Die Bürger von Chicago, die schon von Muddy Waters‘ Blues unangenehm berührt waren, hätten sich unter den Klängen von Howlin‘ Wolfs Musik vor Verlegenheit gewunden. Denn mehr noch als Waters hielt Wolf die Erinnerung an die dunkle Seite der Stadt lebendig: an die South Side, das Ghetto der Schwarzen, die mit dem Blues des Südens aufgewachsen waren.
Es gibt immer noch einen harten Kern, der die vornehmlich weißen und britischen Bluesmusiker als Vampire ansieht, die vom Blut anderer leben. Muddy Waters hat dieses Argument einmal auf bissige Weise entkräftet: „Ehe es die Rolling Stones gab, kannte mich niemand, und es interessierte sich auch keiner für mich. Ich spielte Platten ein, die als „Race Records“ bezeichnet wurden. Wissen Sie, was die Eltern der weißen Kids gesagt hätten, die meine Platten kauften? ‚Was ist das? Stell sofort diese Negermusik aus!‘ Und dann kamen die Stones und all die anderen britischen Rockgruppen und spielten meine Musik. Und jetzt kaufen die Kids tatsächlich meine Platten und spielen sie auch.“
Howlin‘ Wolf, der selbst aus Mississsippi nach Chicago gekommen war, behielt Zeit seines Lebens den Südstaaten-Akzent und -wortschatz bei. Auch in seinen Songs benutzte er häufig Themen, manchmal den genauen Wortlaut, des Blues einer Zeit, die 20 bis 30 Jahre zurücklag. Doch man darf ihn keineswegs als Puristen sehen, der ausschließlich an Tradition und Vergangenheit festhielt. über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg ebnete er Wege, die selbst Muddy Waters nicht beschritt. Er verband die Elemente des Blues mit dem stampfenden Rock ’n‘ Roll, und das in einem Alter, in dem jeder normale Mensch an den Ruhestand denkt!
Chester Arthur Burnett, wie sein Taufname lautet, kam am 10. Juni 1910 in West Point, südlich von Tupelo, Mississippi, zur Welt. Als er 13 war, zog die Familie Richtung Westen nach Ruleville im Mississippi-Delta. Mit knapp 18 Jahren war er bereits mit Gitarre und Mundharmonika in diesem Teil des Landes unterwegs und spielte auf den Straßen oder auf Veranstaltungen in den Städten und Dörfern des Südens. Ein paar Jahre später verdient er seinen Lebensunterhalt als Landarbeiter
in Arkansas, macht aber weiterhin Musik. In den 30er Jahren begegnete er den „fahrenden Musikern“ aus der Welt des Blues wie Sonny Boy Williamson II und Robert Johnson und gesellte sich gelegentlich zu ihnen.
Wolf diente als Soldat im Zweiten Weltkrieg und kehrte nach Ende des Krieges zu seinem „Landleben“ in Arkansas zurück. 1948 hatte er seine eigene Band gegründet und Verbindungen zum Sender KWEM in West Memphis geknüpft. Er trat dort nicht nur als Musiker auf, sondern sprang auch als Diskjockey ein und machte Werbung. Schließlich wurde Sam Phillips von Sun Records aus Memphis auf ihn aufmerksam, mit dem Ergebnis, dass Wolf am Mai 1951 im Sun Studio seine ersten zwei Titel einspielte: „Moanin‘ at Midnight“ und „How Many More Years“.
Howlin‘ Wolf war fast 41 Jahre alt, als er zum ersten Mal ein Aufnahmestudio betrat. Bluesmen wie B.B. King, die zu jener Zeit Platten einspielten, waren zwischen 15 und 20 Jahre jünger und hatten kaum Interesse an und schon gar nicht die Verbundenheit mit dem Blues der 20er und 30er Jahre, der Teil von Wolfs Musik war und ist. „Saddle My Pony“, eine der frühen Chess-Singles, war bereits 20 Jahre zuvor durch Charley Patton populär geworden, den Wolf noch aus seiner Zeit in Ruleville kannte.
Wolfs Platten waren immer schon von rasanter Geschwindigkeit, doch sie drehten sich ab etwa 1959 noch schneller, als er Titel einspielte (teils eigene, teils Willie Dixons), die sich an das Tempo des Rock ’n‘ Roll hielten: „Howlin‘ for My Baby“, „Wang Dang Doodle“ oder „Shake for Me“. Die Begleitmusiker, darunter erstklassige Pianisten wie Otis Spann und Johnny Jones, legten schiere Power an den Tag.
Endlich erhielt Wolf auch die Anerkennung in den restlichen USA sowie in Europa. In den 60er und Anfang der 70er Jahre verließ er das heimatliche Chicago häufig, um auf Folk Festivals oder College-Veranstaltungen aufzutreten. Wie Muddy Waters und andere Musiker unter Vertrag bei Chess, bekam auch Wolf die sinkenden Verkaufszahlen der Singles zu spüren.
1975 war Howlin‘ Wolf ausgelaugt und krank. Anfang der 70er Jahre hatte er mehrere Herzinfarkte erlitten, und jetzt hatte der Krebs zugeschlagen. In seinem Club spielte meist nur noch die Begleitband. Zum Jahresende verschlimmerte sich sein Zustand und er wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Er starb am 10. Januar 1976.
Fünf Jahre zuvor hatte der Journalist Peter Guralnick geschrieben: „Howlin‘ Wolf passt wirklich kaum noch in unsere heutige Welt. Er hat eine zu große Persönlichkeit, um die Gunst des Publikums zu halten, und er war anscheinend nicht flexibel genug, um sich zu ändern.“ Guralnick kommentierte auch Wolfs Bühnengehabe: „Er sprang in die Luft, kugelte sich auf dem Boden, klemmte sich das Mikrophon zwischen die Beine . . . Der Wolf ist immer er selbst: vulgär, jedoch überzeugend, so wie James Brown.“