LogoMit der zweiten Ausgabe seiner „randnotiz“ eröffnet Erik Münnich die Kontroverse zur Relevanz der Geschichte für die Kunst der Gegenwart. Fortgesetzt wird diese in wenigen Tagen an dieser Stelle mit der Gegenposition von Robert Klopitzke.

 

randnotiz: die kunst und das leben. plädoyer für eine aufhebung der grenzen

 

ein beinahe zweitausendfünfhundert jahre altes stück – von einem deutschen theater als „[…] tragödie von gewaltiger politischer dimension“ angekündigt, bei der sich „antigone und kreon – individuum und staatsmacht – [gegenüberstehen], und beide kennen keine kompromisse. ein text, der nach über zweitausend jahren mitten in unsere gegenwart zielt.“ – findet in schöner regelmäßigkeit eine renaissance auf verschiedenen bühnen. deutsche klassiker, die auch jahrhunderte nach ihrem tod aus keinem klassenzimmer wegzudenken sind, weil an ihnen doch elementares gezeigt werden kann und briefe schreibende, wiederum andere klassiker lesende junge männer des achtzehnten jahrhunderts ganz nah bei pubertierenden jugendlichen sind. ein um 1503 entstandenes ölgemälde, das zu einer „[…] der ikonen des zwanzigsten jahrhunderts“ wie „[…] zu einem massenartikel der populären kultur“ wurde, aber nichts anderes zeigt, als eine junge frau, die auf einem balkon auf einem stuhl sitzt und hinter ihr ist fremdartige landschaft.

bei diesen drei werken fällt auf, dass kunst – im weitesten sinne des begriffes – viel mit vergangenheit zu tun zu haben scheint. ob sich schriftsteller vergangener zeiten oder personen bedienen, regisseure autoren vorchristlicher zeit inszenieren, alte motive und sujets in immer neuen kontexten verwendet oder frühere formen kanonisiert in ehren gehalten werden; der bereich dessen, was die vergangenheit auf verschiedene art ins zentrum rückt, ist groß. das ist nicht schlimm, genauso wenig wie die freude an dem durch die beispiele exemplifizierten, die pflege und weitergabe dessen. fraglich ist aber, und hier kommt nun der an sich problematische begriff der kunst ins spiel, was es damit auf sich haben soll. kunst wird als „bezeichnung für die gesamtheit des vom menschen hervorgebrachten […], das nicht durch eine funktion eindeutig festgelegt oder darin erschöpft ist […], zu dessen voraussetzungen hohes spezifisches können sowie großes geistiges vermögen gehören […], das sich durch seine besondere gesellschaftliche wie individuelle geltung auszeichnet, vorangegangene werke nicht außer kraft setzt noch den beweis der richtigkeit einer aussage antreten muss […].“ definiert. wikipedia weiß sogar, dass „das kunstwerk […] meist am ende dieses prozesses [steht], kann aber seit der moderne auch der prozess selber sein.“ viel wird hier ins feld geführt, beim großteil kommt kein widerspruch in den sinn, obschon einige der angeführten punkte zweifelhaft erscheinen. mittendrin genannt, irgendwie versteckt und leicht überhörbar, fällt es dann: besondere gesellschaftliche wie individuelle geltung. das erscheint uns wichtig, will man doch irgendetwas beitragen mit einem werk, ensteht dieses doch nicht in einem luftleeren raum. genauso erwarten wir hinter jedem werk eine aussage, die intention des künstlers, denn irgendetwas muss es doch damit auf sich haben. geltung lässt sich mit den begriffen, und wikepedia weiß es schon wieder, ansehen, anerkennung und wirkung übersetzen. wie verschafft sich kunst, wie verschaffen sich kunstwerke geltung? durch gesellschaftliche übereinkunft, von experten nach nächtelangen fachdiskussionen aufgestellten kriterien und standards, eine geschickt ausgetüftelte werbestrategie oder dadurch, dass sich rezipienten irgendwie wiederfinden, etwas nachvollziehen oder voll mitgehen? es ist eine mischung aus allem, und man wird kaum nachzeichnen können, wie im einzelnen solch ein prozess abläuft, durch den ein kunstwerk aus der masse heraussticht. das ist von fall zu fall auch sehr unterschiedlich. doch diese erste vermutung trügt. unser kunstverständnis, ob als produzent oder konsument, ist erheblich durch verschiedene prozesse geprägt: im rahmen der sozialisation werden grundlegende einstellungen zur kunst erlernt. der literaturunterricht, der alle theorie größtenteils an klassikern verdeutlicht, weil da reimform und metrum vorhanden sind und nebenbei noch allerlei material, was alles leicht nachvollziehbar macht, aber damit eben auch spektisch gegenüber der gegenwart, weil gedichte von falkner nicht mehr zu verstehen sind und ein roman ohne satzzeichen daherkommt oder weil die auseinandersetzung mit den umgebenden umständen irgendwie übertrieben, langweilig oder sonst was ist und in der antike eh alles schon angelegt war (drei grundgattungen, die demokratie usw.). der kunstunterricht, der grundtechniken der bildenden kunst näher bringt, aber meist nicht über die theorie, sondern über die praxis – schüler lernen siebdruck – und der sich kunstgeschichtlich mit den großen und anerkannten etappen und epochen beschäftigt und dabei, weil zu komplex und man will die schüler nicht überfordern, beuys, dessen soziale plastik und alles weitere in diesem zusammenhang stehende nur kurz streift und damit jene befremdung bedingt, die sich einstellt, wenn dinge nicht den sehgewohnheiten entsprechen oder eine schwarze leinwand im museum begegnet. die fatalste konsequenz dieser erlernbaren und oft erlernten einstellungen aber ist die deutliche trennung zwischen kunst und leben: kunstwerke, die durch eine besondere künstlerische gestaltung gekennzeichnet sind und das leben verfremdet, abstrahiert und/oder stellvertretend für etwas, auschnittsweise oder gar nicht beinhalten. bei diesen hat man es dann mit welten zu tun, die doch noch irgendwie bekannt bzw. nachvollziehbar erscheinen, aber nicht unmittelbar, sondern vermittelt über die form, welche ausmalt und verziert. das sind theaterstücke, die vor mehr als hundert jahren entstanden sind, durch unzählige inszenierungen in unterschiedlichsten interpretationen und jeder künstlerischer ausrichtung vorliegen, in denen schwer erfahrbare ereignisse, zustände und gefühle durch schauspieler dargestellt werden, die aber auf grund fehlender erfahrung die distanz zur figur nur selten überwinden können. das sind literarische texte, die in keinem kanon fehlen, von schülergenerationen gelesen werden, ganz sicher literarisch wertvoll sind, die aber formal reflektiert nur ein bild dessen erzeugen können oder nur damit spielen, aber ganz selten nah dran sind, was man mit aller vorsicht leben nennen könnte, die distanz zum dargestellten ist vielen texten eingeschrieben. irgendwie braucht die eine das andere, allerdings ist die kunst ein eigengesetzlicher raum, ein eigenes system, was durch eigene kunsträume (museum, gallerie, werkstätten, theater und dergleichen) und regeln deutlich vom rest abgegrenzt ist. auch das ist weder schlimm noch tragisch, macht sogar einen großen reiz dessen aus, was mit kunst verbunden ist, könnte aber auch anders sein. dies bietet ebenso viele reize, wenn sie auch oftmals übersehen werden. dies ist oftmals der fall, wenn das leben in die kunst oder die kunst in das leben einbricht. dies ruft vielfältigste reaktionen hervor – applaus und begeisterung, befremdung und ablehnung, in den schlimmsten fällen gar verbale und manchmal zur gewalttätigkeit neigende aggressionen – und kann auf vielfältigste weise geschehen. eine kurze auswahl: 1) nicht schauspieler spielen rollen, sondern menschen sich selbst, also die eroberung des bühnenraums durch behinderte, kranke, abhängige, verblendete, „[…] die in unserem gesellschaftsystem eigentlich gar nicht vorgesehen sind“ und genau das sind, was sie sonst auch sind, nun aber die möglichkeit erhalten, sich auszudrücken. 2) stoffe, motive, gegenstände und dergleichen verweisen nicht auf eine immer anders geartete vergangenheit – von deren gestalt wir immer wieder postulieren, sie sei hochgradig aktuell und die mit ihr verbundenen konflikte seien heute genauso angelegt – oder stammen aus ihr, sondern beziehen sich in irgendeiner weise auf die gegenwart bzw. haben ihre grundlagen in der gegenwart. denn was vergangen ist, ist vergangen und dass die endlose auseinandersetzung mit den toten einen gewinn für heute darstellt, muss bewiesen werden. 3) kunst, kunstwerke und künstlerische prozesse laufen nicht isoliert von leben in gekennzeichneten kunsträumen statt. vielmehr – auch wenn das konsequenzen für das verhältnis von fakt und fiktion haben wird – wird das leben zur bühne, zur werkstatt, zur galerie. die direkte konfrontation schafft widersprüche. das hierin liegende potential kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. 4) der künstlerischen gestaltung, der formalen umsetzung von stoffen, motiven, gegenständen und dergleichen sind – anders als viele gegenargumente unterstellen – keine grenzen gesetzt. die aufhebung der trennung von kunst und leben hat keinen realismus bzw. eine realistische darstellungsweise zur folge, genauso wenig wie es hier um authenzität und dergleichen geht.

das prinzip der verbindung von kunst und leben ist nicht neu und wird seit jahrzehnten vielerorts realisiert. es geht auf joseph beuys und dessen erweiterten kunstbegriff sowie auf den durch ihn geprägten begriff der sozialen plastik zurück. die soziale plastik basiert auf der grundannahme, „[…] jeder mensch könne durch kreatives handeln zum wohl der gemeinschaft beitragen und dadurch plastizierend auf die gesellschaft einwirken.“ in diesem zusammenhang ist auch die viel zitierte these, „jeder mensch ist ein künstler“ entstanden. in opposition zu der in den sechziger jahren üblichen vorstellung vom künstler als ein in dem gebiet der kunst schaffenden entwickelt beuys den gedanken, dass der mensch „[…] durch denken und sprache soziale strukturen entwickelt.“ dies ist ein kontinuierlicher kreativer prozess und „die aufgabe der kunst sei es, dem menschen diesen prozess bewusst zu machen.“ kreativ wird als jede schöpferische tätigkeit betreffend verstanden. dieses prinzip wurde in den folgenden jahrzehnten immer wieder von verschiedenen künstlern und institutionen aufgegriffen. eine kontinuierliche realisierung und weiterentwicklung findet sich in den arbeiten christoph schlingensiefs. in theater- wie opernarbeiten, in projekten und aktionen hat er die grenzen zwischen kunst und leben – sei es durch den verzicht auf gelernte schauspieler und die integration gesellschaftlicher randgruppen wie behinderte oder neonazis, durch den einbruch in den öffentlichen raum und u-bahnen oder opernplätzen als kunstraum, durch die thematisierung der eigenen krankheit und damit verbundener ängste usw. – und damit folglich zwischen fakt und fiktion – durch bspws. einem container auf dem wiener-opernplatz, mit dem er 2000 die an der österrichischen regierung beteiligten fpö mit dem spruch „ausländer raus“wörtlich nahm und zwölf asylbewerber big-brother-ähnlich aus österreich herauszuwählen, den dann die gegner der fpö stürmten und dabei nicht verstanden, dass sie es hier mit kunst zu tun hatten – immer wieder niedergerissen. es ging im dabei nicht um realistische, den gegenstand fixierende darstellung, sondern immer um abstraktion, ein übertragen des gegenstands, weil hier widersprüche entstehen und das die kunst sei, die nicht verändern, sondern nur widersprüche, bilder erzeugen kann.

kunst und leben zusammenzuführen, bedeutet nicht, wie immer wieder vermutet wird, einen gegensatz zu gegenwärtigen prinzipien und räumen der kunst zu schaffen, sondern einfach nur, nicht beides zu trennen, sondern das eine wie das andere zu integrieren. dem werk, das dem entspringt, sind keine grenzen gesetzt. des weiteren begegnet dieses prinzip, wie erwähnt, des öfteren in der gegenwartskunst, ebenso wie in der gegenwartsliteratur, nur dass dieser umstand bisher nicht von wissenschaftlichen oder theoretischen interesse war. eine genauere auseinandersetzung damit wäre lohnend, könnte sie doch einsichten entwickeln, die neue wege eröffnen. und die skepsis gegenüber diesem prinzip aufzugeben, sich also darauf einzulassen, könnte einen völlig neuen blick auf die welt eröffnen. diese sendung soll einige anregungen bieten.

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