Das barbarische Volkstreiben des Weihnachtsfestes beginnt gefühlt jedes Jahr etwas früher. Schon in der Adventszeit, die ja eigentlich als eine Fastenzeit der inneren Einkehr gedacht war, stürzen sich die Massen auf Schmalzgebäck und übersüßten Wein – umgeben von bunten Lichtern und Krach auf so genannten Weihnachtsmärkten, die pünktlich zu Beginn der Weihnachts- und Ende der Adventszeit schließen und mit visuellen und auditiven Kitsch jede ästhetisch leidende Seele beleidigen. Eine Abrechnung von Robert Klopitzke
Ähnlich wie das Münchner Oktoberfest benötigt Weihnachten zwei wesentliche Elemente: die Masse und den Mythos. Sie sind die bestimmenden Eckpfeiler des umtriebigen Gelages. Ausgehend von dem heidnischen Kult der Wintersonnenwende, überformt durch den Jesusmythos, säkularisiert vom Weihnachtsmann entstehen in der Gegenwart neue Kulte – wie der Konsum – und neue Mythen – wie die der Familie – an dem die Masse partizipiert. Wer nicht mitmachen darf, bestimmt nicht das einzelne Individuum, sondern der feiernde Mob. Vor zwei Jahren hörte ich in der Christmette der katholischen Greifswalder St. Josefs-Gemeinde den mittlerweile an Leberversagen verstorbenen Probst Pitrus predigen: „Gedenken wir heute auch derer, die dieser Tage allein sein müssen.“ Welch Hohn! Dem Gottesdienstbesucher wird das ganze Kirchenjahr hindurch die christliche Gemeinschaft, in dessen Mitte Jesus steht, vorgehalten und am Heiligabend gibt es plötzlich Menschen, die alleine sind, nur weil diese nicht ihr vermeintliches Glück und Wärme von einer archaischen Konstruktion namens ‚Familie’ – die in diesem Kontext für Weihnachten essentiell zu sein scheint – beziehen? Glücklicherweise bin ich kein tief spiritueller gläubiger Mensch, sonst hätte mir genannter Ausgrenzungssatz schwer zu schaffen gemacht, der mir ja erst bewusst gemacht hatte, dass ich nach Maßgabe aller Weihnachtsfestteilnehmer alleine war, obschon ich vor der Messe gar nicht dieses Empfinden hatte. Dabei bin ich extra in eine katholische Kirche gegangen; die protestantischen machen einen zu wenig feierlichen Eindruck und sind überfüllt mit voll gefressenen Menschen, die ihrem barbarischen Frönen noch ein wenig Tiefgang verleihen möchten. Zudem sind die Predigten dort meist überladen mit ewig gleicher Konsumkritik, wobei es doch der Konsum ist, der real greifbar ist und der den christlichen Mythos weiter mit sich schleppt, um wenigstens an diesem einen Tag im Jahr die Kirche zu füllen.
Bevor ich die Kirche wie ein Nüchternder das Oktoberfest verließ, fiel mein Blick noch auf die beleuchtete Krippe und insbesondere auf die dort am Rand stehenden Hirten. Schon seit Kindertagen übten die Gestalten der Hirten auf mich einen besonderen Reiz aus. Zum einen wirkt es so, als ob man sie in der Gegenwart gar nicht mehr antrifft – sie muten anachronistisch an, des Weiteren sind sie Ausgegrenzte einer menschlichen Gemeinschaft, die sie nichts anzugehen scheint. In der Gesamtschau sind sie also Menschen der Peripherie mit einer spürbaren Gefahr für das sich selbst genügsame Kollektiv. Ihr biblischer Bericht machte die kalendarische Festlegung des Weihnachtsfestes problematisch, da sie sich im Dezember nicht mehr mit ihrer nicht-menschlichen Herde auf der Weide befinden. Wer in seiner Kindheit über mehrere Jahre hinweg zu der Laienschauspieltruppe der Krippenspiele gehörte, kann das Gefühl der Peripherie intuitiv nachempfinden. Man ist nicht Teil der Dichotomie von Heiliger Familie und derer, die ihnen keine Herberge geben wollen, sondern steht gewissermaßen außerhalb des eigentlichen Plots und wird nur als Augenzeuge für ein unerhörtes Ereignis instrumentalisiert. Voll bejubelt und akzeptiert vom Publikum wurde man erst, wenn man in der Krippenspielhierarchie aufstieg und schlussendlich den Josef geben durfte, der die Obergrenze bildete. Der eigentliche Protagonist Jesus durfte nie durch einen realen Menschen gespielt werden, aus dreierlei Gründen: erstens sind Babys schlechte (weil nicht berechenbare) Schauspieler, zweitens die theologische Angst die Darstellung eines Neugeborenen durch einen Neunjährigen wäre zu blasphemisch und drittens die existenzielle Angst ein halbes Jahr später als gleicher Jesus – wegen dem Wiedererkennungswert für die Zuschauer – in einem etwaigem Passionsspiel ans Kreuz geschlagen zu werden.
Mein Weg führte mich weg von der Kirche und den Hirtengedanken in die von der Altstadt her betrachtet ebenso am Rande liegende Greifswalder 24-Stunden-Kneipe „Treffpunkt“, die gleichfalls mittlerweile an Leberversagen verstorben ist. Ein allzu oberflächlicher Beobachteter hätte geurteilt: Hier treffen sich gescheiterte Randerscheinungen der Gesellschaft, die ihre Einsamkeit in Alkohol ertränken. Das ist teilweise richtig, da die hier versammelte Gemeinde genauso zur Herde verdammt war, wie die Daheimgebliebenen unter dem Weihnachtsbaum – nur war die Zelebrierung im „Treffpunkt“ eine ehrlichere: sie waren ohnehin jeden Abend hier, brauchten für die Zusammenkunft keinen Grund der Mystifikation und schon gar nicht die Legitimation der Masse. Als die Stimmung – wie so oft – zu kippen begann, verlief ich mich stark angetrunken noch in ein anderes Nachtlokal, wo ich Jennifer traf. Sie war nach eigenen Angaben eine Greifswalderin, die wegen ihrer Ausbildung seit über einem Jahr in Düsseldorf lebte und die Heimkehr deprimierte sie, weil Weihnachten nicht mehr dasselbe sei und die Heimatstadt sowieso usw. Sie schien nicht sehr clever, dafür umso enttäuschter von den Menschen, die doch so zentral für das Weihnachtsfest sein sollten. Auf all ihre menschlichen Fragen gab ich ihr noch in der gleichen Nacht im Nebenraum des gleichen Lokals eine animalische Antwort. Bleibt nur zu hoffen, dass in einer fernen Zukunft bei einer neuerlichen Überformung der Wintersonnenwende das orgiastische Element wieder vermehrt in den Mittelpunkt der Feierlichkeiten rückt.{module Robert Klopitzke}