Und wieder mal: Die Liebe. Predigt vom 10. Juni 2007 im "Kontorkeller am Markt"

Text: 1. Johannesbrief 4, 16b-21

Ihr Lieben,

und wieder mal: Die Liebe.

Es gibt einen Cartoon mit Charly Brown. Auf dem ersten Bild breitet er enthusiastisch die Arme aus und ruft: 'Ich liebe die Menschheit.' Auf dem zweiten Bild sieht er sich um, sieht Lucie, Peppermint Petty, Linus und die anderen Kinder der Peanuts-Welt. Auf dem dritten Bild sagt er: 'Aber ich hasse die Menschen.'

Damit widerlegt er eindrucksvoll die Behauptung des Johannesbriefes, es sei leichter, etwas zu lieben, das man sieht, als zu lieben, was man nicht sieht. Manchmal, so zeigt uns Charly Brown, ist es umgekehrt. Und es gibt vermutlich niemanden, der solche Gedanken nicht selber schon hatte. Eben hat man sich noch in einer Stimmung befunden "Seid umschlungen Millionen…" – da ärgert man sich über eine Marotte des Partners, über ein unbedachtes Wort des Gegenübers oder über einen anderen Autofahrer, und schon ist es aus mit dem überschwänglichen Liebesgefühl.

Und doch – und immer wieder: Christen reden von der Liebe, immer wieder. Und kaum jemand hat das so eindrücklich gemacht wie der Verfasser dieses Briefes.

1. Johannesbrief 4, 16b-21
4,16 Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
4,17 Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, daß wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe,
4,18 sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.
4,19 Laßt uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.
4,20 Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und haßt seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?
4,21 Und dies Gebot haben wir von ihm, daß, wer Gott liebt, daß der auch seinen Bruder liebe.

Gott ist die Liebe. Ein steiler Satz. Ein eindeutig christlicher Satz. Kein Muslim könnte so von Gott sprechen, bei allem Gemeinsamen, was diese Religionen auch haben mögen.

Gott ist die Liebe. Aber aufpassen; es heißt hier nicht: Die Liebe ist Gott. Denn hier schreib jemand. für den die Liebe eine konkrete Gestalt hat, an der sich alle Liebe messen lassen muss; Jesus Christus.

Gott ist Liebe, sagt Johannes. Er sagt nicht: Gott ist die Liebe oder: Gott ist nur Liebe. Sondern er meint: Gott ist ganz Liebe. Er kennt die Welt, die er schuf, denn er ist ihr ganz nahe gekommen. Er weiß, wie es sich anfühlt, wenn Menschen lieben, er hat am Leibe Jesu Christi erfahren, wie ihre Leidenschaften sich auswirken. Wenn wir nach Gott fragen, wenn wir wissen möchten, wer er ist und wie er handelt, dann müssen wir uns nicht mit abstrakten Begriffen und Denkmodellen aufhalten. Wir können anderen Menschen Gott zeigen, wenn wir ihnen von Jesus erzählen – davon, wie er mit den Menschen umgegangen ist, die ihm begegnet sind. Von Wundern können wir erzählen, davon, daß er heilsame Veränderungen bewirkt und zerbrochene Beziehungen wieder hergestellt hat. Seine Gleichnisse und seine Reden können wir erzählen und uns selbst an ihnen vergewissern, wer Gott ist.

Gott ist die Liebe. Ver-rückt vor Liebe ist Gott. Immer wieder macht er sich zu uns auf, immer wieder riskiert er, zu uns zu kommen, obwohl er uns besser kennt als wir uns selbst. Wir verletzen ihn, er lässt sich dennoch immer wieder auf uns ein. Hinter unserer Verschlossenheit und Härte entdeckt er immer noch unsere Sehnsucht, angenommen werden zu wollen, wie wir sind.

Gott ist die Liebe. Verletzlich ist er, weil er offen ist, angerührt, betroffen von unserem Leid. "Angeschlagen" sehnt er sich immer neu hoffnungsvoll danach, dass wir annehmen, was er uns schenkt: sich selbst. "Angenagelt" schreit seine Liebe auf: "Seht doch, wohin der Hass Euch führt! Hört auf damit! Kehrt um! Diesen Hass wollt Ihr doch nicht! Ihr wollt doch gemocht werden! Ihr wollt doch Gemeinschaft! Ihr wollt doch, dass es gut zwischen euch ist! Ihr wollt doch, dass Vertrauen unter euch wohnt! Ihr wollt doch, dass Gerechtigkeit herrscht!"

Gott ist die Liebe. Er erträgt uns Menschen aus reiner Liebe trotz allem, trotz schreiendem Unrecht in der Welt, trotz Verhungernden, Gefolterten, trotz Macht und Gier. Gott, der nichts als Liebe ist, versteht uns – mehr, als wir uns verstehen. Und er hofft auf uns, denn er hat uns ja so vor Augen, wie wir sein könnten. Er sieht unsere liebevollen Möglichkeiten. Und wo wir scheitern, lässt er uns nicht im Stich.

Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Gott bleibt bei uns, seine Sehnsucht nach uns lässt ihn nicht los. Er gibt, wir dürfen nehmen. Er berührt uns, wir müssen es nur spüren. Er lädt uns ein, uns selbst und die anderen so zu sehen, wie er uns sieht: als seine Geliebten. – Manchmal scheint das unmöglich zu sein, doch Gott ist ver-rückt vor Liebe. Uns will er auch ver-rücken: weg von unserem Kreisen um uns, hinein in die Freiheit der Kinder Gottes, hinein in den Glauben und das Leben mit ihm.

Die Liebe und der Glaube haben eines gemeinsam: sie setzen Vertrauen voraus. Eine Liebe zwischen Menschen macht nur dann Sinn, wenn man einander auch vertrauen kann. Das Vertrauen sollte auch tief genug sein, um eine Krise zu überstehen. Der Tag der Krísis, der Tag des Gerichts findet nicht nur am Jüngsten Tage statt. Jede Beziehung muß sich einmal bewähren; in jeder normalen Ehe kriselt es mal. Bestand hat eine Beziehung nur dann, wenn die Liebe so tief verwurzelt ist, daß sie den Stürmen einer Krise widerstehen kann. Oft aber ist es so, daß wir meinen, uns schützen zu müssen, dass wir Angst haben vor den Vorwürfen und dem traurigen Blick. Oft fehlt das Vertrauen zum Partner oder zum Freund. Da sichert man sich lieber ab und meint auch, ganz vernünftig zu sein. Fehlendes Vertrauen weist auf fehlende Liebe hin. Fehlende Liebe durchsteht eine Krise nicht. Furcht vor dem Scheitern einer Beziehung habe ich oft erlebt. Und dann ebenso erlebt, wie diese Furcht wahr wurde. Nur zweimal war ich mir völlig sicher in der Partnerin – völlig ohne Angst davor, mich lächerlich zu machen konnte ich mit ihnen umgehen.

In der Liebe bleiben heißt dann: sich verletzlich zu machen, offen zu sein, die Hoffnung nicht aufzugeben, auch einmal zurückzustehen für den anderen – nicht immer – aber auch mal. In der Liebe bleiben heißt dann: zu verzeihen, neu anzufangen immer wieder.

Der große russische Erzähler Leo Tolstoi hat viele seiner Erzählungen mit biblischen Textstellen verknüpft. Zu unserem Predigttext erzählt er die Legende: "Wovon Menschen leben." Da soll der Erzengel Michael die Seele einer armen Frau von ihr nehmen und in den Himmel tragen. Die Frau hat mutterseelenallein Zwillinge geboren. Ihr Mann ist einige Tage zuvor im Wald tödlich verunglückt. Und nun soll sie sterben und ihre neugeborenen Töchter allein lassen. Sie fleht den Engel an, ihr die Seele zu lassen. Michael hat Mitleid mit ihr, er läßt ihr die Seele und kehrt in den Himmel zurück. Gott aber, der ja die Liebe ist, hat aber kein Verständnis dafür, daß Michael seinen Auftrag nicht ausgeführt hat. Der Engel soll wieder zur Erde zurück, der armen Frau doch noch die Seele nehmen und zur Strafe muß er solange auf der Erde bleiben, bis er die Anworten auf drei Fragen gefunden hat: "Was ist in den Menschen?" "Was ist den Menschen nicht gegeben?" "Wovon leben die Menschen?"

Der Engel kehrt nun zur Erde zurück und nimmt der Frau ihre Seele. Ihr Leichnam fällt zurück und verletzt eines der beiden Mädchen am Fuß. Die Seele fliegt allein in den Himmel, während der Engel in einen Menschen verwandelt wird. Nackt sitzt er da mitten im kalten Winter und hat Angst zu erfrieren. Da kommt der Schuster Semjon vorbei, der in einer üblen Laune ist, sich Sorgen macht und nach Schnaps riecht. Dieser Semjon nimmt ihn mit zu sich nach Hause. Dort wartet schon sein keifendes Weib.

Erst will sie beide Männer vor die Tür setzen. Als aber der Mann ihr vorhält: "Matrjona, ist denn kein Gott in dir?", da läßt sie sich erweichen und gibt dem Gast und ihrem Mann zu essen. Der unbekannte Mann, er nennt sich Michailo fängt plötzlich an zu lächeln. Er hat die erste Antwort gefunden: "Was ist in den Menschen?" – In den Menschen ist Liebe, in den Menschen wohnt Gott!

Michailo bleibt nun bei den beiden und erlernt von Semjon das Schusterhandwerk. Wie das bei Engeln so ist, macht er die Arbeit weitaus besser als der Meister. Es kehrt ein bescheidener Wohlstand ein. Nach einem Jahr kommt ein dicker vornehmer Mann und verlangt Stiefel, die aus dem mitgebrachten Leder geschnitten und geschustert werden sollen. Er droht, Semjon in Gefängnis zu bringen, wenn er auch nur einen Fehler macht. Die Arbeit übernimmt Michailo. Er lächelt nun zum zweiten Mal.

Warum? Er hat nämlich hinter dem reichen Mann den Todesengel erkannt. Damit hat er auch die Anwort auf die zweite Frage gefunden: "Was ist den Menschen nicht gegeben?" – Den Menschen ist nicht gegeben, die Stunde ihres Todes zu wissen.

Weitere sechs Jahre gehen ins Land. Da kommt eine Frau mit Zwillingen. Eines der beiden Mädchen hat einen Klumpfuß, es soll einen besonderen Schuh bekommen. Die Frau erzählt ihre Geschichte. Sie hatte selbst ein eigenes Kind zur Welt gebracht, als die Bauern des Dorfes ihr die beiden Zwillinge brachten. Sie hatte genug Milch, um drei Kinder gleichzeitig zu stillen. Ihr eigenes Kind stirbt nach drei Jahren, jedoch hat sie die Zwillinge so liebgewonnen, wie ihr eigenes. "Ja!", sagt die Frau des Schusters. "Ohne Vater und Mutter können Kinder leben, ohne Gott aber nicht!" In dieser Bemerkung erkennt der gefallene Engel nun die Antwort auf die dritte Frage: "Wovon leben die Menschen?" – Die Menschen leben von Gott.

Der Engel Michael erklärt sich nun seinen Gastgebern und sagt zum Abschied: "Ich wußte auch früher, daß Gott den Menschen das Leben gegeben hat und daß er will, daß die Menschen leben; jetzt begriff ich noch etwas anderes. Ich erkannte: Gott wollte nicht, daß jeder für sich lebt, und darum offenbarte er den Menschen nicht, was jeder für sich braucht; er wollte, daß sie in Gemeinschaft und Eintracht leben, und darum offenbarte er ihnen, was sie für sich und für alle brauchen. Ich begriff: den Menschen scheint es nur so, als lebten sie von der Sorge um sich selbst, in Wahrheit leben sie von der Liebe. Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm, denn Gott ist die Liebe."

Amen.