CoverEine grell überzeichnete Beschreibung der Realität in Vorpommern? Eine Auseinandersetzung mit dem Biotop „Schule“? Oder die Schilderung eines stückweisen Scheiterns einer scheinbar gefüllosen Wissenschaftlerin an der Realität? Judith Schalanskys Bildungsroman „Der Hals der Giraffe“ ist all das. Und wenn der Leser will noch mehr.

Anfang der 90er Jahre, als die Auswirkungen der deutschen Wiedervereinigung noch unabsehbar waren und die Hoffnungen noch riesengroß in der Region zwischen Peene und Oder auf den überlebensgroß erscheinenden Kanzler mit dem birnenförmigen Kopf, da machten sich ein paar Studenten in Greifswald den von einigen als geschmacklos empfundenen Scherz und veröffentlichten in der Studentenzeitung den Vorschlag, Vorpommern insgesamt als Reservat für den Ostdeutschen an sich zu erklären: Freilaufende Ossis, bitte nicht füttern! Und um das für Touristen noch interessanter zu machen sollten auch andere exotische Tiere in der Region angesiedelt werden.
Bei oberflächlicher Lektüre diverser Kritiken und Diskussionsbeiträge zu Judith Schalanskys „Der Hals der Giraffe“ könnte man schnell zu der irrigen Auffassung kommen, die in Greifswald geborene Autorin hätte genau diesen Ansatz der studentischen Satire auf die Länge eines kleinen Romans ausgewalzt. Da hagelt es Vorwürfe, die Frau lasse die Heldin ihres Romans, eine scheinbar völlig gefühllose Wissenschaftlerin und Lehrerin, die Thesen rechtspopulistischer Meinungsmacher nachbeten. Doch wer sich auf die vorgeprägten Anschauungen derer verlässt, die immer die gerade politisch korrekten Meinungen auf Abruf bereit liegen haben, dem entgeht eines der größten Lesevergnügen, dass die deutsche Literatur in den letzten Jahren zu bieten hatte.
Klar doch, wie Schalansky aus dem Blick der Biologie- und Sportlehrerin Inge Lohmark die Rückkehr der wilden Natur in die Städte Vorpommerns schildert, das ist so gar nicht fortschrittshörig. Hier werden die allgemein sichtbaren Zeichen von Verfall, Bevölkerungsrückgang und wirtschaftlicher Aussichtslosigkeit ein wenig zugespitzt. Und heraus kommt eine Welt ohne Hoffnung auf menschliche Zukunft. Dafür mit jeder Menge Aussichten auf die Rückkehr der Wildnis in die Mitte Europas.
Diese Wildnis, der Kampf ums Überleben, um die bestmöglichke Anpassung an die Umwelt, die durchdringt für Lohmark jede nur denkbare Äußerung des Lebens von Planzen, Tieren und gar Menschen. Was soll man sich hier einmischen? Wieso sollte man der Natur im Wege stehen?
Ob es nun die Unkräuter in der Innenstadt oder die vor ihr sitzenden Gymnasiasten sind – die Unterschiede sind für Inge Lohmark nicht wirklich relevant. Ja, möchte man zustimmend schreien, wenn man sich mal wieder an den allgegenwärtigen Ansammlungen pommerscher Alkoholiker vorbei gemogelt hat. Aussterben muss das alles, wird das alles. Auch diese mit Abscheulichkeiten zwischen DDR und Nachwende-Architektur notdürftig geflickten Stadtbilder: Das kann doch niemals die Zukunft sein. Abreißen wäre nur konsequent. Von der Sprachlosigkeit, die den ohne wirkliche Perspektiven alternden Rezensenten angesichts des Bevölkerungsanteils überfällt, die man als „unsere Zukunft“ zu bezeichnen beliebt, ganz zu schweigen.

Doch dieses so schwarze, mit diebischem Vergnügen lesbare Buch kann einen verdammt in die Irre führen. Denn immer klarer wird es in den drei Kapiteln des Romans, wie sehr die Haltung des Wissenschaftlers nur eine Schutzmauer ist, mit der die Protagonistin sich von einem inhalts- und vor allem gefühlsleeren Leben abschirmen will. Die Tochter ist weg, der Mann kümmert sich nur noch um seine Straußenzucht. Und die Kollegen in der Schule? Sie suchen bestenfalls noch nach Verdienstmöglichkeiten für die Zeit nach der absehbaren Schließung ihres Gymnasiums.

Irgendwann entdeckt Lohmark Gefühle für eine ihrer Schülerinnen – welcher Art diese sind, will sie selbst gar nicht analysieren. Doch schon allein diese Erkenntnis bringt die zurechtgelegte Wissenschaftlichkeit zum Zerbröseln. Gefühle? Im konsequenten darwinistischen Denken sind die höchstens zur Sicherung des Nachwuchses nötig. Ebenso wie Konstrukte wie Familie. Aber persönliche Gefühle? Das ist Schwäche, das ist so sinnlos wie der Versuch, den Löwenzahn an der Ausbreitung hindern zu wollen.

Die Erbärmlichkeit des Lebens der „Heldin“ Schalanskys enthüllt sich nur in kleinen Andeutungen, in Ahnungen und Randbemerkungen. Bis dann endlich klar wird, wie komplett Lohmark gescheitert ist, als Mutter, als Lehrerin – vielleicht nicht als Wissenschaftlerin, aber darauf kommt es hier auch wirklich nicht an. Es ist nicht Darwin, den man bei der Beurteilung der Heldin als Maßstab anlegen sollte. Aber für einen nüchternen Blick auf Chancen und Perspektiven einer ganzen Region ist dieser scheinbar zynische Blick der Antiheldin unverzichtbar. Und auch, um die Gefühllosigkeit, die einen in der Debatte auch selbst immer wieder überfällt, ad absurdum zu führen. Was bitte schön ist Wissenschaft? Doch nur ein menschliches Konstrukt, um in der Vielfalt der Erscheinungen so etwas wie ein System zu konstruieren. Ein System, das man allzuleicht als Wahrheit postuliert. Ein System, das aber immer nur so lange Anspruch auf Wahrheit hat, so lange es nicht widerlegt werden konnte.

„Der Hals der Giraffe“ ist wie alle Bücher von der Autorin komplett selbst gestaltet worden. Das geht von den liebevollen Illustrationen aus der Welt der Biologie hin bis zum scheinbar altmodischen braunen Leineneinband. Somit macht Judith Schalansky aus ihrer Veröffentlichung einmal mehr ein großes Vergnügen nicht nur für Leser sondern auch für Liebhaber schöner Bücher.

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe – Bildungsroman

Suhrkamp Verlag 2011
224 Seiten
21.90 Euro
ISBN: 978-3-518-42177-2