SORGENICHs MITTWOCHs-REVUE 11

eigentlich mochte ich keine diskussionsnachmittage, keine diskussionsmittage und einen diskussionsmorgen schon gar nicht.
das kolloquium unter dem titel -„Wanderung zwischen den Welten. Bruch- und Kontinuitätserfahrungen im 20. Jahrhundert.“- sollte um 9.30 uhr beginnen. man hatte mich eingeladen, zwei, drei texte zu lesen. anfänglich wehrte ich mich ein bißchen gegen die einladung, aber die versprochenen 250 euro ließen uns hinfahren.
ins zugewiesene quartier gelangten wir nur durch eine anmeldung in einem untertrikotagenladen. die vielleicht fünfundreißigjährige quartiermutter reagierte auf unser erscheinen völlig entnervt, versuchte dennoch einer anderen frau mit aufrechterhaltener freundlichkeit einen hauchdünnen schlüpfer zu verkaufen, und ihr kerl machte mich abends an, weil ich in der bude unterm dach eine einzige zigarette geraucht und die tür abgeschlossen hatte. meine frau und ich hingen in der dritten etage rum, und er hatte sich von unten auf den weg gemacht, nicht aufgehört zu klopfen, und nach meinem anziehen und tür aufschließen gemeint: „sie dürfen hier nicht rauchen! das ist ein nichtraucherhaus! hat ihnen das niemand gesagt?! und die tür brauchen sie auch nicht abzuschließen, wir sind hier nur zu viert! suchen sie sich morgen ein anderes quartier!“
nun war es morgen geworden und wir hockten um 9.30 uhr im kolloquium. verschnupft, müde und fluchtbereit. ein doktor begann seinen vortrag über die abwanderung der bevölkerung in mecklenburg-vorpommern seit dem mauerfall, gab über zahlen auskunft, zuzüge, sterbefälle, geburten. dann setzte sich eine professorin mit an den tisch. sie wirkte hoffnungslos, sprach über ihr pendeln zwischen rostock und heidelberg seit 1999, ein bißchen über die schwierigkeit der integration am lehrstuhl gegenüber westlichen kollegen, über die tabuthemen dieser sozialen schicht: all das persönliche und das liebe, geile, teure geld. und dann, wie durch die 1999 eingetretene migration die familie den bach runterging, und daß man freundschaften nur als jugendlicher schließen kann.
irgendwann war eine schriftstellerin dran und nach ihrem text diskutierte alles über ein west- oder ostouting durch die worte plastik und plaste. denn würde man in seinen sätzen das wort plaste aussprechen, würden alle im westen erkennen, daß man aus dem osten kommt. bettet man das wort plastik ein, erkennen alle einen westdeutschen…
ich konnte nicht mehr, stöhnte, ließ durch das stöhnen vermutlich anstrengendes unverständnis entweichen, wut, welche sich über den nullwert solcher diskussionen angesammelt hatte. es war 15.00 uhr und ich kniff mich. kniff mit beiden händen in die fettringe an meinen seiten. der schmerz tat gut, entlastete unverständnis, und meine frau schaute mich und mein gebahren verständnisvoll an.
ich ging vor die tür und rauchte. beim rauchen wünschte ich mir, mit meiner frau steinalt zu werden, gemeinsam schlimmste krankheiten und andere grausamkeiten durchzustehen. gemeinsam mit aller kraft und so oft wie möglich, den störfeuern der mitlebenden zu entkommen.
ich kam wirklich noch dran, schnaubte nochmal ein winziges stück meiner erkältung aus, sammelte meine gesichtsschmerzen und meine wut zu einem gemeinsamen bündel und setzte mich da vorne hin. ursprünglich hatte ich vier texte rausgesucht, doch da man inzwischen mit der zeit im verzug war, las ich nur zwei. ich eröffnete mit „übergegangen“, einem text, in dem ich beschrieb wie man mich wie ein atmendes stück scheiße aus der ddr rausgetreten hatte und ich erstmal eher zufällig auf der reeperbahn in hamburg landete. dann beendete ich mit dem zweiten text namens „kurzgerafft“ das lesen. der text rundete den ersten ab, indem ich die chaotische ankunft im notaufnahmelager und ein bißchen zeit danach beschrieb.
die diskussion begann, und obwohl im wort diskussion ein doppel s vorhanden war, hatte mich dieses wort noch nie an einen kuss erinnert. irgendwann erzählte ich etwas über das gefühl der sinnlosigkeit innerhalb meines schreibens, über meine einstellung gegenüber der menschheit und brachte meine wahrnehmung als kontinuität rüber, nämlich, daß die menschheit einen verrosteten schraubenzieher im schädel stecken hatte.
irgendeine ältere frau hatte ich damit so auf die palme gebracht, daß sie rief: „nun reißen sie sich doch mal zusammen! wie kann man nur so eine einstellung haben! wir haben so viel erreicht. nach dem krieg und heute. wie können sie bloß so eine einstellung zum leben haben.“
sie merkte nicht, daß sie ihren atem verschwendete. wir wollten alle nicht wahrhaben, daß wir verschwendung waren. wir menschen waren alle verängstigte und doch wieder kick-gierige zugvögel. nur schade, daß der mensch als zugvogel im geist und im bewußtsein zu oft auf der stelle flatterte. verschwendung für ein leben vor einem verschwommenen zufriedenheitspunkt, den der mensch in seiner lebenslangen sehnsucht einfach nicht fand, den die verschwendung in ihrer suchenden migration nicht erreichen konnte.
menschen waren in der lage, sich ringsum schlimmste zustände und grausamste daseinsbrüche zu schaffen, nur um sich einbilden zu können, irgendwann würde es besser werden und man könnte sichtbar zufrieden sein.
was hätte ich der frau sagen sollen? vielleicht: ‚…nicht einen einzigen stein hätte ich für rationierte fettmarken nach einem krieg aus dem schutt geklaubt und abgeklopft, nur um eine nächste handgemachte scheiße zu erreichen…‘?
doch ich antwortete nur: „das was sie sagen, das höre ich schon mein ganzes leben lang! das wurde mir schon als jungpionier ständig ins vorhandensein getrieben! ich kann nichts dafür, daß es mich gibt! und für die von menschen gemachten zusammenbrüche ringsum genausowenig!“
die frau winkte ab, ich hörte: „nein, so was, aber wirklich…!“ und dann rutschte sie unruhig auf ihrem stuhl hin und her.
ich war in das alter gekommen, wo ich manche frauen zwar als omi erkannte, aber wo es durchaus sein konnte, daß die, die wie omis aussahen, schon längst jünger waren als ich.
ich ließ den tisch zurück, küßte so gut es meine erkältung zuließ meine frau, schnappte nach luft und sammelte am tresen meine zum kauf mitgeführten bücher ein. ich wußte wieviele ich hingelegt hatte. von jeder sorte drei. doch es fehlten zwei und der chef des hauses ging auf suche, rief mich nach einer weile und dann fingerte ein typ „immer alles kurz vorm tod“ und „ich nickte mit dem mundgeruch“ aus seinem rucksack.
„es tut mir leid. ich dachte, die bücher sind umsonst. was kosten die beiden bücher denn?“ sagte er. ich nannte ihm den preis.
er wandte sich an seine begleiterin und fragte: „soll‘ ich die bücher hier kaufen? die sind von ihm hier!“ und dann zeigte er auf mich. „weiß nicht, bin eben erst gekommen.“ antwortete die frau.
„dann gebe ich sie ihnen zurück.“ sagte der typ zu mir.
ich nahm die beiden bücher an mich. wir riefen ein taxi, rafften das gepäck aus der absteige und quetschten uns zwischen gröhlenden und angesoffenen fußballfans in den zug.

in stralsund stiegen wir um. in einen fast leeren zug.
nachdem das ding rollte, betrat eine alte frau das abteil. sie hatte ein kopftuch um, einen hellen, schmutzig gewordenen mantel an, mehrere stoffbeutel um den hals und abgewetzte reklamebeutel in den händen, fragte uns: „entschuldigen sie bitte, ist der nächste halt des zuges in greifswald?“ wir bejahten und sahen, daß sie aufatmete. sie konnte nicht mehr bei einem zwischenhalt in wüstenfelde oder in jeeser, diesen kleinen und öden ortschaften, in dunkelheit und kälte aus dem zug geschmissen werden. sie war alt und gebeugt, und doch war sie schön und so klar in ihrer sprache. sie war nicht verzweifelt und nicht vergrämt, nur erschöpft und auf der straße.
die alte frau setzte sich neben den durchgang im abteil uns gegenüber, öffnete den abfallbehälter und ergatterte ein restliches, ein winziges stückchen von einem abgenagten, weggeworfenen apfel. dann fiel es mir wieder ein. hatte ich nicht eine kunststoffdose mit restlichem reiseproviant hastig in der absteige in die tasche geworfen? ich kramte sie raus, ging rüber zu der alten frau und sagte: „entschuldigung. wir haben noch restliches obst und möchten gerne, daß sie es bekommen…“ die alte frau schrak unglaublich zusammen. ich vernahm einen kleinen schrei, und dann sagte sie: „oh, ich habe mich so erschrocken! entschuldigen sie, ich war in gedanken!“
„das macht nichts, das kenn‘ ich. ich erschreck mich auch immer so!“ und dann sagte ich es ihr nocheinmal. „bitte, tun sie mir den gefallen und nehmen sie es an.“ ich packte die beiden bananen aus, die mandarinen und die von meiner frau in stückchen geschnittenen, in einem durchsichtigen beutelchen aufbewahrten apfelstückchen.
„das ist aber lieb von ihnen? aber nur wenn sie das alles wegwerfen!“
„nein, wegwerfen tue ich das obst nicht. das ist bloß übrig.“
„nein. dann möchte ich das nicht. das müssen sie selber essen.“
„bitte. das ist unser reiseproviant. und den brauchen wir nicht mehr, wir steigen doch jetzt in greifswald aus. bitte, nehmen sie es.“
„sie steigen jetzt in greifswald aus? und sie brauchen das viele essen wirklich nicht mehr?“
„nein, wir brauchen es nicht mehr für unterwegs. wir sind gleich zuhause, und da haben wir noch mehr. bitte, nehmen sie es.“
und dann nahm sie es und sagte: „haben sie recht herzlichen dank. und ich wünsche ihnen schöne adventstage und ein schönes weihnachtsfest.“
ich traute mir nicht, es ihr auch zu wünschen und sagte: „danke.“
gierig machte sie sich über die apfelstückchen her, und der zug bremste ab und fuhr langsam nach greifswald rein. wir gingen alle drei zum vorraum des ausstiegs im abteil. dann hielt der zug doch noch auf freier strecke kurz vor der stadt. die alte frau packte die restlichen apfelstückchen in einen ihrer beutel und pulte eine mandarine ab. es roch gut im vorraum, ein zug raste an unserem haltenden vorbei und unser zug fuhr wieder an. aus einem anderen abteil gafften vier personen die gebeugte frau an und dann drangen irgendwie abfällige bemerkungen des familienvaters zu uns rüber und mehrstimmiges gelächter.
„guten abend! die fahrscheine, bitte!“ ich zückte unseren fahrschein und die alte frau begann in ihren beuteln zu kramen.
„ich habe eine wochenkarte. moment, ich finde sie gleich!“
„ich weiß.“ sagte die schaffnerin und ging weiter zur familie.
die tür klemmte und ich hörte den vater die schaffnerin fragen: „wieso haben sie bei der alten den fahrschein nicht kontrolliert…!“
und dann hielt dieser zug, und ich verlor die migration aus den augen.