Brygida Helbig. Vorabdruck Aus: Ossis und andere Leute. Aus dem Polnischen von Paulina Schulz unter Mitarbeit von Brygida Helbig, freiraum-Verlag Greifswald, 2015.

Ob die anderen auch ständig hetzen und hetzen, ihrem eigenen Schwanz nachjagen, sich selbst Stück für Stück auffressen? Wie viele Ratgeber habe ich schon verschlungen, wie viel Weisheit aufgesogen – darüber, wie eine Frau die Königin ihres Lebens werden und tänzerisch der Stimme ihrer Berufung folgen könne, dass man sich selbst lieben sollte, dann sei es egal, wen man heirate, dass man sich nicht sorgen, sondern einfach leben müsse. Wie viel habe ich darüber gelesen, wie man nach den Lehren des Buddhismus den Nikotin-Dämon mit einem Dolchstoß töten könne, dass die warme chinesische Küche mit Ingwer und Kardamom die bekömmlichste Nahrung sei, und darüber, wie glücklich doch eine polnische Schriftstellerin sei, die jeden Tag die Fünf Tibeter praktiziere und eine Liebesbeziehung mit dem Indischen Ozean unterhielte. Oder darüber, wie erfüllt es einen mache, um fünf Uhr früh aufzustehen und den Tag mit einem Dankesgebet zu beginnen. Beenden sollte man ihn wiederum mit dem Einreiben mit Aprikosenkernöl und einer Affirmation an unser Höheres Selbst.
Und wie sieht die Realität aus? Nicht nur, dass ich es nicht schaffe, vor meinem Kind aufzustehen, um Dankesgebete gen Himmel zu richten – nein, mein Kind muss mich jeden Morgen aus dem Bett zerren und zu unchristlicher Stunde mit bohrenden Fragen wachrütteln: „Mama, was ist eine Ellipse? Mama, was ist ein Paradoxon? Ich muss es wissen, weil es heute abgefragt wird! Gib mir doch ein Beispiel dafür, bitte nicht so abstrakt, so bringt mir das nämlich nichts!“ Als ob ich auf Arbeit nicht genug von solchen Fragen hätte. Wie, auf Arbeit?
Ich bin doch arbeitslos. Was machst du eigentlich den ganzen Tag? Die Welt da draußen hat sich fest vorgenommen, mich tagtäglich mit dieser Frage in den Wahnsinn zu treiben. Meine lieben Tanten, Onkel, Omas, Opas, Schwägerinnen und Schwager mit Kind und Kegel: Ich verkünde hiermit öffentlich, dass ich mitnichten arbeitslos sei – Arbeit habe ich genug, nur dass ich für diese nicht entlohnt werde. Das ist ein gravierender Unterschied! Ich bin nicht arbeitslos, sondern brotlos. Das nennt sich in der Bundesrepublik Deutschland dann Privatdozent. Eine Erfindung deutscher Universitäten.
Ich muss mich erklären. Tag für Tag. Ich muss berichtigen, dass ich nicht wirklich ein Faulpelz sei, und erkläre, was ich den ganzen Tag so mache. Das ist auch harte Arbeit. Was ich außerdem noch tue? Ich schreibe und lektoriere, ich übersetze und korrigiere, lese und examiniere – und all das für nichts und wieder nichts.
Außerdem denke ich darüber nach, ob ich meine Tochter gegen Gebärmutterhalskrebs impfen lassen soll, weil die Meinungen geteilt und die Konsequenzen vielleicht schwerwiegend, jedoch unbekannt sind. Ich fahre meine Mutter zum Arzt und schaue mit meiner Tochter Desperate Housewives an, ich telefoniere Handwerkern hinterher, weil die Heizung im Wohnzimmer nur dann heizt, wenn man gleichzeitig auch die Heizung im Zimmer meiner Tochter anwirft. Die Herren kommen: Guten Tag, Frau Stopa-Müller, wo drückt denn der Schuh? Sie fahren zufrieden wieder weg, ich mache die Heizung an, und tatsächlich, die Abhängigkeit der Heizkörper untereinander ist nicht mehr gegeben – stattdessen powert die Heizung dermaßen, dass mir der Schweiß ausbricht. Weil es so heiß ist und ich weiß, was es mich kosten wird. Szlag trafi! 
Die Deutschsprachigen amüsieren sich immer über alle Maßen, wenn ich das so sage. Der Schlag soll euch treffen auf Polnisch. Und ich sage es sehr oft: Wenn ich mit der Faust auf den Laptop haue, der mir nicht gehorchen will, wenn ich mit meinem Daewoo aus Versehen einen Mercedes sanft streife und gelbe Spuren auf seinem Lack hinterlasse, um anschließend von dem einen oder anderen privaten Ordnungshüter in die Ecke gedrängt zu werden, die hierzulande besonders gut gedeihen. An Gelegenheiten mangelt es nicht.
Danach klopfe ich auf Holz. Nein, der Schlag soll nicht die Handwerker treffen! Mich soll er treffen. Bevor ich die nächste Zahlungsaufforderung im Briefkasten finde, die nächste Mahnung, die nächste Job-Absage wegen überdurchschnittlicher Qualifizierung oder von besorgten Bekannten erneut gefragt werde, was ich denn den ganzen Tag so treibe.
Was treibe ich, was treibe ich? Ich schreibe!
 
Berlin 2005