Nachstehende Erzählung wurde in eine erweiterte Ausgabe des erstmals 1916 erschienen Erzählungsbandes „Fledermäuse“ aufgenommen. Über ihre Entstehungszeit konnte ich bislang noch nichts genaues herausfinden. (R.N.)

 

Leichtfertig, wie der Mensch nun einmal ist, liest er zwar seit Generationen in der Bibel, daß Gott die Welt erschuf, indem er ein Wort aussprach, aber leider denkt sich niemand etwas dabei. Eingefleischte Lateiner behaupten, dieses Wort hätte »Fiat« gelautet. Ich will das nicht glauben; was hat der liebe Gott mit einem italienischen Automobil zu tun?! Die wegen ihrer Frömmigkeit berüchtigten tibetochinesischen Lamapriester glauben es auch nicht und beharren entgegen den christlichen Missionaren fest auf der Ansicht, die schöpferische Ursache aller Formen seien Klänge, unhörbare allerdings, da unser Ohr nicht auf sie eingestellt sei. Musik also. Streuen wir auf eine vermittels des Violinbogens in tönende Schwingung versetzte Glasplatte feinen Sand, so formt er sich zu wunderschönen geometrischen Figuren. Daß Schneeflocken, durch eine Lupe gesehen, ebenfalls solche Bilder aufzeigen, wissen wir alle, aber wer hat sich bis heute Gedanken darüber gemacht: könnte man nicht Schlüsse ziehen aus ihrer Gestaltung auf die geheimnisvolle Sphärenmusik, der sie ihr Aussehen verdanken? Wem es gelänge, diese Klänge mit der Kehle oder durch Instrumente wieder hervorzubringen, der besäße den Schlüssel zu größter Macht. Musik als Zauberstaat! –
Es gab vor Jahren einen seltsamen Menschen – einen Neger – der eine Ahnung gehabt zu haben schien, welch unheimliche magische Gewalt dem Rhythmus der Musik innewohnen kann. Er war dem Urklang auf der Spur. Dem zerstörenden freilich und nicht dem schöpferischen. Wer den Mann den Erfinder des Jazz nennt, hat wahrlich recht. Auf seiner Visitenkarte stand die phantastische Inschrift:

Prof. Dr. Mval Djumboh Cassekanari. Chevalier de l‘Ordre du Voudou Saint des Egbas. Professor der schwarzen Magie an der T‘changa Wanga Universität. Geheimrat und Quimboisseur Seiner Excellenz des Expräsidenten von Haiti, Mitglied der hauptsächlichsten westafrikanischen und westindischen wissenschaftlichen Gesellschaften etc. etc. etc.

»Professor« Cassekanari galt unter den haitischen Negerstämmen der Koromantyn, Eboe und Boppo als eingeweihter Obeanpriester eines uralten bis auf Ham, den Sohn Noahs, zurückreichenden schauderhaften Kultes, dessen Gottheit auf Erden repräsentiert wird durch die Tarantelspinne, die einen großen weißen Sack mit sich herumschleppt – den Sack, in den die weiße Rasse eingefangen werden soll, wenn die Zeit ihrem Ende zugeht. Professor Cassekanari hielt sich einen Zwergraben, Jazz genannt, aus seiner Heimat stammend: dem Kongogebiet; man sagt, manche Exemplare würden 150 und noch mehr Jahre alt. Diesem Vogel sang, grunzte und schnatterte der unheimliche Neger bis kurz vor seinem Tode Tag für Tag eine phantastische Melodie vor, die er teils mit Händeklappen begleitete, teils mit Pfiffen oder Klängen durchfurchte, wie er sie einem alten verwitterten Bockshorn, rostigen Pfannen und anderen dem Tode verfallenen Dingen zu entlocken verstand. – »Nur ein geflügeltes Tier wird meine Musik andächtig im Herzen bewahren«, pflegte er zu sagen, wenn man ihn nach Zücken eines Trinkgeldes fragte, wozu das alles gut sei: »Die Menschen sind zu treulos und vergeßlich, denn ihre Gedanken wandern beständig.« In solchen Fällen tat er gewöhnlich ein übriges und gab dem Vogel ein Zeichen, worauf dieser zuerst vor den unglücklichen Zuhörern eine tiefe, nicht mißzuverstehend höhnische Verbeugung machte, sich sodann in seinem schwarzen Frack stolz aufrichtete wie ein Konzertsänger und durch gewissenhaft genaue Wiedergabe der eingelernten Hymne das Auditorium in wilde Flucht jagte.– – –

Als eines Tages Professor Cassekanari unter gräßlichem Augenverdrehen das Zeitliche gesegnet hatte, bestanden die katholischen Missionare darauf, daß ihm ein christliches Begräbnis zuteil werde, aber ihre Andacht wurde leider durch das ruchlose Dazwischentreten des hämischen Vogels beträchtlich gestört. Das Biest hatte es sich nämlich nicht versagen können, auf eine in der Nähe der Kapelle stehende Palme zu fliegen und von hoch oben herab die Grabpredigt mit der Wiedergabe aller Kompositionen seines toten Herrn zu begleiten. Den Negern schien das einen Mordspaß zu machen; sie zwinkerten einander zu, und schließlich gerieten sie in eine wilde Tanzekstase, wobei sie ihre Plattfüße auf grauenhafte Weise verdrehten. Erst als ein Chorknabe mit einem rostigen Schießgewehr angeeilt kam und die Donnerbüchse auf den Raben anlegte, trat Ruhe ein. Der Vogel jedoch ließ sich nicht beirren; er sang gelassen bis zu Ende, und eine Sekunde, bevor der Schuß losging, schrie er selber: Krach, Bumm, und flog davon. Da sage noch jemand, Tieren wohne kein Pflichtgefühl inne!
Alles das hatte sich vor etwa vierzig Jahren begeben, und niemand wüßte mehr darum, wäre mir nicht vor kurzem ein alter Schulfreund, der Zeichner Meixner, begegnet, der sich früher als Orchideensammler lange, lange Zeit auf Jamaika herumgetrieben hatte. Was er mir erzählte, klang so wundersam, daß ich mir alle Mühe geben mußte, es zu glauben, aber mein Freund ist ein so wahrheitsliebender Mensch, daß ich nicht zweifeln darf. Auf seinen Wanderungen im Urwald und im Gebirge sei er des öftern tierähnlichen Wesen begegnet, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Geschöpfen gehabt hätten, wie man sie zum Beispiel bei Hagenbeck und ähnlichen zoologischen Unternehmungen zu sehen bekäme. Ein Steinbock mit Elsterfedern auf dem Gesäß, einer Entenpatte als Hinterbein und elefantiasisartig degeneriertem Vorderfuß war noch das bescheidenste, was er mir vorsetzte. Grimmig die Zähne zusammenbeißen mußte ich doch, um ihn in seiner Schilderung einer alten Dame mit Schinkenärmeln nicht zu unterbrechen, die ihm angeblich eines Abends auf einer menschenleeren Landstraße als Marabu verkleidet begegnet sei, ich konnte mir kaum mehr helfen, so stürmisch fielen die Zweifel über mich her. Ich hätte auch sicherlich den Verkehr mit Meixner abgebrochen in dem unabweisbaren Gefühl, das Opfer eines Phantasten geworden zu sein, gäben mir nicht immer wieder die Tatsachen zu denken, daß Klänge und Töne die Ursachen aller Formen auf Erden und im Weltraum sind und sein müssen. Als ich vor längerer Zeit einmal eine Jazzband spielen hörte, wunderte ich mich, daß solche Musik nicht auf der Stelle heftige Veränderungen im menschlichen Körper verursache. Nun: Wahrscheinlich stehen wir noch in den Anfängen; offenbar ist die Melodie des gottseligen Professors Cassekanari noch nicht gewissenhaft aus dem Allheilland Amerika bis zu uns gedrungen. Vorläufig scheint der Jazzvogel sich an den Tieren des Urwalds für sein erstes Debüt in New York einzuüben. Hoffen wir also das Beste.