Jeremia 29,1-14 – Hilfen aus der Krise – 12.10.2008

Vorbemerkung. Dieser Predigtentwurf wurde von mir am 10.10. ausgedruckt. Die am 12.10. gehaltene Predigt hat dann deutlich andere Schwerpunkte, die ich jetzt aus dem Kopf gar nicht mehr alle zusammen bekomme.

Wichtige Gedanken: – und mir daher noch in Erinnerung: Es ist schwer jemandem zu helfen, wenn der eigentlich keine Hilfe haben will. Auch unbequeme Wahrheiten können nötig sein. Denn nur die Einsicht in die Fehler (auch im Glauben) führen weiter.

 

 

Ihr Lieben,

manchmal kann man richtig beobachten, wie eine für sicher gehaltene Welt zusammenbricht. Wenn man heute die Zeitungen aufschlägt, dann bekommt man Schritt für Schritt das Ende des bisherigen Finanzsystems dieser Welt mit. Es geht so weit, dass ganze Länder kurz vor dem Bankrott stehen. Und die ersten Deutschen können schon nicht mehr an ihre Konten – weil sie ihr Geld für hohe Zinsversprechen bei isländischen Banken untergebracht haben.

Aber solche Zusammenbrüche sind nicht nur in Wirtschaft oder Politik zu erleben. Auch im persönlichen Leben kommt man an Punkte, wo alles, worauf man sich verlassen hat, zerbröselt und sich in nichts auflöst.

Ein Weg mit einer Krise umzugehen andere wäre, sich immer nur an der Vergangenheit, die ach so gut war, festzuhalten. Doch man verpasst das Leben, die Zukunft, jegliche Möglichkeiten der Gegenwart, wenn man so lebt.

Vor etwa 2600 Jahren lebte ein großer Teil des Volkes Israel in dieser Gefahr. Die benachbarten Großmächte hatten das Land unter ihre Kontrolle gebracht. Und als sich der Herrscher in Jerusalem für die falsche Seite entschieden, wurde die Stadt und das Land insgesamt im Krieg zerstört. Jerusalem mit dem Tempel wurde ein Trümmerhaufen. Und die ganze Oberschicht wurde nach Babylon verschleppt.

Eine ganze Welt, ja fast auch noch der ganze Glauben eines Volkes brach zusammen. Lange hatten die Priester des Tempels in Jerusalem verkündet: Hier wohnt Gott, hier leben wir im verhießenen Land, hier sind wir sicher. Uns kann nichts passieren, weil Gott einfach hier ist. Wir sind sein Volk – egal was wir tun, er lässt uns nicht im Stich.

Und die Verschleppten wollten daran festhalten. Es kann einfach nicht von Dauer sein, dass es uns schlecht geht. Die jetzige Lage ist nur kurz. Wir brauchen uns gar nicht erst einzurichten hier im Ausland. Gott hilft uns sicher bald wieder aus unserem Elend heraus.

Festhalten an der Vergangenheit – das kann nicht gut sein, meint dagegen der Prophet Jeremia.

Im Auftrag Gottes hatte er jahrelang gegen öffentliche Anfeindungen und Strafaktionen gesagt: Gott lässt sich Euer Leben nicht gefallen. Verlasst Euch nicht blind auf den Tempel, auf Jerusalem – ansonsten steht ihr eines Tages vor einem Trümmerhaufen. Natürlich seid ihr Gottes Volk – doch zu einem Bund gehören immer zwei Seiten. Ihr könnt Euch nur auf Gott verlassen, wenn ihr Euch an die Spielregeln haltet. Und die sind nicht: fleißig Opfertiere im Tempel zu verbrennen und ansonsten zu sehen, dass man immer reicher wird – soziale Gerechtigkeit, das Suchen nach Gott, das Mitleid mit Schwächeren – das ist es, was viel wichtiger ist.

Man hat Jeremia als Verräter angeklagt, hat ihn fast umgebracht für seine Botschaft. Jeremia ist fast verzweifelt an seinem Auftrag, wollte eigentlich lieber sterben als immer wieder das sagen zu müssen, was ihm Gott sagte.

Und nach der Katastrophe, die eintrat, obwohl niemand auf den Propheten gehört hatte: da wendet er sich noch immer an sie. Nicht voller Schadenfreude, sondern voll Mitgefühl. Er war noch in Jerusalem geblieben. Und er schreibt einen Brief:

Jer 29, 1-4-7.10-14

29,1 Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte

29,2 – nachdem der König Jechonja und die Königinmutter mit den Kämmerern und Oberen in Juda und Jerusalem samt den Zimmerleuten und Schmieden aus Jerusalem weggeführt warena -,

29,3 durch Elasa, den Sohn Schafans, und Gemarja, den Sohn Hilkijas, die Zedekia, der König von Juda, nach Babel sandte zu Nebukadnezar, dem König von Babel:

29,4 So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen:

29,5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und eßt ihre Früchte;

29,6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen, und gebt eure Töchter Männern, daß sie Söhne und Töchter gebären; mehret euch dort, daß ihr nicht weniger werdet.

29,7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl.

29,8 Denn so spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Laßt euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen!

29,9 Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Ich habe sie nicht gesandt, spricht der HERR.

29,10 Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, daß ich euch wieder an diesen Ort bringe.

29,11 Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, des ihr wartet.

29,12 Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören.

29,13 Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet,

29,14 so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

Ein ganz schön langer Text – und voller Zumutungen.

Beim ersten Lesen dieses Briefes habe ich die schönen Sätze gehört: dass Gott sich finden lassen wird, wenn man ihn von ganzem Herzen sucht. Die Zumutungen habe ich erst so nach und nach mitbekommen.

Schon die erste von den Zumutungen wäre genau betrachtet, ein ausreichender Grund, den nächsten Brief, den der Herr Jeremia schicken würde, ungeöffnet wieder in den Postkasten zu werfen mit dem Vermerk "zurück an Absender". Die Empfänger damals waren Leute aus Jerusalem, die aus dieser tausendfach besungenen Stadt verschleppt worden waren, in ein Land, vor dem es ihnen immer schon gegraust hatte. Und nun schreibt Jeremia ihnen: So spricht Gott: siebzig Jahre wird eure Verschleppung dauern, dann hole ich euch zurück nach Jerusalem.

Das heißt, die meisten von denen, die schon erwachsen waren, würden in der Babylonischen Gefangenschaft sterben und auch ihre Kinder würden von ihrer Rückkehr ins gelobte Land nicht mehr viel haben. Spätestens an dieser Stelle wäre ich, wenn der Brief an mich geschrieben wäre, sauer genug, dem Absender den stilistischen Mangel nicht mehr zu verzeihen, mir das Wort weggeführt, weggeführt, weggeführt neun mal um die Ohren gehauen und mich damit an einen Punkt gebracht zu haben, an dem ich deutlichen Brechreiz verspüre.

Aber ich zähle jetzt die wiederholte Wiederholung nicht mit bei den Zumutungen, denn das eigentlich Unerträgliche ist, was Jeremia den Jerusalemern über die Wegführung sagt: ihr seid an eurer Gefangenschaft selbst schuld, nicht ein böser König namens Nebukadnezar hat euch illegal verschleppt, sondern es entspricht Gottes Plan, dass ihr euch nicht selbst aussucht, wo ihr lebt, dass ihr euer Heiligtum, den Tempel, nicht mehr zu sehen bekommt, dass ihr in Häusern auf unreinem Boden wohnen und unreine Früchte essen müsst, die auf heidnischem Boden gezüchtet wurden und in heidnischer Erde begraben werdet. Heiden sollt ihr heiraten und mit heidnischen Ehepartnern Kinder bekommen. Und suchet der heidnischen Stadt Bestes, betet für sie zum Herrn!

Das ist die massivste Zumutung. Betet für das Wohlergehen derer, deren Verwandte eure Verwandten getötet haben bei der Eroberung Jerusalems. Betet für das Wohlergehen derer, die euch zu Zwangsarbeitern gemacht und die Reisefreiheit für die nächsten 18 Legislaturperioden abgeschafft haben.

Wie mögen sich die aus Jerusalem Weggeführten, bis dahin zur Oberschicht Gehörenden, gefühlt haben, als sie durch das Ischtartor in Babylon einziehen mussten, in eine Welt, die ihnen fremd und unheimlich war? Eine Welt, in der sie glaubten, dass ihr Gott dort keine Macht hätte? Wie fühlen wir uns, wenn wir durch Türen gehen müssen, an die wir nicht geklopft haben? Krankenhaustüren, die Drehtür zum Jobcenter, den Eingang des Seniorenheims? Jeremia trägt ihnen auf, über den Schatten ihrer notdürftig mit Arroganz getarnten Angst zu springen, und sich in Babylon unters noch fremde Volk zu mischen.

Hier ist für euch eine Chance – und eine große Aufgabe. Meint Jeremia. Meint Gott. Hier ist eine Chance, ihr braucht keine Angst zu haben.

Und: Tragt keine Rachegedanken und keine falsche Nostalgie mit Euch herum. Das führt Euch nicht weiter. Sondern: Suchet der Stadt Bestes, betet für sie, denn wenn es ihnen gut geht, geht es euch auch gut.

Hier wo ihr jetzt seid, werdet ihr gebraucht. Nicht nur Euch soll es gut gehen, sondern auch den Anderen. Ihr sollt den Frieden dorthin bringen, woher der Krieg über Euch kam.

"Ich weiß wohl, was ich für Gedanken ich über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet. … Ihr werdet mich suchen und finden, denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr, und will eure Gefangenschaft wenden."

Das ist das, wofür es sich lohnt, nicht aufzugeben und auf den harten Brocken herumzukauen, die uns vom Leben in unregelmäßigen Abständen vorgesetzt werden. Darum möchte ich das Leben mit einer Komödie vergleichen: Zwischendurch ist es ziemlich haarsträubend oder sogar tief traurig, aber am Schluss wird es gut. Nicht alles wird gut. Aber das, worauf es wirklich ankommt, das geht am Ende gut aus.

Gottes Gedanken über uns haben unsere Freiheit im Sinn: das Ende aller babylonischen Gefangenschaften. Wenn wir Gott von ganzem Herzen suchen werden, wird sich das Finden nach Freiheit anfühlen. Nicht nach der Freiheit an sich, die ist sowieso nur ein Hirngespinst aus einer nicht ganz so guten Werbeagentur. Die Freiheit eines Christenmenschen ist wohl eher so, dass man mit den Füßen auf der Erde und mit dem Gesicht auf Augenhöhe mit den anderen bleibt. Dann kann man die zweite Backe auch noch hinhalten, aber vielleicht fällt uns ja noch etwas anderes ein, um neue Spielregeln in die Welt zu setzen. Natürlich beten wir nicht für unsere Verfolger, dass sie uns erfolgreicher verfolgen können, sondern, dass sie sich zum Guten ändern mögen, mit Gottes Hilfe. Das um Gottes Willen andere Spielregeln das Leben bestimmen mögen.

Eine Welt, wie sie sich Jeremia vorstellt, wo es keine Vorbehalte gegen Ehen von Menschen mit verschiedenen Nationalitäten und Hautfarben gibt, eine Welt, wo nicht der eine den anderen als Heiden beschimpft, sondern wo man erst einmal miteinander spricht und sich dann noch lange kein fertiges Urteil bildet … das wäre eine Welt, in der man Meister darin wäre, das Böse mit Gutem zu überwinden. Sich nur auf beide Wangen schlagen zu lassen, ist noch kein überwinden. Immerhin ist es ein Ausstieg aus der Gewalt- und-Gegengewalt-Spirale, eine Tür zu mehr Freiheit. Zu einer Freiheit, die mit neuen Gotteserfahrungen rechnet, wo andere lieber ihre Türen von innen zuhalten möchten.

Weil am Ende alles gut ausgeht, darum lohnt es sich, mit ungeteiltem Herzen nach Gott zu fragen und aus vollem Herzen neue Spielregeln in die Welt zu setzen, wie Jeremia das in seinem Brief versucht. Und völlig ohne Angst vor dem was kommt – und ohne falsche Nostalgie vor den zerbrochenen Träumen der Vergangenheit.