Würde man Stefan Zweig mit dem Stempel „Österreichischer Schriftsteller“ versehen, wäre dies fatal bezüglich seines schriftstellerischen Selbstverständnisses. Denn Zweig verstand sich in erster Linie als „Weltbürger“, was er auch immer wieder in der Wahl seiner Themen und deren Ausgestaltung zum Tragen kommt.
Der Text von Robert Klopitzke entstand für eine Sendung über österreichische Literatur von Plattform – Die Literatursendung auf Radio 98eins.
Schaut man sich das Gesamtverzeichnis der Werke Stefans Zweig an, so findet man neben den populären Novellen wie „Brief einer Unbekannten“ oder „Schachnovelle“ eine Reihe von Biographien, die sich mit historischen Persönlichkeiten und zwangsläufig auch mit deren zeitlichen Umfeld befassen. Die zeitliche Kulisse ist hierbei nur Zierwerk und dient der Authentizität, während Konflikte, deren Träger die von Zweig dargestellten Persönlichkeiten sind, in den Fokus des Autors und somit des Rezipienten rücken. So wird z.B. die Französische Revolution anhand der Darstellung von Marie Antoinettes Biographie zu einem historischen Phänomen, das auf diese Weise der literarischen Aufarbeitung mehrere Facetten als die rein historische bekommt.
Dem Schriftsteller Zweig geht also in erster Linie darum, eine Geschichte zu erzählen, die – mit all ihrem Konfliktpotential – einen historischen Ursprung besitzt und nutzt herausragende Persönlichkeiten dieser Zeit als Projektionsfläche dieser Spannungen.
Da die (europäische) Geschichte ein Sammelsurium an Verwicklungen, Umbrüchen, Krisen, Heroen- und Verbrechertum ist, bietet sie auch einen Fundus an Individuen, die sich in diesen Zäsuren auf besondere Weise auszeichneten. Hierbei scheint es so, als ob er sich Menschen erwählt, deren Bewertung innerhalb der Geschichte bis in die Gegenwart hinein kein einheitliches Bild ergeben; also zumindest facettenweise kontrovers blieben. Marie Antoinettes Biographie trägt den Untertitel: „Bildnis eines mittleren Charakters“, was wiederum auf Zweigs Interesse am psychologischen Profil seiner Figuren verweist: „Der Begriff ‚exakte Seelenwissenschaft’ bezeichnet genau, an welcher Seite geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis Zweig allein und ausschließlich interessiert war.“ schrieb Hans Dahlke über Zweig. Das Auffinden solcher Thematiken war zwar eher zufällig, nahm Zweig aber bei der Entdeckung in einen solchen Bann, dass er bestehende oder geplante Arbeiten extra unterbrach, wie es im Fall von „Maria Stuart“ geschah. Während eines Aufenthaltes in London im November 1933 las er ein einseitiges Buch über diese umstrittene Frau, die darin über alle Maßen glorifiziert wurde. In einem weiteren Buch wurde das völlige Gegenteil behauptet. „Nun begann der Fall mich zu interessieren. Ich fragte nach einem wirklich verlässlichen Buch. Niemand konnte mir eines nennen, und so suchend und mich erkundigend geriet ich unwillkürlich hinein ins Vergleichen und hatte, ohne es recht zu wissen, ein Buch über Maria Stuart begonnen, das mich dann Wochen in den Bibliotheken festhielt.“ Aus den vorgesetzten antagonistischen Darstellungen und Bewertungen ein und derselben historischen Figur erwuchsen der Eifer und die Suche nach einer eigenen Perspektive, die der Wahrheit näher kommen sollte, dadurch begünstigt, dass er weder Engländer oder Schotte, noch Protestant oder Katholik war und „[…] vielleicht ist es ihm eher gegönnt, an diese Tragödie ausschließlich mit dem zugleich leidenschaftlichen und doch unparteiischen Interesse des Künstlers heranzutreten.“, wie er in der Einleitung der Biographie bekennt. Auch in diesem Buch geht Zweig nicht wie ein klassischer Historiker vor, was sich in diesem speziellen Fall mit dem riesigen Konglomerat an historisch überlieferten Material, von dem man nicht sicher sein kann, was gefälscht ist und was nicht, als besonders schwierig erweist. Vielmehr interessierten ihn an diesem kurzen Leben mit tragischem Ausgang die übergeordneten historischen Konflikte, welchen Maria Stuart an mehreren Fronten gleichzeitig standhalten musste. „Die unaufhaltsame Auseinandersetzung zwischen Luther, Calvin und Rom wird durch einen merkwürdigen Zufall gerade in ihrem Schicksal dramatisch ausgetragen.“
An den von ihn gewählten historischen Personen lässt Zweig plastisch eine Epoche mit den ihn innewohnenden Eigenheiten erfahrbar machen und kann hierbei auf eine ausschweifende Theoriebildung der betreffenden Ära verzichten, ohne dabei an der Oberfläche zu bleiben. Die jeweilige Problemgenese macht er auf zweifache Weise erkennbar: zum einen wird die Entwicklung des Charakters der dargestellte Persönlichkeit in Bezug auf seine Zeit herausgearbeitet und zum anderen wird gezeigt, wie dieser geformte Charakter in dem Zeitenwandel schließlich agiert und was ihn dabei besonders (oder im Fall Marie Antoinette besonders banal) macht. Alle die von ihm in Biographien Dargestellten befinden sich in einem epochalen Wandel, den sie als solchen auch nicht unbedingt begreifen müssen; denn aus der Retrospektive ist so etwas immer einfacher zu bewerten. Die Ausnahme bildet hier vielleicht (soweit mir bekannt) Balzac, dem größere historische Zäsuren während seiner Lebenszeit erspart blieben, dessen Besonderheit aber in seiner Lebensführung und Schaffensweise – die sich stark von Zweigs unterschied – liegt. In diesem Sinne bleibt Stefan Zweig auch in erster Linie ein Psychologe, der die Charakteristiken einer Zeit durch die Brille einer bekannten Persönlichkeit betrachtet und die Veränderungen dann an derselben postuliert. „Die Erhellung des der historischen Wahrheit sah er einzig ermöglicht durch die Methoden und Erfahrungen der Psychologie. Alle anderen Bereicherungen der Geschichtswissenschaft blieben ihm fremd.“ meint wiederum Dahlke. Hier erkennt man auch Zweigs humanistisches Ideal, denn es ging ihm um Menschen, die (alle sehr von einander verschieden) Träger einer Geschichte sind, die er – gerade wenn sie Konfliktpotential bieten – auf seine Weise nacherzählt, um möglicherweise universelle Wahrheiten heraus zu kristallisieren, die dem Menschen mit historischem Bewusstsein in seiner Weiterentwicklung verbindlich werden. An dieser Stelle ist vielleicht eine Referenz an Zweigs eigene Vita angebracht. Immerhin ging die bürgerliche Welt, in der Zweig aufwuchs, in zwei Weltkriegen unter und machte ihn zum Exilanten, auch bezüglich dessen, was er als ‚geistige Heimat’ bezeichnete, wie wir aus den letzten Zeugnissen unmittelbar vor seinem Suizid wissen.
Doch nicht nur seine Biographien sind Spuren von Zweigs Auseinandersetzung mit historischen Stoffen. In den „Sternstunden der Menschheit“ schreibt er zunächst fünf historische Miniaturen, die er für zentral innerhalb der menschlichen Geschichte hält. Die späteren Ergänzungen haben natürlich mit den veränderten Verhältnissen zur Zeit der späteren Auflage zu tun. Die Erstausgabe von 1927 begründete seinen literarischen Ruhm und steht in seinem zeitlichen Kontext noch außerhalb der nationalsozialistischen Gefahr, die Zweig später bedrohte und ins Exil zwang. Doch auch ohne diese Erfahrung ist diesen Miniaturen ein Ideal innewohnend, welches durch die spätere Bedrohung noch an Intensität gewinnt. Die Besonderheit dieses setzt nicht erst bei der erzählerischen Brillanz Zweigs an, sondern liegt schon in der Auswahl der von ihm gewählten „Sternstunden“. So wirkt die Zusammenstellung der einzelnen Miniaturen auf den ersten Blick ziemlich willkürlich, da sich neben welthistorischen Erscheinungen, wie der Eroberung von Byzanz, auch die Entstehungsgeschichte der „Marienbader Elegie“ von Goethe befindet. Das dahinter wirkende Prinzip ist nämlich eng an sein Geschichtsverständnis, wonach Geschichte (zwar mit herben Rückschlägen) insgesamt nach dem Humanitären strebt, gebunden. Die ausgewählten Stoffe bieten sich gerade durch ihre Dramatik, welche sich durch die Zuspitzung innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne auszeichnet, an, obschon jene Ereignisse die Zeit des Stattfindens bei weitem überdauern.: „Solche dramatisch geballten, solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine einzige Minute zusammengedrängt ist, sind selten im Leben eines einzelnen und selten im Laufe der Geschichte.“ heißt es im Vorwort der „Sternstunden“
Ähnlich wie in seinen Biographien sind die vorliegenden Miniaturen anthropozentrisch, auch wenn diese nicht durchweg an uns heute noch bekannten Persönlichkeiten geknüpft sind. Ebenso taucht das Motiv der Zeit selbst durchgehend auf, wie schon die Überschriften partiell verraten („Das Genie einer Nacht“, „Die Weltminute von Waterloo“, „Heroischer Augenblick“ u.ä.). Zweig erzählt die historischen Stoffe auf ungewöhnliche Weise und probiert mehrere Gattungen aus. So bringt er beispielsweise die Nacht vom 22.12.1849, als Dostojevski bereits auf dem Richtplatz steht und das Erschießungskommando gerade das Todesurteil wegen revolutionären Umtrieben vollstrecken will, als ihn in letzter Minute Zar Nikolaus I. begnadigt, in eine lyrische Form. Ganz unbescheiden schreibt er ein Epilog zu Tolstois unvollendetem Drama „Und das Licht scheinet in der Finsternis“ und ersetzt die fiktive Gestalt des Nikolai Michelajewitsch Sarynzew durch Tolstoi selbst und bringt es somit in Verbindung mit dessen eigenen letzten Lebenstagen.
Durch diese Stilmittel setzt sich das Prinzip durch, dass es Zweig in erster Linie nicht um eine exakte Nacherzählung historischer Ereignisse in ihrem wissenschaftlich belegbaren Rahmen geht, sondern um die Wichtigkeit jener denkwürdigen Augenblicke in einer besonderen literarischen Weise; denn Literatur schafft hierdurch ihre eigene Wahrheit und Realitäten, die durch einen Autoren produziert werden. Es genügen nicht große Taten, große Leistungen in der Geschichte; eine doppelte Wirkung ist immer nötig: die großen Taten und die großen Erzähler, der spannende Charakter und der phantasievolle Darsteller.
Doch was bezweckt Zweig hiermit? Stellt er sich in eine bequeme Beobachterperspektive und lebt von dort einen selbstgefälligen Voyeurismus aus? Wenn dem so wäre, würde Zweig eine Fluchtbewegung im Sinne von ‚Davonlaufen’ vollziehen und könnte durch seine Texte ein Ankläger bestehender Verhältnisse sein. Damit wäre aber seine Wirkung über seinen Tod bzw. den der Kritik unterworfenen Umständen hinaus eine sehr geringe und er müsste heute nicht mehr gelesen werden, da es reine Zeitkritik wäre. Aber gerade durch die Einbettung in historische Stoffe wird ein Universalismus in Anspruch genommen, der über die bestehende Zeit hinaus strahlt. Martin Walser, der knapp ein halbes Jahrhundert später seinen Unmut über das geteilte Deutschland ausdrückt, war der Überzeugung, dass sowohl der Schreibende als auch der Lesende mit einem historischen Bewusstsein (welches sich durch Schreib- und Leseprozesse konstituierte) Unverhältnisse der Gegenwart erkennt und überwinden kann: „Hier kommt nun mein Vertrauen in das historische Bewußstsein, das ich im Leser beheimatet sehe […] Ich glaube, es existiere ein historisches Bedürfnis, das Katastrophenprodukt zu überwinden. Und ich glaube dieses Bedürfnis kann tradiert werden.“ In diesem Sinne schreibt auch Zweig und bleibt somit weiterhin lesenswert. Seine ‚Flucht’ in historische Stoffe stellt einen Perspektivenwechsel und damit die Möglichkeit der Bildung eines historischen Bewusstseins dar, welches Unverhältnisse zu seiner Zeit überwinden kann und daher weiterhin tradiert wird. Verschärft wird dieser Anspruch dann nach 1933 und endgültig nach 1938 als sich Zweig zur realen Flucht vor seiner einstigen Heimat gezwungen sieht und sich dies in gewissen Akzentuierungen innerhalb seines Oeuvres niederschlägt. In seinem Spätwerk eröffnen sich dann andere Lesarten. So kann man beispielsweise in der Ausgestaltung der Lutherfigur in seiner „Erasmus von Rotterdam“-Biographie eindeutige Parallelen zu Hitler ziehen; das Gleiche gilt in modifizierter Form für die Darstellung des Calvin in „Castellio gegen Calvin“. Zweig entzieht sich also nicht der hautnaherlebten Geschichte, sondern nutzt historische Vorlagen als Folie, um den Zustand der gegenwärtigen Welt für sich selber greifbarer zu machen; ob er damit den historischen Figuren gerecht wird, obliegt einer anderen Interpretation.
Der „Weltbürger“ Zweig scheitert an seiner globalen Heimat in Zeiten von Weltkrieg und Judengenuzid und sieht für sich keinen anderen Ausweg als den Freitod. Er hinterlässt uns dennoch ein umfangreiches Werk, das sich dem Humanismus verpflichtet fühlt mit deren unsterblichen Idealen, die jeden realen Terror überdauern.