Kreischend glitt das Bodenblech der silbernen Mercedes C-Klasse über die straßenhundhohen Fahrbahnränder der „Straße der nationalen Einheit.“.

Unablässig strahlte Sonne auf die körnigen Teppiche aus Mais, welche Frauen auf den wenigen Metern intakten Teers trockneten. Kinder mit Resten von T-Shirts am Leib und krummen Hacken in den Händen forderten wütend gestikulierend Lohn für die ungefragte Füllung der größten Löcher. Im Rückspiegel sieht man sie sich lachend necken, auf roter Erde, zwischen grünen Feldern, unter einem Himmel von weitem weiß-blau.

„Les salauds ont mis le feu au paradis…“ singt Alpha Blondy aus den Lautsprechern, die Drecksäcke haben das Paradis zerstört.

Yawo fuhr zügig und konzentriert, die linke Hand am Lenkrad, die rechte entschieden gestikulierend im Sog der offenen Fenster.

„Lies mal Ahmadou Kourouma, wenn du wieder in Deutschland bist. Besonders „En attendant le vote des bête sauvages“, da schreibt er auch viel von Drecksäcken.“

Eine gute Woche später liegen die Monate in Togo hinter und „Die Nächte des langen Jägers“, so der Titel der deutschen Übersetzung, vor mir.


Nachtschattengeschwätz
 
Teil 2: Die Nächte des großen Jägers (Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2000)

Sechs Nächte bieten, so möchte man meinen, ausreichend Zeit um das Leben eines Menschen in Gänze und Offenheit darzulegen, Taten zu rühmen und zu verurteilen, seinen Werdegang kommentiert nachzuzeichnen und zeitgeschichtlich einzuordnen.

Trotz aller Souveränität muss sich der Hofpoet Bingo dennoch mächtig sputen um Koyaga, dem Diktator und Herrscher der Golfrepublik, sein reinigendes Donsomana, vorzutragen.

„Das Donsomana ist ein literarisches Genre, das die Geschichte des Helden von dem Augenblick an erzählt, in dem der Samen im Schoß seiner Mutter ausgesät wird.“

Selbst für einen Griot der Bruderschaft der Jäger keine leichte Aufgabe, besieht man sich Werdegang und Kerbolz des großen Jägers.

„Die ganze Wahrheit über deine Gemeinheiten, über deine Schweinereien; wir werden deine Lügen anprangern, die zahlreichen Verbrechen und Morde, die du begangen hast…“

Dem Erzähler, auch Sora genannt, stehen neben der Kunst der mündlichen Überlieferung noch Spruchweisheiten der Tradition, die Klänge seiner Kora (Stegharfe) sowie die Sonderstellung seines Lehrling und Antworters Tiécoura zur Verfügung. Dieser Cordoua befindet sich in der Phase der Reinigung und kann sich folglich jede Grobheit und ehrliche Kritik erlauben. Schließlich gibt es nicht was man ihm, dem Narr, nicht verzeihen würde.

“ Ich spreche von den Tragödien, in die unsägliche Verirrungen den afrikanischen Kontinent gestürzt haben. Stellte Tiécoura fest.“

Der 2003 verstorbene ivorische Schriftsteller Ahmadou Kourouma lässt in seinem im Jahre 2000 auf Deutsch erschienenen Werk tief blicken – in die traditionelle westafrikanische Gesellschaft mit ihren Mythen und ihrem tief verwurzelten Aberglauben an Fetische und Talismänner, den Grigris, hergestellt von Fetischpriestern oder Marabuts, den islamischen Heiligen. Gleichzeitig tunkt er uns kopfüber in die Zeit der französischen Kolonialherrschaft, die Wirren der Unabhängigkeit und des kalten Kriegs, die weltpolitische Relevanz der Gebiete, denen neben kolonialen Grenzen und Nationalstaatswesen auch die französische Sprache aufoktroyiert wurde.

Koyaga, der Präsident und Herrscher vom Volk der Bergmenschen, ist Sohn des sagenumwogen Tchao, dem „am meisten bewunderten Mann der Evelema“, den jährlich während des Harmattan (Trockenzeit) stattfindenen Initiationsringkämpfen. Ein großer Jäger und Ringkäpfer also, welchen der Wunsch nach neuen Herausforderungen ungeahnt in die französische Armee und damit auf die Schlachtfelder von Verdun 1917 katapultiert. Als hochdekorierter Held kehrt er zurück, verstößt jedoch durch das Tragen seiner ordengeschmückten Uniformjacke gegen die traditionelle Nacktheit seines Volkes. Die jungen Männer eifern ihm nach, steigen von den Bergen herab direkt in die Rekrutierungsbüros der hocherfreuten französischen Kolonialherren. Die jahrzehntelange Widerstand der Paläos (Paläonigriter) ist gebrochen, Tchao fällt, einmal dem Ausmaß der anstehenden Unterjochung seines Volkes gewahr geworden, in Ungnade und krepiert, im Kerker eingemauert, in seiner eigenen Scheiße. 

Mit satirischem Witz und oppulenter Genauigkeit baut Kourouma diese Metapher für das hinterlistige Einschleichen der Kolonialisten auf , ckarakterisiert die Nacktheit des Volkes als Inbegriff „authentisch-afrikanischer Tradition“, deren damit assozierte „Primitivität“ die Bergmenschen seit Jahrhunderten vor Unterdrückung und Sklaverei bewahrt hätten.

Doch der imperiale, mit humanistischer Fäule glasierte Wunsch der Weißen, ist klar und alternativlos.

„Sich mit den nackten Menschen verständigen, sie evangelisieren, christianisieren, zivilisieren. Menschen aus ihnen machen, die man kolonisieren, verwalten, ausbeuten kann.“

Koyaga, Sohn des so grausam Gestorbenen, ist ein schlechter Schüler und Raufbold, und gerät, einige Jahre später, in die gleichen Mühlen wie einst sein Vater.

„Die französische Armee rekrutierte scharenweise Neger für Indochina. Die nackten Männer waren besonders gefragt. Ihre Todesverachtung machte sie zu einer vortrefflichen Manövriermasse für die Gefechte in den Reisfeldern.“

Gestärkt durch mächtige Schutzzauber seiner Mutter, welche ihn sein ganzes Leben begleiten werden, verwandelt er sich inmiten eines Vietcong-Angriffs in eine mächtige Eule und trägt die gesamte Kompanie samt marokanischer Puffmütter auf seinen Flügeln zurück zum Stützpunkt.

Nicht nur Erzählperspektive und Aufbau der Geschichte stechen für europäische Leser wohltuend aus dem Teig des Gewohnten hervor, nein, auch Kouroumas augenzwinkernder Umgang mit der Magie nebst dem Koketieren mit Übersinnlichkeiten lassen den mit europäischer wie westafrikanischer Kultur vertrauten, blitzgescheiten Schelm erkennen. Möglicher Kritik vorausgreifend heißt es an einer Stelle lapidar:

„Ganz offensichtlich ist dies eine kindliche Erklärung der Weißen, die Rationalität brauchen, um etwas verstehen zu können.“

Kerngesund kehrt Koyaga schließlich aus Indochina und später aus Algerien heim. Während er im Auftrag der Imperialisten nach Freiheit aufbegehrende Völker niedermetzelte, war sein Heimatland unabhängig und so zur Golfrepublik geworden. Der Eintritt in die junge Armee jedoch wird ihm und seinen Kameraden vom neuen Präsidenten bewusst verwehrt. Unglücklicherweise hat dieser, neben dem Zorn der heimgekehrten Schützen, einen weiteren Makel:

“ Er war kein Vater der Nation und der Unabhängigkeit, den Frankreich und General de Gaulle entwickelt und gefördert hatten.“

Keine Marionette also, welche der General auserkoren hatte und desen Äußerungen nicht allzusehr vom kolonialen Dogma abwichen, demzufolge der Neger minderwertig war, ein Dieb und faul.“

Selten wurden in einem Roman politische Zusammenhänge aus dieser Zeit so pointiert in geistreicher Sprache aufgeführt und interpretiert wie in den langen Nächten des großen Jägers. Kouroumas zeitgeschichtlichen Erläuterungen sind um Welten mehr als schüchterne Fingerzeige auf die (Ex-)Kolonialmacht Frankreich. Er macht deutlich, wer Despoten und blutrünstige Diktatoren heranzog und protegierte, sie im Rahmen der berüchtigten Françafrique in informeller Diplomatie und Korruption unterrichtete. 

Wer Staatsstreiche anzettelte und Massenmörder installierte um Rohstoffquellen, Handelsstrukturen und Absatzmärkte nicht zu gefährden.

„Dank seiner außerordentlichen politischen Begabung fand General de Gaulle eine befriedigende Lösung für das Problem. Ihm gelang das Kunststück, die Unabhängigkeit zu gewähren, ohne die Kolonialherrschaft aufzugeben.“

In dieser Zeit also putscht der Unteroffizier der französischen Armee, Koyaga, gegen den rechtmäßig gewählten Präsidenten, metzelt den Geflohenen vor den hohen Toren der US-Botschaft nieder und tötet, einige Zeit später, seine drei Konkurrenten um die alleinige Macht nach guter, alter Tradition:

„Mit einem Dolch bewaffnet, folgte ihm Koyaga gemächlich durch das Fenster. Von den Schreien ungerührt, entmannte der große Jäger den frischgebackenen General. Ein unbeschnittener muß lebend entmannt werden, fügte der Antworter hinzu. Zu drit rissen die Schützen dem Komiteepräsidenten die Kiefer auseinander: Du, Koyaga, du, der Kriegsveteran, hast ihm den Penis und die blutigen Hoden in den aufgesperten Rachen gestopft.“

Er, der „ewige Grundschüler“, den „der Sperber bringt und der Rabe großzieht“, ist nun Präsident.

„Er wird unser Schüler sein und unser Lehrmeister, unser Reichtum und unsere Armut, unser Glück und unser Elend, Gewaltig. Alles, was es an Erhabenem gibt, an Schönem, an Gutem, und von jedem das Gegenteil wird in diesem Kind sein.“, hatte der Marabut der Mutter einst vorausgesagt.  

Doch beherzigen wir, bevor wir zu Koyagas Antrittsbesuchen bei den schlimmsten Verbrechern von westlichen Gnaden kommen, einen Ratschlag des Sora.

“ Der Jäger auf der Pirsch unterbricht von Zeit zu Zeit die Verfolgung des Wildes, um einen Tabakpriem zu kauen. Tun wir es ihm gleich.“

Ahmadou Kourouma lebte zwischen 1984 und 1994, dank staatlicher Verfolgung in seinem Heimatland Elfenbeinküste, in der togoischen Hauptstadt Lomé im Exil. Seine leitende Tätigkeit in einer großen Versicherungsgesellschaft ließ ihm ausreichend Zeit und Raum, um für das vorliegende Buch zu recherchieren. Die Person des Koyaga, des großen Jägers und Diktators, ist eng an die Biographie des togoischen Langzeitdiktators Eyadema Gnassingbé angelehnt. Dieser regiert, ausgelöst durch einen blutigen Putsch im Jahre 1963 gegen den damaligen Präsidenten Sylvanus Olympio und vier Jahre später gegen Nicolas Grunitzky, von 1967 bis zu seinem Tod im Jahre 2005. Der mit 38 Amtsjahren damals dienstälteste afrikanische Staatschef führte das kleine Land mit eiserner Faust, häufte Menschenrechtsverletzungen und Unmengen gestohlenes Vermögen an und überließ weite Teile seiner Bevölkerung, abgesehen von Einschüchterung und Repression, sich selbst. Er ist Träger des bayrischen Verdienstordens, einem „Zeichen ehrender und dankbarer Anerkennung für hervorragende Verdienste um den Freistaat Bayern und das bayerische Volk.“ 
Und während das eigene Volk verhungerte, ging er mit seinem Freund Franz-Josef Strauß im Nationalpark Antilopen jagen.

Wir Schwarze müssen zusammenhalten.“, pflegte Strauß zu sagen, er schätzte seinen Freund als „Unanfälligen gegen den Bolschewismus.“ 

Das diese Einschätzung als Legitmation für enge Beziehungen ausreichte, sagt viel aus über den Menschen Franz-Josef Strauß, mehr noch allerdings über die Epoche des Kalten Kriegs.

Fahren wir jedoch mit Ahmadou Kouroumas Geschichte fort.

„Der Sora stimmt das musikalische Vorspiel an. Der Cordoua ergeht sich in groteskem Hohn und obszönem Spott. 
Tiécoura, hör zu!“

Der große Jäger Koyaga beherzigt nun den Rat seins Marabuts.

„Du mußt dich zuerst einmal auf eine Reise begeben. Erst einmal mit den Meistern des Absolutismus und des Einparteiensystems, mit den herausragendsten Vertretern des freiheitsmordenden Afrika zusammentreffen, ihnen zuhören.“

Illustre Stationen seiner Reise sind die „Ebenholzrepublik“, das „Zweiflußland“, das „Land der Dschebel und der Wüsten“ sowie die Republik am großen Fluß“ . Leider stehen auch in diesem Fall absurde Herrscher samt ihrer einverleibten Gebiete Pate, Kourouma braucht nicht mehr sonderlich viel zu literarisieren.

Die Elfenbeinküste unter Felix Houphouët-Boigny, die Zentralafrikanische Republik unter dem durchgeknallten Kaiser (!) Jean-Bedel Bokassa, Marokko unter Hassan II sowie die Demokratische Republik Kongo (ehemals Zaire) unter Mobutu Sese Seko. Letztere hatte seinen Vorgänger im Amt, Patrice Lumumba, 1961 mit Hilfe der Ex-Kolonialmacht Belgien, der C.I.A. sowie der UN-Blauhelme aus dem Amt geputscht, gefoltert und die Leiche anschließend von belgischen Beamten in Säure auflösen lassen.

Der Dramatiker Peter Hacks dichtete in „Tod Lumumbas“ knapp und treffend:

„Lumumba liegt mit blutiger Brust
Weil er vertraut, wo er kämpfen mußt.“
[…]
Doch als Lumumba im Kerker stak
Da hat das Volk nach ihm gefragt.“

Doch hat der Sora auch dafür eine Spruchweisheit parat, ganz im Sinne der Imperialisten.

„Das Froschgequake hält den Elefanten nicht vom Trinken ab.“

Mobutu aka “ der Mann mit dem Leoparden-Totem“ aka „kleptomanischer Dinosaurier“ jedenfalls gibt Koyaga folgende, weltpolitischer Einordnung:

„Die Demokraten unterstützen und schützen nur die Antikommunisten. Auch wenn der Kalte Krieg, der Kampf zwischen kommunistischen und westlicher Welt nur ein Bruderkrieg zwischen Weißen ist, zwischen Reichen, müssen wir uns einmischen. Wir Afrikaner, wie mischen uns ein, um Vorteile daraus zu ziehen!“

Die Rohstoffvorkommen überlässt der Mann mit dem „Leoparden-Totem“ der Bevölkerung, jedoch unter dem ungezügelten Recht des Stärkeren in seinem „Land der informellen Möglichkeiten.“

„In den Gold- und Diamantenminen im Norden, Süden, Osten und Westen der riesigen Republik am großen Fluss.[…] Leprakranke gruben mit ihren Stummeln in der Erde, höhlten sie aus für Gesunde mit unversehrten Händen und Fingern…Das waren die Wunder, die der Mann mit dem Leoparden-Totem in seiner riesigen Republik am großen Fluß hatte wahr werden lassen.“

Tief beeindruckt kehrt Präsident Koyaga daraufhin in die Golfrepublik zurück und die folgenden Jahre verlaufen für sein Volk hart und entbehrungsreich, trotz zahlreicher Jubiläums-, Initiations-, und Unabhängigkeitsfeiereien, mit welchen der große Jäger seine Untergebenen abzulenken versucht. Eine Reihe von Attentaten, welche er alle überlebt, lassen die Zahl der politisch Verfolgten in die Höhe schnellen:

„Wenn du einem Kind im Spiel zuviel erlaubst, verlangt es schließlich noch, dass du die Hose runterziehst, damit es mit deinem Penis und deinen Hoden spielen kann.“

jaeger coverDas Meisterwerk des Muslimen Ahmadou Kourouma endet in der Schwebe, ohne Aussicht auf Linderung – und mit einem Zitat aus der Bibel. 

Der Cordoua weigert sich, den Ermahnungen Bingos Folge zu leisten, hört nicht auf die Befehle des Sora, der die Sprichwörter förmlich herausschreit: Die Nacht dauert lang, aber schließlich kommt der Tag.

„Die Nächte des langen Jägers“ ist ein Buch, groß wie ein Baobab-Baum, weithin sichtbar und durch seinen mächtigen Stamm als Hort der Weisheit vor politischen Buschbränden und streunenden Rindviehhorden geschützt. Ausschweifend wie ein gutes Palaver, scharf wie das Schwert des Befreiers und zornig wie der Blick des Ahmadou Kourouma auf die Welt und all die Menschen, die nicht aufhören sie auszuplündern.
{module Ole Schwabe}