Bertram Reinecke, 1974 in Güstrow geboren, studierte in Greifswald und absolvierte das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig. Nach der Veröffentlichung von zwei Gedichtbänden – An langen Brotleinen (2000) und Chlebnikow am Meer (2003) – gründete er 2009 den Verlag Reinecke & Voß. In diesem Jahr ist sein Band Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst als roughbook 19 bei Urs Engeler erschienen. Erik Münnich sprach mit ihm über Lyrik, das Verstehen sowie seine Projekte als Lyriker und Verleger. Das vollständige Interview kann man in der pdf-‚Ausgabe der Wasser-Prawda nachlesen.
Erik Münnich: Lyrik spielt, möchte man meinen, nur eine untergeordnete Rolle in Bezug auf den gegenwärtigen Literaturmarkt. Dem großen Teil des Publikums scheint sie gar abträglich zu sein.
Bertram Reinecke: Es kommt drauf an, wie man guckt. Natürlich ist, wenn man sich den Buchmarkt ansieht, Lyrik sehr schmal vertreten, grade die Gegenwartslyrik. Es gibt natürlich trotzdem noch Formen des Umgangs mit dem, was man Lyrik nennt. Es gibt die Songtexte im Radio, in Gottesdiensten. Es gibt Poesiealben, die immer mal wieder Mode werden und dann haben es plötzlich alle. Man merkt natürlich, dass in der Schule, in der Gesellschaft Lyrik nicht mehr die große Rolle spielt und dass das schädlich für die Lyrik ist. Man merkt eine gewisse Unbeholfenheit, zum Beispiel wenn mal diese Mode des Poesiealbums mal wieder auftaucht, merkt man wie die Leute gar nicht mehr wissen, wie man mit dieser Form produktiv umgehen kann. Und trotzdem wird diese Form noch Mode. Es gibt ein Bedürfnis nach kurzen Texten, das dann auf andere Weise – vielleicht jetzt durch Facebook – befriedigt wird, aber, sagen wir mal, es gibt noch den basalen Bedürfnisraum für Lyrik. Und ich glaube, das ist eine Stelle, wo man immer wieder aufbauen kann.
Das hat mit meiner Lyrik natürlich nur mittelbar zu tun; aber doch insofern, als dass Formen eine Möglichkeit des Zugangs sind zu Lyrik. Wenn man eine Form hat, dann hat man immer auch eine Leseanweisung, wenn man sie kennt. Das muss man dann natürlich kennen, aber das ist leichter zu lernen als neu vor einem Gedicht zu stehen, es geheimnisvoll zu finden und sich irgendwie Ergriffenheit abzunötigen. Wenn man eine Form hat, hat man immer einen Einstieg, wie man an diese Sache rangehen könnte und wenn man das ausprobiert, kommt man oft einen Schritt weiter. Und das ist ein Aspekt, der mir an Form auch relativ wichtig ist. Es gibt natürlich noch viele andere Aspekte.
Erik Münnich: Von Dir stammt der Satz: „Dichtung ist Forschung.“ Deine Arbeiten weisen viele Bezüge zu anderen Texten auf und Du versuchst, Formen kreativ umzusetzen. Wie umfangreich ist die Vorbereitung der Auseinandersetzung mit den Formen, die Du wählst, und wie umfangreich ist die tatsächliche Arbeit?
Bertram Reinecke: Dichtung als Forschung, das klingt sehr anspruchsvoll. Und welche Vorbereitungen nötig sind, das beinhaltet auch die Frage: wie ist mein Schreiben in das Konventionssystem eingebettet, das ich vorfinde. Die Frage nach der Vorbereitung könnte man auch an das Publikum stellen. ( Erst die zweite Frage wäre, was ich wissen und was ich getan haben muss.) Und so gestellt ergeben sich ganz andere Antworten, als man vielleicht erwartet.
Zunächst ist es mal legitim, wenn man nicht alles versteht. Es ist ja, wenn man in ein Konzert geht, für einen völlig normal, dass die Gedanken auch mal wegkreiseln, mal über anderes nachdenken und dass ein Konzertbesucher nicht aus einem Konzert kommt und sagt: „Der Komponist hat jetzt hier die Tonika, dann kam die fünfte Stufe usw.“, ein Verständnis der Musik, das dem Verständnis, was einem Verständnis gleichkäme wie wir es uns in der Schule bei Texten versuchen zu erschließen. Das ist eine Illusion die aus dem Deutschunterricht kommt.
Die Idee des Verstehens ist erwachsen aus der Idee der Kontrolle, dass der Lehrer nämlich wissen muss, ob der Schüler das begriffen hat, was er gesagt bekommen hat, dass das abgefragt werden muss. So kommt das Verstehen, dass man sagen
kann, das Gedicht handelt davon, das Gedicht sagt das und das, durch die Schule in die Welt. Es wäre im Gegensatz dazu völlig legitim zu sagen „natürlich verstehe ich Celan, ich kann aber nicht sagen, was das heißt.“ Dieser Satz gilt aber als falsch und irgendwie seltsam. Verstehen ist eigentlich etwas anderes als das, was wir in der Schule als Verstehen lernen.
Und wenn man mit dieser Gelassenheit Texten gegenübertritt, alles, was man in Deutsch gelernt hat und vielleicht auch im Literaturwissenschaftsstudium, mal vergisst und die Freiheit gewinnt, sich einfach mal auf Texte einzulassen, dann bekommt man eigentlich von meinen Texten, glaube ich, viel mehr mit, als man nachvollziehbar sagen könnte. Und darum geht es mir.
Das ist die eine Seite: wie muss das Konventionssystem vorgebahnt sein beim potentiellen Leser. Und dann gibt es natürlich noch die Seite: was muss ich wissen, wenn ich den Text schreibe. Und auch ich muss nicht alles in der Hand haben. Das unterscheidet mich vielleicht gar nicht so sehr von anderen Gegenwartsdichtern. Es geht gar nicht darum, das und das zum Ausdruck zu bringen. Kaum ein Dichter schreibt so. Nur Deutschlehrer tun immer so, als wäre das in den Texten drin.
Bei Dichtung geht es viel stärker um Möglichkeitsformen. Welche Möglichkeiten des Sprechens gibt es und wie kann man daran anschließen. Die moderne Dichtung, zum Beispiel, ist voll von gezielten Doppeldeutigkeiten. Das wäre ja völlig sinnlos, wenn es darum ginge, anschließend Interpretationen davon herzustellen. Und so arbeite ich auch.
Ich muss nicht in der Hand haben, was der Leser nachher im Kopf hat. Ich muss nur bereitstellen und da muss ich dann schauen, dass grammatisch bestimmte Dinge möglich sind und andere Dinge ausgeschlossen. An diesen Stellen grammatische oder semantische Hebel zu stellen – welches Wort welcher Kategorie das ist usw. – eine mikroskopische Arbeit eher, da habe ich zu arbeiten, die „Gesamtbedeutung“ ist wenig interessant, ergibt sich darüber hinaus ganz ohne Zutun. (Und damit es mir nicht zu leicht fällt, arbeite ich mit Fremdmaterial, Dateien mit bis zu 1500 Seiten.) Und das tue ich dann eben so.{module Erik Münnich}