Am besten, ich mache weiter wie bisher". Sondern weil Jesus ihm das geschenkt hat, wonach sich Zachäus sein Leben lang gesehnt hat, liebevolle Zuwendung, unbedingte Liebe, da findet er plötzlich die Kraft, aus seinem Gefängnis auszubrechen.

Gnade heißt: "Du bist in Liebe so angenommen wie du bist – und darum musst du nicht so bleiben wie du bist". Es ist hoffentlich klar geworden: Zachäus handelt hier nicht so, weil er Angst vor Strafe hätte. Er will sich auch nicht den Himmel für einen hohen Preis erkaufen. Sondern hier ist jemand durch Gottes Gnade heil geworden, der bis in die Tiefen seiner Seele hinein krank gewesen ist. Krank durch unzählige Verletzungen, krank durch Minderwertigkeitsgefühle, krank durch Lieblosigkeiten, krank durch unzählige Betrügereien, die sein Gewissenabgestumpft haben, krank durch Mammon. Und das hat Jesus wieder in Ordnung gebracht. Das musste noch sein, bevor er ans Kreuz gehen konnte.

Dieser verkorkste Mensch war ihm wichtig. Und diese Botschaft war ihm wichtig: es gibt bei Gott keine hoffnungslosen Fälle. Seine Gnade reicht aus – auch für dich und für mich.

Amen.