Es ist eine überflüssig müßige Forscherdiskussion, aber sie hat bis heute bestand: Ist das Werk „Utopia“ von Thomas Morus ernst gemeint, oder nicht? Fest steht, dass dieses Buch Begründer eines neuen Genres und dessen Titel Namensgeber derselben wurde. Das Wort „Utopia“ ist ein Neologismus des Autors und bedeutet soviel wie „Nicht-Ort“. Damit ist die Arena für die unsinnige Diskussion über Ernsthaftigkeit oder nicht schon mal bereitet.

So weisen alle danach erschienenen literarischen Utopien ähnliche Strukturmerkmale auf: den Mangel an Fluktuanz, eine eigenwillige Festlegung von Gemeinschaft und vor allem Isolation. Wie kann man gerade das letzte Merkmal besser schriftstellerisch gewährleisten als auf einer Insel. In Francis Bacons „Neu-Atlantis“ haben die Bewohner extra dafür gesorgt, dass die einstige Halbinsel zu einer tatsächlichen Insel durch das Abtragen von Erde wurde. Doch eine Insel, die fernab von jeglicher greifbarer Zivilisation liegt, regt das menschliche Bedürfnis nach Flucht in eine ideelle Räumlichkeit an. Sie ist als Topos imaginärer Fluchtpunkt innerer Reflexion. Ein ähnlicher literarischer Versuch ist die Hinwendung zu vergangenen Epochen oder die Fingierung einer Zukunft (siehe Jules Verne)– hier ist der Fluchtpunkt nur zeitlich konzipiert.

In dem „Atlas der abgelegenen Inseln“ der Greifswalder Autorin Jutdith Schalansky wird schon im Untertitel „Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde“ deutlich, dass die Insel, weil topographisch übersichtlich und begrenzt, den idealen Raum für spekulative Zivilisationsexperimente bietet. Dass diese Experimente auch scheiteranfällig sind bis hin zu einem extremen Grad, trägt Schalansky Rechnung, indem ihr Vorwort den Titel trägt: „Das Paradies ist eine Insel. Die Hölle auch.“ Hier heißt es auch: „Jedoch sind es gerade die schrecklichen Begebenheiten, die das größte erzählerische Potential haben und für die Inseln perfekte Handlungsort sind. Während die Absurdität der Wirklichkeit sich in der relativierenden Weite der großen Landmasse verliert, liegt sie hier offen zutage. Die Insel ist ein theatralischer Raum: Alles, was hier geschieht, verdichtet sich beinahe zwangsläufig zu Geschichten, zu Kammerspielen im Nirgendwo, zum literarischen Stoff.“

Die Konzeption des Buches folgt eben diesem Paradigma. Den fünfzig ausgewählten Inseln in fünf Ozeanen wird eine kurze Geschichte gewidmet, dessen Inhalte stark variieren. Es reicht von einer beinahe lyrisch anmuten Beschreibung der Insel mit dem Namen „Einsamkeit“ bis hin zu der brachialen Darstellung der Ereignisse auf dem Clipperton-Atoll.

Der Mehrwert des Atlanten besteht aber insbesondere in seiner haptischen Dimension. In einer Zeit, wo Berichte von Buchmessen immer wieder das Interesse der Besucher an E-Book-Readern betonen, mutet ein schön gestalteter Atlas beinahe anachronistisch an. Diese zu unrecht vernachlässigte Komponente des In-die-Hand-nehmens, des Blätterns, Vor-und-zurück-schlagens kann ein so wunderbar gestalteter Atlas weitgehend erfüllen.

Selbst die im vergangenen Sommer erschienene Taschenbuchausgabe besitzt eine liebevolle Aufmachung, die man nicht in Megabytes bemessen kann. Jeder Geschichte geht eine topographisch Illustration entsprechenden Insel voran. Während sich auf der linken Buchseite neben dem Namen die genaue geographische Lage, der Abstand zu anderen Inseln oder einem Festland und einer ganz knappen Chronik abgedruckt ist, sieht man auf der rechten Seite in einem tiefen Blau des umliegenden Meeres eingebettet die maßstabsgetreue Abbildung der Insel mit entsprechender Bezeichnung der auf ihr Befindlichen Siedlungen, Flüssen, Erhebungen usw. Es ist eine ungemeine Freude, dieses Buch in die Hand zu nehmen und imaginäre Ausflüge zu machen. Dabei handelt es sich um die so geartete Faszination wie sie der dänische Philosoph Sören Kierkegaard beschreibt, wenn er aus den eingebildeten Spaziergänge durch die Innenstadt Kopenhagens berichtet, die er in seiner Kindheit mit seinem Vater im Haus unternahm.

In der Gesamtschau hält man mit „Atlas der abgelegenen Inseln“ also ein abwechslungsreiches Vergnügen in den Händen, welches man auch mal beiseite legen kann, um später vollkommen willkürlich sich eine Insel herauszunehmen. Dass man den Atlanten auf jeden Fall wieder in die Hand nimmt, wird schon allein durch die herrliche Aufmachung garantiert.

Wikipedia Judith Schalansky

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