WP--EditorialWenn man sich wie ich über Wochen und Monate durch Gebirge von Neuerscheinungen allein aus dem Bereich der freien Musik wühlt, bleibt man manchmal doch ratlos zurück. Wo sind die wirklich originellen Künstler im Netz?

Ich hab mal den Versuch gemacht, mich durch die ersten Plätze der Jamendo-Charts (sprich: die populärsten Alben der Woche) durchzuhören. Fast wäre ich bei dem Versuch eingeschlafen. Denn auf den drei Spitzenplätzen war durchgängig langweilige bis üble Instrumentalmusik, die oft von den Künstlern zu Hause an den Computern zusammengepuzzelt worden war. Oder es ist wie bei Platz 1 so eine Art Pianomusik, mit denen man die Zuhörer in einer Zahnarztpraxis beschallen könnte, um ihnen die Angst zu nehmen. Schön aber garantiert nicht aufregend. Dann kam ich zu Platz 4 – und der war doch überraschend. Denn hier fand sich plötzlich traditioneller Irish-Folk von Aislinn aus Frankreich. Richtig gut gespielt, perfekt für den Ausflug in den Pub spät in der Nacht. Musik zum Saufen oder Tanzen oder für beides gleichzeitig.

Doch was ich nicht sehen konnte in dieser Liste, war wirklich originelle Musik von Bands, die sich nicht mit dem Stand der Dinge abfinden wollen. (Ok, inzwischen ist Diablo Swing mit seinem Jazzrockmetal wieder in die Liste aufgestiegen – Ausnahme, die die Regel leider bestätigt.) Woran das liegt, bin ich mir nicht sicher. Sind die Menschen im Netz genauso wild auf belanglos-banale Klangtapeten wie auch sonst im Alltag? (Schon ok, dass es selbst im Bereich der Freien Musik inzwischen Komponisten führ Fahrstühle und Artzpraxen gibt. Ebensoviele wie für linksradikale Demonstrationsvorbereitungen oder Tanzparties wahrscheinlich – ich erinnere nur an die große Zahl der Ska-Punk-Bands bei Jamendo.) Oder fehlt es den Bands inzwischen an dem revolutionären Impetus? Hat keiner mehr wirklich Lust, das Bestehende zu zerschlagen und neue Kunst daraus entstehen zu lassen? Oder kommt man damit einfach nicht auf die Zahl der Auftritte, die es braucht, um ein Bandprojekt am Leben zu erhalten?

Dem „normalen“ Kritiker sind wahrscheinlich die politisch engagierten Ska-Punks, die mit ihrer Entscheidung für freie Musik und radikale Texte dem System den Finger zeigen lieber als der belanglose Ambientteppich, den der x-te Möchtegern Eno in seinem PC verlegt. Doch für mich als Genusshörer, als musikalischer Abenteuerreisender ist die Eintönigkeit mitunter doch erschreckend. Warum dann überhaupt noch freie Musik? Warum nicht gleich zurückkehren zu dem besten Mix aus den 70ern, 80ern und von heute (trag hier den entsprechenden Radiosender deiner Region ein)? Da weiß ich wenigstens, warum ich Wutanfälle spätestens nach vier Minuten bekomme.

Etliche Bands streben genau danach: ins „normale“ Radio zu kommen. Und das ist ihr gutes Recht, ja gar ihre Pflicht als Künstler. Doch muss man das tun, indem man zu einer „so-wie“-Band mutiert, weil ins Programm nur das kommt, was so wie alles andere klingt, was ins Schema passt?

Zum Glück gibts immer mal wieder Sachen, die wirklich aufhören lassen – etwa die erste Best-of der Juanitos mit ihrem Garagen-Soul-Beat-Dancefloor-Jazz oder der großartige Reggae-Fusion-Funk-Rock der Drunksouls (um nur zwei aus den letzten Monaten zu erwähnen, die bei mir wirklichen Eindruck hinterlassen haben). Das ist Musik, die auffällt durch Originalität und Leidenschaft und mit eindeutigem Hitpotential. Oder die letzte wirkliche Überraschung (komischerweise auch aus Frankreich) – das Blancheneige Bazaar Orchestra (obwohl das eher Chancen auf ein intellektuelles Jazzfestival hat als auf den Einzug in ein Formatradio). Hier merkt man, dass Grenzen musikalischer und kultureller Art einfach überschritten werden, um etwas Neues und Eigenes zu erschaffen. Und dass müsste man häufiger erleben. Aber vielleicht bin ich halt nur ein Träumer…