Die x-te Chance – Matthäus 18, 21 – 35

Ihr Lieben,

ich lass mich gerne überraschen – zumindest positiv. Und so war es auch am Freitag, als Tommasch mich anrief und meinte: ich schick dir jetzt meinen Predigtentwurf. Nein, er sagt nicht Predigt – er nennt es Textbeitrag. Aber das ist in dem Falle nun wirklich nebensächlich. Denn was er zum Thema „Zweite Chance" geschrieben hat, ist eindeutig näher an einer Predigt als an einem kühl distanzierten Beitrag für irgendeine Veranstaltung.

Überhaupt freute ich mich, dass Tommasch nach längerer Pause gesagt hat: ich versuchs mal wieder, im Gottesdienst was zu sagen. Damit hatte ich kaum noch zu rechnen gewagt. Und dann „Zweite Chance" als Thema. Gut das, da kann ich selbst mich auch damit beschäftigen.

Ich hab lang überlegt, verschiedene Texte durchgeschaut, aber dann letztlich doch den hier aus dem Matthäusevangelium herausgesucht:

Matthäus 18, 21 – 35

(21) Dann trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben? Bis siebenmal?
(22) Jesus spricht zu ihm: Ich sage dir: Nicht bis siebenmal, sondern bis siebzigmal sieben.
(23) Deswegen ist es mit dem Reich der Himmel wie mit einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte.
(24) Als er aber anfing, abzurechnen, wurde einer zu ihm gebracht, der zehntausend Talente schuldete.
(25) Da er aber nicht zahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und die Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und [damit] zu bezahlen.
(26) Der Knecht nun fiel nieder, bat ihn kniefällig und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, und ich will dir alles bezahlen.
(27) Der Herr jenes Knechtes aber wurde innerlich bewegt, gab ihn los und erließ ihm das Darlehen.
(28) Jener Knecht aber ging hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldig war. Und er ergriff und würgte ihn und sprach: Bezahle, wenn du etwas schuldig bist!
(29) Sein Mitknecht nun fiel nieder und bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir, und ich will dir bezahlen.
(30) Er aber wollte nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er die Schuld bezahlt habe.
(31) Als aber seine Mitknechte sahen, was geschehen war, wurden sie sehr betrübt und gingen und berichteten ihrem Herrn alles, was geschehen war.
(32) Da rief ihn sein Herr herbei und spricht zu ihm: Böser Knecht! Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich batest.
(33) Solltest nicht auch du dich deines Mitknechtes erbarmt haben, wie auch ich mich deiner erbarmt habe?
(34) Und sein Herr wurde zornig und überlieferte ihn den Folterknechten, bis er alles bezahlt habe, was er ihm schuldig war.
(35) So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt.

 

Vor kurzem bin ich über folgende Redensart gestolpert: Über einen Menschen, dem man nicht gut vertrauen kann, wurde da gesagt: "Den kannst du vergessen, wenn du dich auf den verlassen willst. Das ist einer, der lügt doch schon beim Beten!" "Das ist einer, der lügt schon beim Beten…"

Denn ich muß zugeben, daß ich genau die gleiche Frage ziemlich oft habe, wenn ich das Vaterunser bete! Daß ich mich dann frage: "Lüge ich jetzt beim Beten?" Will ich wirklich meinem Schuldiger so vergeben, wie mir Gott vergeben hat? Rechne ich mit solcher Vergebung und lebe ich aus ihr? Oder ist das eine geheuchelte und bloß dahergeplapperte Riesenlüge, daß ich gar nicht bereit bin, den Vater um Vergebung zu bitten nach der Weise, wie auch ich meinem Schuldiger vergebe.

Ein anderer fragt uns das heute morgen auch; er fragt uns, ob wir beim Beten und beim schöne-fromme-Worte-Sagen lügen. Jesus ist das, der hier seine Frage stellt: Glaubst du das überhaupt, was du im Gebet sagst, daß Gottes Wille wie im Himmel, so auf Erden geschehen soll und daß du Vergebung hier empfängst, die du in einer Kettenreaktion an den, der neben dir lebt, weitergegeben werden darf?

 

Machmal hab ich den Eindruck, wir machen es uns zu einfach: Hier ist was schief gelaufen – der Typ hat mir Unrecht getan – jetzt ist er für mich erledigt und abgeschrieben. Ich erlebe es, dass ursprüngliche Freunde seit Jahren kein vernünftiges Wort mehr miteinander wechseln – da sind Verletzungen auf beiden Seiten. Und keiner will sich aus seiner Schmollecke heraus begeben.

 

So kann ich mir das auch bei Petrus vorstellen: Wie oft muss ich mir den Scheiß eigentlich gefallen lassen und bereit sein, dem anderen eine neue Chance zu geben? Petrus scheint ganz schön großzügig: reicht sieben mal? Das ist deutlich mehr als die zweite Chance, das ist schon jenseits dessen, was in unserer Gesellschaft als langmütig gilt.

Doch Jesu Antwort ist hart und ablehnend: nicht bis zu sieben Mal! Nein, bis zu siebzig mal sieben Mal. Und das meint nicht: fang an zu zählen und höre bei 490 Mal auf. Sondern das meint: du musst so oft vergeben und dem anderen eine neue Chance einräumen, bis du das Zählen an sich vergessen hast. Immer wieder soll er eine neue Chance bekommen.

Denn – und hier kommt dann das Gleichnis Jeus zum Einsatz: Bei aller Rechnerei – schau dich doch an, wie oft Du eigentlich Scheiße gebaut hast und auf Vergebung angewiesen warst!

 

Und liebe Gemeinde, Jesus verblüfft da nicht nur Petrus, sondern auch mich, gebe ich zu. Manchmal kann ich nämlich Fieslingen mit Mühe gerade dreimal verzeihen, schaffe noch nicht mal siebenmal, wie weit bin ich dann noch von 490, wie weit bin ich dann noch von Jesus und seinem Reich, in dem Gottes Wille geschieht, entfernt… Und manchmal – wie gesagt – drohe ich beim Beten zu lügen: "Vergib mir, Vater unser, wie auch ich den Schuldigern vergebe", ist mitunter ziemlich schwer. Meine ich, und meinte sicherlich damals auch Petrus – und ich kann gut verstehen, daß er "siebenmal" das Maximum fand, wenn Fieslinge und Schuldiger in ihrer Gemeinheit so schrecklich sind zu einem…

Und so als holte Jesus den Petrus und mich bei unserem kritischen Nachdenken über unsere Schuldiger aus der Vaterunserbitte ab, führt Jesus in einer nicht minder drastischen Geschichte seine Rechenart des Reiches Gottes konsequent weiter: 10.000 Zentner ist da die mathematische Ausgangseinheit: zehntausend Zentner Silber – darum geht es.

Liebe Gemeinde, ich muß hier die Geschichte nicht groß erzählen und auslegen: sie ist klar und einleuchtend, und unmöglich zugleich – jeder von uns kennt sie – die meisten von Kindesbeinen an. Unmöglich jedenfalls ist da der Herr, der die Riesensumme von 10.000 Zentner Silber einfach zu "peanuts" erklärt, nachdem der Schuldner daran kaputtzugehen drohte: er liegt da wimmernd und bittend vor dem Herrn auf dem Boden, kann es nicht blechen, Frau und Kinder wären mit ruiniert, und nach der Rechenweise dieses unmöglichen Herrn ist auf einmal aus 10.000 Null geworden:"10.000 minus 10.000 = 0, Du bist frei – hab keine Angst, die Schuld ist dir erlassen!"

Und jetzt kommt die andere Rechnungs-Einheit dazu im zweiten Akt von Jesu Beispielserzählung, dieser zweite Akt der den Petrus damals und uns heute in Rage bringt und wütend macht: um 100 geht es da nur; ‚Peanuts' sind doch jene 100 Silbergroschen, eine Kleinigkeit auf deutsch ist dieser Betrag, doch unser Knecht dort rechnet deutlich anders als sein Herr: 100 Silbergroschen sind und bleiben 100 Silbergroschen, 100 = 100, so rechnet der, Recht ist Recht, der andere schuldet es mir, also heraus damit!

Und diese pingelig-genaue Rechenweise, daß unser gerade geretteter Knecht dem anderen keinen Pfennig erläßt, ihn auf Heller und Pfennig den bezahlen lassen will, daß er auf ihn losgeht wie ein tollwütig gewordenes Wildschwein, ihn am Kragen packt und wütend würgt und ins Gefängnis schließlich werfen läßt, die macht in Jesu Geschichte nicht nur die Mitknechte rasend vor Wut; ich kann mir gut vorstellen, wie auch der Petrus empört war über die Kleinlichkeit des supergeizigen Knechtes auf seinem Ego-Trip.

Und mir geht es genauso, natürlich; ich bin da wütend über diesen Knecht (wie jeder hier) und finde, das ist ungerecht: wer die unmögliche Rechenweise dieses Herrn 10.000 minus 10.000 gleich Null am eignen Leib erfahren hat, kann und darf eigentlich gar nicht mehr aufrechnen nach altem Maßstab: da ist 100 dann nicht gleich 100, weil Recht Recht bleibt, da sucht man ein anderes Echo auf das Erfahrene.

 

Wie oft muss ich vergeben – und wie oft brauch ich selbst nicht die zweite, nein die xte-chance, um mein Leben weiterführen zu können? Bei Gott, so meint Jesus, ist keine Schuld so groß, dass sie nicht einfach auf Null gesetzt werden kann. Doch dem Mitmenschen eine solche Großzügigkeit einzuräumen, das ist schwer, das fordert unsere Geduld heraus. Doch genau darauf kommt es an: Wenn ich glaube, als Christ leben zu wollen, dann muss das meine Maßstäbe im Alltag genau so verändern. Es geht dann eben nicht mehr nur um die zweite Chance, auf die ein Mensch Anspruch hat. Da geht es um die 599. oder die 1009. oder was auch immer.

Amen<–>