Michel Houellebecq Foto: Mariusz KubikDie erfreulichste Literaturnachricht des letzten Jahres war für mich die Verleihung des Prix Goncourt, des bedeutendsten französischsprachigen Literaturpreises, an Michel Houellebecq – an jenen Autor, dessen Schaffen ich seit Jahren mit Begeisterung verfolge. Aus diesem Anlass habe ich mich für diesen Beitrag entschieden und möchte seine fünf Romane, einige ausführlicher, einige weniger ausführlicher, vorstellen. Die fragmentarische Form dieses Beitrages bitte ich zu verzeihen.

1994 erscheint Houellebecqs erster Roman „Ausweitung der Kampfzone“. Vom deutschsprachigen Feuilleton mit Zuschreibungen wie „Eine Ausnahmeerscheinung“ (Süddeutsche Zeitung), „ein Kultbuch der Gegenmoderne“ (Die Zeit) oder „Dieses Erzählen tönt anders als alles bis dahin Gehörte“ (Neue Zürcher Zeitung) versehen. Er ist der Auftakt eines literarischen Programmes, welches von Roman zu Roman weiter fortentwickelt und konsequent weitergedacht wird. Im Mittelpunkt seines Schaffens stehen hierbei die westliche Konsumgesellschaft und die für sie typischen Erscheinungen wie Narzissmus, Egozentrik, Unerfülltsein, Mangel an menschlicher Nähe und Hingabe sowie sexuelle Frustration. Dabei behandeln die Romane aber auch immer wieder Themen, die aktuell in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Die Drastik der Darstellung und die Äußerungen der Protagonisten zu diesen Themen bringen ihm den Ruf eines Skandalautors ein. Wobei dabei immer außer Acht gelassen wird, dass die Gleichsetzung literarischer Figuren bzw. des Erzählers mit dem Autor wenig produktiv für eine Auseinandersetzung mit Literatur ist. Nur am Rande sei hier auf die diesen Umstand behandelnde theoretische Debatte verwiesen, die sich mit dem Schlagwort „Der Tod des Autors“ (Roland Barthes) zusammenfassen lässt.

Im Mittelpunkt des Romans „Ausweitung der Kampfzone“ stehen Wirtschaft, Arbeitswelt und Sexualität. Das Verhältnis dieser drei Aspekte lässt sich wie folgt ausdrücken: „Es gibt ein System, das auf Beherrschung, Geld und Angst beruht – ein eher männliches System, nennen wir es Mars; und es gibt ein weibliches System, das auf Verführung und Sex beruht, nennen wir es Venus. Das ist auch schon alles.“ Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich der Protagonist, ein 30jähriger Informatiker. Das in diesem Roman gezeichnete Bild des alltäglichen Lebens ist von Hoffnungslosigkeit geprägt und lässt sich mangels Alternativen an Ausweglosigkeit nicht überbieten. Ein weiterer Auszug: „Die Schwierigkeit ist, dass es nicht genügt, wenn Sie genau den Regeln entsprechend leben. Es gelingt Ihnen ja (wenn auch oft nur ganz knapp, aber alles in allem schaffen Sie es doch), den Regeln entsprechend zu leben. Ihre Steuererklärung ist in Ordnung. Die Rechnungen werden pünktlich gezahlt. Sie gehen nie ohne Personalausweis aus dem Haus (nicht zu vergessen: das kleine Etui für die Scheckkarte…). Trotzdem haben sie keine Freunde.“

1998 erscheint „Elementarteilchen“. Dieser Roman nimmt die Isotopien der Kampfzone auf und radikalisiert diese. Die beiden Halbbrüder – der einsame und frustrierte Molekularbiologe Michel und der sexbesessene Lehrer Bruno – bewegen sich in einer Welt, die schon aus dem ersten Roman bekannt ist. Mit 40 verlieben sich beide. Bruno in die ebenfalls sexbesessene Christiane, welche seine Gefühle erwiedert, sich nach einer kurzen Zeit des Glücks allerdings auf Grund der Diagnose von Steißbeinnekrose das Leben nimmt. Michel verliebt sich in seine Jugendfreundin Annabelle. Auch hier ist das Glück nur von kurzer Dauer, Annabelle erkrankt an Gebärmutterkrebs und setzt ihrem Leben ebenfalls ein Ende. Bruno verliert den Verstand und verbringt den Rest seines Lebens in der Psychiatrie. Michel verliert jede Bindung zum Leben und widmet sich einem Forschungsprojekt, welches die Erschaffung einer geschlechtslosen und unsterblichen Rasse zum Ziel hat – oder anders ausgedrückt: die Abschaffung der Menschheit. Was bleibt? „Auf den Friedhöfen in der ganzen Welt vermoderten die Menschen, die vor nicht allzu langer Zeit gestorben waren, weiter in ihren Gräbern und verwandelten sich allmählich in Skelette.“ Zahlreiche theoretische Exkurse brechen die Handlung immer wieder. Dieses Betrachten vom Rand schafft zwar Abstand, nimmt der gezeichneten Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz aber nichts, verschärft diese eher noch: „Das Verfaulen seiner Organe betraf nun ihn selbst, er würde den körperlichen Verfall und den Tod als individuelle Erfahrung erleben. Seine hedonistische Lebenseinstellung und die Kräftefelder, die sein Bewußtsein und seine sinnlichen Begierden strukturieren, waren dagegen seiner ganzen Generation zu eigen.“

In „Plattform“, dem dritten Roman aus dem Jahr 2001, variiert Houellebecq seine bekannten inhaltlichen Schwerpunkte um eine Auseinandersetzung mit den Themen Islam und Sextourismus. Ungewohnt erscheinen hier allerdings die ersten zweihundert Seiten. Ulrich Rüdenauer hat diesen Umstand treffen zusammengefasst: „Fast zweihundert Seiten lang gelingt das Leben! Fast zweihundert Seiten lang löst sich die Sehnsucht in einem Glücksempfinden auf, findet die Utopie einen konkreten Ort.“ Der Protagonist Michel arbeitet im Pariser Kulturministerium und erbt nach der Ermordung seines Vaters ein größeres Vermögen. Er beschließt, über Weihnachten und Silvester einen Gruppenurlaub in Thailand zu machen – das Ziel ist nicht zufällig gewählt, kann er sich hier doch seine Bedürfnis nach körperlicher Nähe unkompliziert erfüllen. Im Anschluss an diese Reise lernt er Valerie, eine der Mitreisenden, näher kennen. Es entwickelt sich eine Beziehung. Valerie ist bei einem Reiseunternehmen angestellt, deren Kette von Clubhotels sie sanieren soll. Michel hat einen genialen Einfall: „Auf der einen Seite hast du mehrere hundert Millionen Menschen in der westlichen Welt, die alles haben, was sie sich nur wünschen, außer dass sie keine sexuelle Befriedigung mehr finden.“ Demgegenüber Menschen aus der dritten Welt, die „nichts anderes mehr zu verkaufen haben als ihren Körper und ihre intakte Sexualität. […] Das ist die ideale Tauschsituation.“ Dieser Sextourismus wird professionell und erfolgreich organisiert. Bis hierhin der für Houellebecq untypische Plot und die während der Lektüre erahnte Katastrophe wird anschließend konkret: Islamische Terroristen verüben einen Anschlag auf einen der Ferienclubs. Die geschilderte Szenerie ist stereotypisch, neben zahlreichen Toten stirbt auch Valerie. Die Reaktionen des Protagonisten sind heftige Angriffe auf den Islam. Der weitere Verlauf des Romans ist ganz Houellebecq und lässt sich so zusammenfassen: „Nichts von mir wird überleben, und ich verdiene auch nicht, dass mich etwas überlebt; ich bin mein ganzes Leben lang in jeder Hinsicht ein mittelmäßiger Mensch gewesen.“ Die im Werk formulierten Angriffe auf den Islam werden in der Öffentlichkeit heftig diskutiert, Houellebecq wird als Islamhasser wahrgenommen. 2002 aber wird die beschriebene Katastrophe real: in Djerba auf Bali.

Der Roman „Die Möglichkeit einer Insel“ von 2005 ist durch zwei Handlungsstränge gekennzeichnet, die sich kapitelweise abwechseln. Auf der einen Seite die Lebensgeschichte von Daniel, einem erfolgreichen Komiker, der die für Houellebecq typischen Charakteristika in sich vereint. Daniel findet weder bei seiner Frau Isabell noch nach deren Tod bei seiner jungen Geliebten Esther das erhoffte Glück. Er schließt sich einer Sekte an, welche die künstliche Replikation des Menschen zum Ziel hat. Der andere Handlungsstrang, 2000 Jahre später, ist durch klimatische und georgafische Veränderungen der Erde in Folge von Kriegen, Atomexplosionen und einer Verschiebung der Erdachse gekennzeichnet. Der von der Sekte angestrebte Neo-Mensch hat als einziges überlebt. Er ist geklont und, wie sollte es anders sein, unsterblich. Der Preis hierfür ist hoch: Er kann weder menschliche Regungen zeigen, noch kann er seinen Wohnraum verlassen. Der Bericht aus der Zeit seines Prototyps ermöglicht es Daniel24, Daniel in der vierundzwanzigsten Generation, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Zeiten, seiner, die in der Zukunft liegt, und unserer selbstzerstörerischen Gegenwartsgesellschaft zu begreifen. Für die war vor allem »der moralische Schmerz des Alterns« unerträglich geworden.

Karte und Gebiet“, der im letzten Jahr erschienene Roman Houellebcqs – für den er wie eingangs erwähnt mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde – stellt eine Biografie des Künstlers Jed Martin dar. In seinen ersten Arbeiten stellt er Straßenkarten und Satellitenbilder gegenüber, zum Durchbruch verhelfen ihm jedoch Porträts. Einer der Porträtierten: „Michel Houellebecq, Schriftsteller“. Eben jener wird Opfer eines Mordes: „Ein verrückter Kunsträuber aus Nizza trennt ihm und seinem Hund mit einem Laserschneider den Kopf ab, zerkleinert das Fleisch in tausend Stücke und häuft die Knochen im Kamin auf. Seine Reste passen in einen Kindersarg.“ Der Erzähler aber fährt in seinem Bericht über das Leben und Werk des Künstlers fort und erschafft so eine zur Satire neigende Biografie eines Künstlerlebens. Ich wäre an dieser Stelle gerne ausührlicher auf dieses Werk eingegangen, aber leider hat mir der deutsche Verlag Houllebecqs – Du Mont – kein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Ich werde dies aber in absehbarer Zeit auf der Wasser-Prawda nachholen.

Das Roman-Werk Houellebecqs ist durch die Drastik seiner Darstellung sowie den Hang zur Selbstinszenierung sicherlich nicht für jeden Geschmack geeignet. Es ist aber gewiss eine Bereicherung für einen Buchmarkt, der sich oftmals nur noch von Verkaufszahlen beeindrucken lässt. {module Erik Münnich}