Gebet und Selbstdarstellung – Predigt über Lukas 18,9-14 am 15. August 2010

Ihr Lieben,
letztens war ich so geschockt, dass ich nichts mehr zu sagen wusste. Inge war mal wieder in der Stadt und schaute bei uns im Internetcafé vorbei. Und dann erzählte er. Von seiner langen Krankheit – ein Zusammenbruch wegen permanenter Überlastung. Und dann davon, dass er aus der Kirche ausgetreten ist.
Wie bitte? Hab ich richtig gehört?

Er habe sich über die Kirche geärgert, speziell über die neue Pfarrerin. Er fühlte sich in seinen Predigten nur noch als nützlicher Lückenbüßer und nicht als Mitarbeiter. Und damit konnte und wollte er sich nicht mehr abfinden. Glatter Schnitt.

„Jetzt hat er seine Glaubwürdigkeit komplett eingebüßt", meinte einer spontan. Ich hab nix gesagt. Ich war geschockt und betroffen. Denn wie kommt es zu so einer radikalen Entscheidung, dass einer alles als Dreck erachtet, was ihm jahrzehntelang wichtig war?

Denn davon gehe ich aus. So gut kenne ich ihn. Es ist zu einfach zu behaupten: Das war alles Mist, was er uns in den ganzen Jahren hier gepredigt hat. Nein, wer so redet, macht es sich zu einfach. Der schiebt jemanden einfach in ne Ecke und steht selbst prima da. Wie der Pharisäer in der Geschichte, die ich schon vor der Begegnung als Predigttext rausgesucht hatte:

Lukas 18, 9 – 14
(9) Er sprach aber auch zu einigen, die auf sich selbst vertrauten, daß sie gerecht seien, und die übrigen für nichts achteten, dieses Gleichnis:
(10) Zwei Menschen gingen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer und der andere ein Zöllner.
(11) Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: O Gott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie die übrigen der Menschen: Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.
(12) Ich faste zweimal in der Woche, ich verzehnte alles, was ich erwerbe.
(13) Und der Zöllner stand von fern und wollte sogar die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!
(14) Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus im Gegensatz zu jenem; denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer aber sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.

Es gibt Gleichnisse mit denen wird man nie fertig. Sie sind schwer zu verstehen.
Das Pharisäer Sünder Gleichnis zählt nicht dazu. Die Pointe scheint simpel.
Hier Böse – da gut!
Sei nicht selbstgerecht wie der Pharisäer. Mach es wie der Zöllner, dann bist du vor Gott recht.

Aber da geht's schon los mit der Schwierigkeit. Denn wenn man so redet, dann ist der Pharisäer der Böse.
Und das ist er eigentlich nicht. Für uns ist – wenn wir nicht nur an das nette Getränk in Friesland denken – der Pharisäer immer einer, der selbstgerecht und heuchlerisch ist. Aber Pharisäer waren fromme Leute. Leute, denen es wichtig war, ihren Glauben an jedem Tag ganz bewusst zu leben. Menschen, die die Bibel nicht nur im Regal sondern immer griffbereit haben und auch wirklich darin lesen. Menschen, die beten, die ihr Leben und ihren Besitz als von Gott geschenkt ansehen. Und die daher auch immer anderen abgeben. Die zehn Gebote: Das reicht nicht aus in ihrem Blick. Die ganzen Regeln der Bibel sind ihnen Richtschnur. Und sie betrachten ihren Glauben nicht als Privatangelegenheit für das stille Kämmerlein. Nein: Jeder soll es sehen: Mir ist Gott wichtig. Mir ist der Glaube wichtig. Gott ist der Begleiter vom Aufstehen bis zum Schlafengehen.

Nein: Der Pharisäer ist eigentlich ein Vorbild für uns. Eigentliich. Aber…

Und dann die andere Person, der Zöllner. Wir betrachten ihn viel zu schnell als Vorbild. Doch eigentlich ist das ein abschreckendes Beispiel: Korrupt, geldgierig, ein Gauner und Schlitzohr, der jeden Trick anwendet, um Profit zu erziehlen. Jeder muss sehen wo er bleibt. Das tut der Zöllner. Er verdient Geld für seine Familie. Ist das etwa verwerflich? Klar er ist Teil eines korrupten Systems, aber kann er etwas dran ändern? Wenn er diesen Job nicht macht, dann macht es eben ein anderer. Warum soll er denn verzichten, wo es ihm doch dabei ganz gut geht.

Gut, Zöllner sind nun mal so. Aber soll solch ein Leben mir zum Vorbild dienen? Das kann doch eigentlich wirklich kein Vorbild sein. Aber…

An dem Aber entscheidet sich das. Und das aber ist: Wie trete ich eigentlich Gott gegenüber? Wie ist meine Beziehung zu Gott?

Diese beiden Menschen gehen zum Tempel. Beide haben dasselbe Anliegen: Sie wollen dem lebendigen Gott begegnen. Der Pharisäer kennt sich im Tempel gut aus. Er ist regelmäßig hier. Deshalb ist er gleich am richtigen Platz und betet los.

Aber wer stört da seine Andacht? Da läuft doch einer rum. Deshalb kann sich der Pharisäer so schwer aufs Gebet konzentrieren. Typisch Zöllner, wie soll sich so einer hier auskennen. Das der sich überhaupt hierher wagt? Der Pharisäer betet weiter: Gott ich danke dir, dass ich anders bin.

Eigentlich ein schöner Gebetsanfang: Ich danke dir, Gott. Es ist nicht selbstverständlich, dass ich mit meinem Leben eigentlich zufrieden sein kann. Du Gott hast mich davor bewahrt vor Unheil, du Gott hilfst mir – danke! Selbstbewusst kann er aufzählen, was er schafft in seinem Glaubensleben im Alltag. All die Dinge, die so gar nicht selbstverständlich sind – wer schafft es schon wirklich, jeden Tag von früh bis spät so zu leben, wie es die Bibel verlangt? Ein Grund zur Dankbarkeit ist das. Aber nicht mehr. Und hier kommt der Knackpunkt: Er nutzt das Gebet nur zur Selbstdarstellung. Er will nicht wirklich hören, ob Gott ihm etwas sagen will. Er glaubt: alles ist in Ordnung, der Platz im Himmel ist gebucht. Es kann gar nichts mehr passieren. So wie es jetzt ist, ist alles prima und geregelt.

Welch ein Irrtum! Er ist blind und taub geworden für Gott in seinem Perfektionswahn. Er bekommt gar nicht mehr mit, dass Glauben sich immer wieder neu bewähren muss. Dass man jeden Tag neu entscheiden muss, was Gott jetzt und hier von mir will. Über seine eigene Frömmigkeit stolpert der Pharisäer. Eine tragische Figur.

Wenn aber der Zöllner uns in einem ein Vorbild sein kann, dann damit, dass er wirklich mit Gottes Reaktion rechnet auf sein Gebet. Er weiß, wo er überall Mist gebaut hat, wo er gescheitert ist in seinem Leben. Er weiß, dass er nach menschlichem Ermessen an Gott überhaupt keine Ansprüche stellen kann. Und daher geht er nicht nach vorn, steht nicht erhobenen Hauptes in der ersten Reihe. Sondern senkt den Kopf, bleibt in der hintersten Ecke: Und sein Gebet ist kurz, fünf Worte müssen genügen:

Gott sei mir Sünder gnädig.

Und doch kommt dieses Gebet an. Der Zöllner ging anders aus den Tempel.

In ihm ist Gewissheit: Auch für mich gibt es die Chance mit Gott zum Frieden zu finden. Wenn es Gott gibt, wenn die Verheißungen der Bibel glaubwürdig sind, dann schreibt Gott mich nicht ab. Ich hab nichts anzubieten – doch Gott kann mich doch hören. Er kann mir eine Chance geben, da wo mich die anderen und oft ich selbst mich abgeschrieben haben.
Das ist der eine Punkt, wo der Zöllner uns Vorbild sein kann. Der einzige Punkt – aber der entscheidende, wenn es um mein Verhältnis zu Gott geht: Ich kann ernsthaft nichts anbieten, wenn ich mich im Lichte Gottes betrachte. Ich bin auf Gnade angewiesen.

Das heißt aber nicht, dass ich mir ansonsten den Zöllner irgendwie zum Vorbild nehmen dürfte. Damit würde ich nämlich Gott verspotten: Um Gnade bitten, und hinterher genauso weitermachen: Das wäre das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann. Das geht dann ungefähr in die Richtung, die Nietzsche mal so böse zusammengefasst hat: Wer sich selbst erniedrigt, der will erhöht werden.

Das Gleichnis von Pharisäer und Sünder ist simpel. Aber es ist schwer, damit umzugehen. Es ist immer einfacher zu sagen: Die da sind schlecht. Ich versuch‘s ja wenigstens. Bin ich nicht besser?
Denn es tut weh, sich und anderen einzugestehen: Alles Mist, was ich bislang in Glaubenssachen versucht hab. Hilf mir. Das ist schwer, denn eigentlich wollen wir ja immer was selbst schaffen. Hilf mir, sei mir gnädig!
Amen