Uwe Saeger - Faust Junior<br /> I<br /> Der Weg ist das Ziel.<br /> So was denkt nur einer und bringt’s unter die Leute, der nie unterwegs war. Am Ziel legst du die Füße hoch und lässt mehr als alle fünfe gerade sein. Und wenn du’s noch bringst, lässt du auch die Puppen tanzen und pfeifst auf Gott, die Kanzlerin und die schöne Nachbarin. Du bist angekommen und wer das von sich sagen kann, ist fürs Erste am Limit. Aber bist du unterwegs, brennen dir die Sohlen, irgendwas ist stets am Jucken und du musst, egal ob mit oder ohne was auf’m Kopp, immer und überall auf der Hut sein, denn wer unterwegs ist, ist Beute und Freibeuter in einem, steht mit einem Bein im Grab und mit dem andern im Himmel. Es wird also Tag und Nacht gewandert wie auf Messers Schneide, heimatlos ohne Hinterland und immer nur’s Strohfeuer krauser Hoffnungen unterm Arsch. Auf ein Bett im Kornfeld zum Beispiel und dass die ewige Schlange samt Apfel sich zu einem legt und’s Erkennen dich überfällt wie der Sturm, der Eschen fällt.<br /> So ging’s eine Zeit und so ging ich. Mutters Segen hatte ich nicht. Und um mich zu verfluchen, reichte es nicht, denn es war doch Erleichterung genug, dass sie mich aus’m Haus bekam und der Zoff mit mir endlich ein Ende hatte, weil ich nichts und nie was richtig auf die Reihe bekam und dazu jedem ihrer sich unauffällig erneuernden Beschäler mit meiner Duselei nach dem Sinn des Lebens, und ob der in meiner Mutter zu finden sei, auf den Zünder poppte.<br /> Wie’s ihre Geschichte verlangte, machte sie es nie mit einem, der nicht wenigstens für einen König gehalten werden konnte, gleich in oder auf welchem Mantel er daherkam. Für den erklärte sie mich dann als ihr kleines Missgeschick, ein Satansbraten als Kuckucksei sozusagen, das ihr passierte, als sie’s längst nicht mehr für möglich gehalten hatte, dass ihrer hymnisch wie phallisch ausstrapazierten Büchse, das ist so krud wie treffend gesagt, noch was einzupflanzen wäre. Aber jener Typ, ein Bild von einem Mann – dieses Bild zu beschreiben, unterfand sie sich nie, wie sie’s auch versuchte, es fielen ihr die Worte –, der’s ihr mit einer wahrhaft teuflischen Rute in einer unheimlichen Nacht besorgt hatte, sodass sie mich austragen musste und kein Krötensaft oder satanischer Fluch mich abtrieb, so, als hätte eine höhere Macht ihre Hand über mich gehalten, der blieb ihr als Stachel im Fleisch.<br /> Dieses Kind ist mein Kreuz, sagte meine Mutter oft, wenn ich wieder einmal als missratener Sohn anstellig geworden war und Gott allein wusste, warum. Überhaupt war Gott auf alles ihre Ausrede. Dabei zweifle ich, dass sie nur irgendwas wusste von ihm. Gott war ihr Sündenbock und Mülleimer. Und der ultimative Höhepunkt unserer Mutter-Sohn-Beziehung war es, wenn sie sagte, einmal nur, Justus, mein Sohn, möchte ich dich gottgefällig erleben, einmal nur erleben, dass du das Leben anpackst und was machst aus dir! Und ich antwortete ihr dann, es sei dir gewünscht, Helena, Mutter, aber dazu bedarf’s einen andern Sohn, ich bin aufs Verlorensein in der Welt. Dann konnt’s geschehen und es geschah, dass wir uns aneinander lehnten, Kopf an Kopf und Herz an Herz, und schwiegen, weil uns ein gleiches Weh füllte und die Gewissheit, dass sie wie ich eines andern bedurften, um auf uns selbst zu kommen, dass unser letzter Grund nicht in uns selbst zu finden war.<br /> Zumeist lag dann einige Nächte später eine andere Hoheit bei ihr und ihre Katzen und ich hatten uns wieder einmal an ein neues After Shave, andere mannestypische Schnarchlaute und weitere Körpergeräusche zu gewöhnen.<br /> Aber beim letzten Mal war’s anders. Der Kerl polterte noch vor dem Frühstück in voller Rüstung in der Wohnung herum. Die Katzen beförderte er mit Fußtritten auf den Balkon, dabei rief er meiner Mutter zu, dass er den Kaffee mit Milch und viel Zucker wolle und er auch den Junior an den Tisch holen täte. Da stand er schon in der Tür zu meinem Zimmer und schnüffelte wie einer schnüffelt, der’s Gras wachsen hört oder riecht und kommandierte: „Raus aus der Molle!“ Er riss das Fenster auf. „Wasch dich!“, rief er, „und das war dein letzter Joint in diesen Räumen, solange ich hier das Sagen habe!“ Er machte eine gymnastische Übung vor dem Fenster, so komisch, dass ich gelacht hätte, wenn mir nicht so elend gewesen wäre. „Wenn du kotzt“, schnauzte er mich an, „servier ich’s dir zum Frühstück.“ Er stieß die leere Ginflasche unter mein Bett. „In zehn Minuten bei Tisch“, dröhnte er. „Und das sei auch gesagt: Unpünktlichkeiten machen mich krank und ich hasse es, krank zu sein. Haben wir uns verstanden?“ Ich musste husten. „Haben wir uns verstanden?“, wiederholte er. Und ich sah, dass seine ohnehin imposante Statur sich aufblähte, als wolle sie ganz in den Türrahmen passen.<br /> „Sehr wohl, Hoheit“, stotterte ich. „Ihr habt laut genug gesprochen und scharf genug gebellt!“<br /> „Auch Spott macht mich krank“, sagte er. „Also, deine Spiele sind ausgespielt.“<br /> Und so war’s.<br /> Ich saß pünktlich und in absoluter Rekordzeit am Tisch. Meine Mutter füllte der Hoheit Milch und viel Zucker in den Kaffee. Er halbierte das gekochte Ei mit einem Messerkick. Mich schauderte. Er sah’s und grinste. „Musste dich dran gewöhnen“, sagte er. Er grinste das gleiche Grinsen zu meiner Mutter. „Oder du gewöhnst dich nicht und …“ Er machte eine Geste, die wohl „Hinaus“ bedeuten sollte. Meine Mutter blickte auf den Tisch. Auch jetzt noch hatte sie Schönheit, einen Glanz, der nicht zu beschreiben war. „Das ist Eberhardt“, sagte meine Mutter. „Und es ist was Ernstes mit ihm.“<br /> Es war bitterer Ernst. Am nächsten Tag verließ ich das, was Eberhardt Räume genannt hatte. Ich packte etwas Wäsche zusammen, steckte die restlichen Joints ein, hängte mir die Gitarre über und sagte Adieu. Eberhardt stand in Boxershorts und Sportsocken in der Küche und winkte nur kurz, ließ sich nicht ablenken von seinen Trockenübungen, die Waffe aus dem Hüfthalfter zu ziehen, sie in Anschlag zu bringen und einen imaginären, doch gezielten Schuss anzubringen, denn Eberhardt war Polizist und wollte auf den äußersten aller möglichen Fälle bestmöglichst vorbereitet sein. Ich verkniff mir ein „Peng“, denn es wäre Spott gewesen und das machte Eberhardt krank. Und kranke Polizisten gab’s schon genug.<br /> Meine Mutter kam zur Tür, wagte sich aber nicht ganz hinaus zu mir. „Wo willst du denn hin?“, fragte sie. Ich hatte sie am dritten Tag mit einem neuen König schon entspannter und schöner, überhaupt glücklicher gesehen. Ihre Hand mit der Zigarette zitterte und sie hielt den Kopf so, als könne jeden Augenblick ein von Eberhardt geworfener Latschen sie treffen. „Das kann doch noch werden mit euch“, sagte sie. „Er ist doch jünger als ich und hat noch nie mit Kindern zusammengelebt. Ich hab Angst um dich.“<br /> Ich berührte mit meiner Stirn die Stirn meiner Mutter. „Ich bin nicht dumm“, sagte ich. „Ich hab das Abitur, zwei abgebrochene Studien und zwei tolle chaotische Beziehungen hinter mir, also ich weiß, was Liebe ist und auch sonst was vom Leben.“<br /> „Aber du weißt doch gar nicht, was du willst!“ Meine Mutter Helena schnippte die Asche von der Zigarette auf den Boden, blickte schnell hinter sich. Von Eberhardt war nur Keuchen und Schnaufen zu hören, wahrscheinlich liegestützte er sich auf Dienstniveau. „Nach wem bist du nur geraten?“, fragte meine Mutter. „Ich habe mich nie treiben lassen im Leben, nie, auch wenn es so ausgesehen haben mag.“ Meine Mutter trat nun zu mir hinaus auf den Flur, zog die Tür hinter sich zu. „Sogar, als ich entführt worden bin, habe ich es im Griff gehabt, was lief und wie.“<br /> „Ja, Mama“, sagte ich, „es ist ja auch nicht schwer, einen Kerl bei der vorderen Leine zu nehmen und hossa springt der Bulle.“<br /> „Justus“, zischte meine Mutter. „Wenn das Eberhardt hört, dass du ihn Bulle nennst. Er hält’s für einen Beruf, was er tut.“<br /> „Erkannt zu werden, macht selten glücklich“, sagte ich und drückte meine Lippen auf die Stirn meiner Mutter. Sie schmeckte nach mindestens nach sieben der tausend Dosen, die sie für ihre Körperpflege überall in der Wohnung deponiert hatte. „Hab noch ’ne gute Zeit, Mama.“<br /> „Du solltest nicht versuchen, deinen Vater zu finden.“ Meine Mutter blickte mir in die Augen. „Er ist heute bestimmt ein sehr alter Mann, falls er überhaupt noch am Leben ist, und er wird dir nicht das bedeuten können, was du dir von ihm versprichst.“<br /> „Ich habe mir fünfundzwanzig Jahre lang nichts von meinem Vater versprochen“, sagte ich. „Mein Vater ist ’ne Dimension ohne Koordinaten, ein leeres Bild, ein Versprechen ohne Worte, eine Drohung, die statt Furcht nur Lachen macht, ein Lachen, das wie Stacheldraht durch die Kehle geht, das …“<br /> Meine Mutter fasste mich so fest und heiß am Arm, als hätte sie den Mann in mir zu rühren. „Ich weiß, dass dir ein richtiger Vater immer gefehlt hat. Und wenn’s meine Schuld ist, dann trage ich sie. Aber es kann keiner aus der Bahn, wenn’s ihm denn einmal per Verschriftlichung vorgegeben ist. Auch du wirst es noch erfahren.“<br /> Von drinnen rief Eberhardt: „Helene! Wo bleibst du, Helenchen?“<br /> „Ich heiße Helena“, grollte meine Mutter. „Und wenn er’s nicht bald begreift …“<br /> „Adieu, Mutter“, sagte ich. Hier war’s nun wirklich nicht mehr zum Aushalten, wenn’s mit den Namen schon verquerging, wie könnt’s dann mit den Herzen überein sein? Und mein Herz war’s, das ich spürte so plötzlich und heiß und wild wie noch nie, so, als würde es mir voraus springen, wenn ich ihm nicht gleich den Weg freigab. „Sei stark, Helena“, sagte ich, „und sei’s nur Helenas wegen.“<br /> Meine Mutter starrte mich an. „Das“, stotterte sie und zog an der ausgeglühten Zigarette, „das träumte ich in der Nacht, als ich wusste, dass ich mit dir schwanger war, ich träumte, dass dein Vater mir sagte, sei stark! Aber dein Vater, so wie ich ihn kannte, Justus, hatte eine brennende, lodernde Seele, aber sein Fleisch war kalt. Er liebte wie eine Maschine. Er hatte mich und damit war’s dann genug für ihn. Vielleicht wollte er auch nur wissen, wie’s ist mit mir, mit Helena, der Frau, um deren Schönheit beinahe die Welt untergegangen wäre. Vielleicht glaubte er, in mir sein Glück zu finden und weiß bis heute nicht, dass man’s zuallererst in sich selbst begründen muss? Justus!“ Meine Mutter nahm mein Gesicht zwischen ihre beiden Hände, schüttelte mich. „Dein Vater, Justus, wird dich nicht lieben, weil er’s nicht kann, weil wer so brennt innen wie er, der muss seine Liebe darauf richten, nicht zu verbrennen.“<br /> „Helene!“, rief Eberhardt nun lauter. „Ich muss in drei Stunden zum Dienst und ich hab noch was vor mit dir, Helene.“<br /> Meine Mutter wischte ihre feuchte Nase über meine Wangen. „Viel Glück, mein Sohn“, schluchzte sie. „Und vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.“<br /> Meine Mutter huschte zurück in die Räume. Ich habe sie für lange Zeit nicht wiedergesehen, habe nie von ihr gehört, dass sie noch eine Gegenwart gehabt hätte, nachdem ich sie verlassen hatte. Und der Geschmack von ihrer Haut verschwand mit dem dritten Tequila von meiner Zunge.<br /> Da saß ich in einer Bar. In einer andern Stadt. Es ging auf die Nacht zu. Wenige Gäste. Ich schob Frust. Die Süße hinterm Tresen gab schon mal den einen oder andern Blick zurück, doch das war mehr fürs Geschäft als für ’ne Anbändelei, das roch ich. Aber die Scheiben, die sie abspielte, waren richtig gut, bluesiger Sound; ich konnte mich wegdenken, hin unter die Sonne irgendwo, mit genug Kies in den Taschen und Puppen dazu. War schon fast so echt, dass ich am Abdrehen war. Doch dann fragte sie: „Nimmst du noch einen oder zahlst du?“<br /> Ich nahm natürlich noch einen. Aber es war schon so, dass das Salz dazu gehörig süß schmeckte.<br /> „Du erinnerst mich an wen“, sagte die Süße. Sie mixte zwei Drinks für ein Paar, das sich nach heftiger Diskussion, wohin sie sich setzen sollten, an den Tisch vor den Durchgang zu den Toiletten gesetzt hatte und das sich nun verbissen anschwieg.<br /> „Hast du einen Namen?“, fragte ich die Süße.<br /> „Hab ich“, sagte sie. „Aber ein freies Bett habe ich nicht, damit das klar ist.“<br /> „Ich kann mich ganz klein machen, wenn’s sein muss.“ Ich versuchte, zutraulich und verführerisch rüberzukommen, aber das misslang, denn sie sagte: „Für so klein, wie ich dich brauche, musst du noch mächtig wachsen.“<br /> Sie brachte die Drinks an den Tisch des schweigenden Paares. Der Mann zählte sofort und centgenau Münzen auf die Tischplatte. Die Süße sagte: „Danke und weiterhin einen unterhaltsamen Abend.“<br /> „Gehört das zum Repertoire oder bist du von Natur aus so freundlich?“ fragte ich, als sie wieder hinterm Tresen war.<br /> „Wie?“, fragte sie. „Was?“<br /> „Dass du so witzig bist.“<br /> Sie lachte. „Bei mir werden alle Rechnungen beglichen“, sagte sie. „Und bei dir macht’s jetzt einen glatten blauen Schein.“<br /> „Hab ich“, sagte ich und hatte keinen Schimmer, wo ich den haben könnte.<br /> Die Süße steckte sich eine Gauloises an, schloss die Augen beim ersten Zug. „Greta“, sagte sie, als sie den Rauch ausblies. „Ich heiße Greta.“<br /> „Justus“, sagte ich. „Ich heiße Justus.“<br /> „Du erinnerst mich an einen“, sagte Greta. „Ich komm noch drauf, an wen, aber der war größer, kräftiger, von dem ging was aus, der war kein Allerweltskerl.“<br /> „Es gibt keine zwei, die in dieselben Schuhe passen.“ Ich tat mir einen Teelöffel voll Salz in den letzten Tequila. „Und an wen ich dich erinnere, weißt du ganz bestimmt, wenn ich weg bin.“<br /> „Ganz bestimmt“, sagte Greta und ein bitterer Zug, so unerwartet wie uralt, prägte für einen tiefen Atemzug ihr Gesicht. „Erst wenn ein Kerl weg ist, weiß man, was für einen Haufen Müll man sich mit ihm angehangen hat.“<br /> „Und der, an den ich dich erinnere, war der auch Müll?“ Ich kippte den bittersüßen Tequila in mich rein. „Oder war der solch Müll, dass auch die Erinnerung an ihn nur Müll sein kann?“<br /> „Was gehen dich meine Erinnerungen an?“ Greta griff mein leeres Glas vom Tresen. „Der Mann, von dem ich spreche, war mein Schicksal. Du!“ Sie musterte mich. „Du wirst wahrscheinlich nie das Format haben, irgendjemandes Schicksal zu sein. Du bist ’ne harmlose Type, ein herzlich guter Mann, wie die Schwiegermütter sagen, aber du hältst nicht viel davon.“<br /> „’ne Schwiegermutter ist’s Letzte, auf das ich Bock hab!“ Der letzte Schluck wollte wieder hoch, es war ein Tequila mit Widerhaken, so zerrte es in der Kehle. „Aber das hat meine Mutter über meinen Vater auch gesagt, dass er ihr Schicksal war, das heißt, er hat sie gebumst – ich tippte auf mich – und sitzengelassen.“<br /> Greta starrte mich an, bohrte einen Finger in die Perforation der Spülplatte. „Ja, so was gibt’s“, sagte sie. „Aber dich hat deine Mutter durchgebracht!“<br /> „Weil“, sagte ich und schluckte den Tequila wieder runter, „ich war ein folgsames, kluges und bescheidenes Kind.<br /> „Und damit“, sagte Greta und brachte sich mit einem tarantellaähnlichen Schwung aus ihrer Nachdenklichkeit, „erinnerst du an niemanden mehr“, ein grimmiger Blick streifte mich, „nichts ist an dir, das mir das Blut bewegt, wodurch, womit auch immer.“<br /> Was für Theater, ging’s mir durch den Kopf, die sieht nur aus wie echt, die hat einen Riss in der Schüssel und ein Trauma im Slip. „Hey“, sagte ich und schnipste ihr zu. „Greta, du durchschaust mich, ha?“<br /> „Kein Theater“, sagte Greta. „Bitte! Davon hab ich hier all die Tage genug.“<br /> Aber damit fing das Theater erst an.<br /> Die Eingangstür wurde aufgestoßen und es traten drei Männer ein, die wie eine Kompanie salutierten. Einer klatschte mir seine Pranke auf die Schulter, der zweite klopfte mit meinem leeren Glas auf den Tresen und bedeutete, dass es zu füllen sei, und der dritte ging zu Greta, schloss sie in seine Arme und rief: „Will keiner saufen, keiner lachen?“<br /> Die drei Kerle lachten.<br /> Greta verdrehte die Augen. „Ich weiß“, beschwichtigte sie der Kerl, „das gehört hier nicht her, aber wir sind doch alle Menschen und hier dürfen wir es auch sein.“<br /> „Und wo bist du’s nicht?“, fragte ich.<br /> „Was will der Bursche?“, ranzte der Dritte, den sie Direktor nannten, und kniff Greta unters Kinn. „Was hat er hier zu suchen? Was gehen ihn unsere Unternehmungen an?“<br /> Die Pranke auf meiner Schulter verschwand und stattdessen krabbelte mich der Kerl mit den Fingern beider Hände an meinen Seiten, sodass ich mit einem Jauchzer auffuhr und mit dem Kopf so heftig an den Strang der Tresenglocke stieß, dass diese gellend anschlug.<br /> „Was soll das?“, fuhr ich den Kerl an und der Tequila wollte wieder hoch.<br /> „Ich bin eine lustige Person“, lachte der und tat noch einen Griff in meine Seiten und einen Kratzfuß mir zu Füßen.<br /> „Übrigens“, der Direktor deutete auf die noch nachtönende Glocke über mir, „das macht eine Runde fürs Lokal.“ Er lachte. „Für jeden das, was er mag! Hoi!“ Er beugte sich mir zu. „Ich weiß, wie man den Geist des Volkes versöhnt. Auf meine Rechnung!“, rief er und griff zum Strang und läutete die Glocke abermals. „Dies Wunder wirkt auf die verschiedensten Leute.“<br /> Der Direktor und die lustige Person klatschten ihre rechten Hände ineinander. „Nun schenk ein“, sagte die lustige Person zu Greta. „Um zehn streicht der Meister den Zapfen, das weißt du doch, wir haben nur noch eine gute Stunde.“<br /> Greta ließ das Bier in die Gläser laufen.<br /> Der dritte Kerl, der sich schüchtern abseits gehalten hatte, sagte: „Für mich bitte wie immer, Fräulein Greta!“<br /> „Ja, ja“, sagte Greta. „Warme Milch mit Honig und eine halbe rohe Zwiebel.“<br /> „Die Dichter sind auch nicht mehr das, was sie mal waren“, tönte der Direktor. „Wenn Dichter Milch trinken, gibt’s saure Poesie.“<br /> „Und einen Reim wie Schleim und trautes Heim“, setzte die lustige Person hinzu und zerrte den dritten neben sich, damit ich ihn genauer betrachten konnte. „Er treibt die dichterischen Geschäfte, wie man ein Liebesabenteuer treibt.“<br /> Der Dichter blickte scheu zu Greta. „Ach“, sagte er leise, „wie wenig das dem echten Künstler ziemte.“<br /> „Immer das gleiche Getue“, stöhnte Greta und verteilte die gefüllten Gläser, „jedes Mal dieselben Worte.“ Sie blickte die drei ab und bewegte eine Hand kreisend vor ihrer Stirn. „Wie die’s immer wieder schaffen, Ausgang zu bekommen?“<br /> „Greta“, sagte der Direktor mit warnendem Unterton, „du weißt, wir sehen alles.“<br /> „Greta“, sagte die lustige Person ebenso warnend, „du weißt, wir wissen vieles.“<br /> Und auch der Dichter ließ sich vernehmen, entschieden schärfer noch, drohend fast. „Greta“, sagte er, „du weißt, wir vergessen nichts, und was wir wissen und was ich zum Wort mache, ist mit nichts mehr aus der Welt zu schaffen, egal, was es ist, ob Heldentat oder Verbrechen, ob Teufelspakt oder Glücksbeschwörung, was Wort ist, ist und bleibt.“<br /> „Na denn“, sagte der Direktor und hob sein Glas in die Runde. „Auf unser aller Wohl.“<br /> Sie tranken. Ich nippte am Tequila. Greta beobachtete mich mit einer Nachdenklichkeit, die ihrer Miene einen bösartigen Zug verlieh.<br /> Der Dichter kaute auf seiner halben Zwiebel herum. „Aber“, murmelte er, „einmal sag ich’s.“<br /> „Was?“, fragte der Direktor. „Was fällt euch an? Entzückung oder Schmerzen?“<br /> „Geh hin und such dir einen andern Knecht“, sagte der Dichter. Er schluckte die zerkaute Zwiebel und goss die Milch hinterher. „Das sag ich einmal“, sagte er. „Denn in mir, im Dichter, offenbart sich der Menschen Kraft.“<br /> „Feine Gäste hast du“, sagte ich laut zu Greta. „Richtige Prominenz, einen Direktor, einen Dichter und eine lustige Person, wo hat man das schon auf einem Haufen und hautnah?“<br /> „Reize sie nicht“, flüsterte Greta, „ich kann keinen Ärger mit ihnen gebrauchen.“<br /> „Ach ja“, sagte die lustige Person, „man ist entzückt, nun kommt der Schmerz heran, und eh man sich versieht, ist’s ein Roman.“ Er stellte sein leeres Glas auf den Tresen, bedeutete Greta, es nachzufüllen. „Und noch sind wir bereit, zu weinen und zu lachen!“<br /> „Ich nicht“, sagte ich. „Ich weine nicht.“<br /> Der Direktor stellte sein geleertes Glas neben das andere. „Es gilt, immer dazu bereit zu sein“, sagte er. „Zum Weinen ebenso wie zum Lachen.“<br /> „Na, dann seid bereit“, sagte ich. „Aber ich weiß nichts von Tränen und will’s auch nicht wissen.“<br /> Und das stimmte und erst jetzt fiel mir auf, dass ich in meinem Leben kein einziges Mal geweint hatte, denn ich hatte nichts besessen, dessen Verlust mich zum Weinen hätte bringen können, ich hatte nie so tief gefühlt, dass Tränen mich von einem innern Druck hätten befreien müssen, es gab keinen Schmerz in meinem Leben, der mir das Wasser in die Augen getrieben hätte; die wenigen Kratzer in der Haut, die zwei schnell verwelkenden Verliebtheiten und dass mir einmal das Fahrrad gestohlen worden war, waren nicht Salz genug gewesen, mich zum Weinen zu bringen. Einmal allerdings war’s nahe daran! Da kam ich von der Schule nach Hause und meine Mutter Helena saß in der Küche mit ’nem leeren Gesicht, das heißt, es war nichts mehr darin von ihrer Schönheit, und sie sagte, setz dich, Justus, deine Mutter hat dir was zu sagen. Ich kannte ihren gegenwärtigen Liebhaber nicht, dennoch konnt’s sein, dass sie wieder mal verlassen worden war. Ihre selbstanklägerischen Zeremonien waren dann immer ähnlich gewesen. Sie saß da und schwor, dass es nun aber zum letzten Mal gewesen war, dass ein Kerl ihr was bedeutet hätte im Leben. Nur diesmal bezog sie mich mit ein in ihren privaten Kladderadatsch! Naja, sie wird eben auch älter, dachte ich, da werden die Kreise zur Krisenbewältigung weiter gezogen, musste ich eben herhalten für ihr chaotisches Gefühlsleben. „Justus, mein Sohn“, hatte meine Mutter Helena gesagt, „ich werde sterben.“<br /> „Ich auch“, hatte ich geantwortet, „ich werde auch sterben.“<br /> „Was hast du?“ fragte sie erschrocken. „Du warst nie krank!“<br /> „Jeder stirbt einmal“, sagte ich.<br /> Da krachte ihre rechte Hand links an meinen Kopf und ihre linke Hand rechts an meinen Kopf. Mir wurde tatsächlich schwarz vor Augen. Mein Kopf quoll auf, als würden alle Lieder der Welt aus ihn heraus sich drängen oder auch in ihn hinein; das war eine Musik zum Schreien und eine Situation zum Brüllen und ein Tag zum Heulen. Aber ich tat’s nicht.<br /> „Ich habe Krebs“, sagte meine Mutter. „Ich muss unters Messer, hab Knoten in beiden Brüsten, wahrscheinlich schon Metastasen bis in den Bauch, ich habe zu wenig auf mich geachtet, habe alles zu selbstverständlich genommen, meine Schönheit, meine Gesundheit, mein außerordentliches Leben, so, als wäre ich unsterblich.“ Sie griff nach meinen Händen. „Entschuldige, Justus, ich weiß nicht, was ich von dir erwartet habe.“<br /> Wir schwiegen uns an. Meiner Mutter liefen Tränen bis unters Kinn. Und in mir höhnte etwas Fremdes, Großes gegen sie und alles, was sie bedeutete, wie Freude war’s beinahe und ich wusste nicht, worüber.<br /> „Aber du gleichst zu sehr deinem Vater“, sagte Helena, „da ist kein Mitgefühl zu erwarten, du wirst nicht um mich weinen, das weiß ich.“<br /> Ich konnte nicht um meine Mutter weinen, weil’s nichts um sie zu weinen gab. Ihr Befund war vertauscht worden, in ihrer Brust war nur ein fingerkuppengroßes Adenom, das ambulant mit einem streichholzlangen Schnitt entfernt wurde, so berichtete sie ihren Freunden.<br /> „Dann lache“, sagte die lustige Person und ließ ihre Pranke wieder auf meine Schulter fallen. „Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit, so wird der beste Trank gebraut, der alle Welt erquickt und auferbaut.“<br /> Die Gläser waren schon wieder gefüllt. Die drei prosteten erst einander, dann mir zu. Der Tequila schmeckte nicht mehr, war fad. Greta blinzelte in meine Richtung. Der Direktor und die lustige Person tranken ihr Bier auf ex. Der Dichter nippte an seiner Milch, er wirkte weinerlich auf einmal, gebrochen und verbraucht.<br /> „Ich hatte nichts und doch genug“, sagte er.<br /> Der Direktor herrschte ihn an: „Dann lass es gut sein und schweig!“<br /> Aber dafür wandte sich der Dichter nun direkt an den Direktor, flehte: „Den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug gibt ungebändigt jene Triebe, das tiefe, schmerzensvolle Glück, des Hasses Kraft, die Macht der Liebe, gib meine Jugend mir zurück.“<br /> „Der Jugend, guter Freund, bedarfst du ebenfalls.“ Die lustige Person rüttelte an meiner Schulter, atmete tief, als machte eine unverhoffte Gemütsregung ihm zu schaffen. „Aber wir, Freunde, bedürfen ihrer nicht mehr, die Jugend ist nicht mehr unser Spiel.“<br /> „Aber meine Jugend“, jammerte der Dichter, „ich will meine Jugend zurück.“<br /> „Aber doch nicht von mir“, fuhr der Direktor ihn neuerlich an. „Geh zum Chef, heul dich bei dem aus, der uns das eingebrockt hat. Und weißt du, was er dir sagen wird, falls er dich überhaupt anhört? Und wo ist meine Jugend, wird er sagen, wo ist meine Kraft, meine Liebe, wo ist mein Glück?“<br /> „Ach ja!“ Die Art der lustigen Person war wenig lustig. „Was, alte Herren, ist unsere Pflicht? Das Alter macht nicht kindisch, wie man spricht, es findet uns nur noch als Kinder.“<br /> „Was ist nur los mit uns?“, fragte der Direktor. „Jedes Mal, wenn wir uns aufmachen, die Tretklapsmühle für ein paar Stunden wenigstens auszublenden, endet es in Jammerei. Seit wann ist das so?“<br /> „Seit Greta hinterm Tresen steht“, antwortete der Dichter sofort.<br /> „Ja, wir hätten sie gleich anzeigen sollen“, zischelte die lustige Person. „Nun ist’s so gut wie verjährt.“<br /> „Was aufgeschrieben ist, verjährt nie“, sagte der Dichter. „Und es ist doch aufgeschrieben?“, wandte er sich an den Direktor.<br /> Gretas Lider flatterten und es schien, als ob ihre Haare sich kräuselten und aufrichteten. Sie wurde in innere Not gebracht und sah mich an, als könnte ich ihre Rettung sein.<br /> „Was wissen die von dir?“, fragte ich und blickte dabei zu ihnen. Und wie ich sie so anblickte, verloren sie ihre Unterscheidungen, ihre Gesichter wurden bleich, grau und glatt, ihre Körper bekamen die gleichen Konturen, wurden austauschbar, und sie wirkten insgesamt so wie der Dichter vor Minuten.<br /> „Sie wissen, was sie wissen“, sagte Greta.<br /> „Wenn du mal auf’m Strich warst oder wenn es ein paar Nacktfotos von dir gibt oder du Aktien fremder Leute durch den Schornstein gejagt hast“, sagte ich, „darüber musst du dir heutzutage keinen Kopf machen.“<br /> „Du wirst’s noch erfahren“, sagte Greta, „irgendwann flöten sie es dir.“<br /> Der Direktor schlug die Hände ineinander und sagte: „Der Worte sind genug gewechselt, lasst uns endlich Taten sehn!“<br /> „Das könnt ihr nicht machen“, stotterte Greta. „Ich mach hier meinen Job, tu keinem was und schreib euch jede Zeche an. Und was gewesen ist! Ich büße und bereue Tag um Tag.“<br /> „Na dann“, sagte die lustige Person, „trinke ich noch ein Pils.“<br /> „Greta, wir tun’s nicht,“ sagte der Direktor, „keiner von uns wird’s je tun, aber mit der Möglichkeit spielen, ja, aber mehr ist uns dazu nicht ins Buch geschrieben.“<br /> „Ihr tut es, wenn’s euch mal anders juckt.“ Greta schenkte der lustigen Person Bier nach. „Wenn ihr’s nicht mehr aushaltet so mit euch, wie’s vorgeschrieben ist.“ Greta zitterte, der Bierschaum floss auf den Tresen. „Und dann fängt alles von vorne an und endet tatsächlich in der Hölle.“<br /> „Was ist hier los?“, fragte ich.<br /> „So kommandiert die Poesie“, sagte die lustige Person, nahm sein Bier vom Tresen und trank es.<br /> „Das sagst du nicht!“, begehrte der Dichter auf. „Es ist aus mit uns, wenn wir uns in den Worten vertun, die uns notiert sind.“<br /> „Er ist eine lustige Person“, sagte der Direktor, „da macht’s nix, ob er sich mal in deinem oder in meinem Text vertut, denn wir wandeln alle“, er warf Greta einen scharfen Blick zu, „alle wandeln wir mit bedächtiger Schnelle vom Himmel durch die Welt zur Hölle.“<br /> „Das ist so wahr, wie’s wahr ist“, sagte Greta.<br /> „Was ist hier los?“, fragte ich nun den Direktor. „Was ist’s für Gefasel, mit dem ihr dem Mädchen Angst macht? Was sind’s für Worte, die ihr sprecht und die so klingen, wie alte Steine wirken in einem neuen Haus? Was ist’s mit euch, dass ihr bei allem wirkt, als wäret ihr irre?“<br /> „Wie der Bursch tönt!“, säuselte die lustige Person.<br /> „Und wie er sich spreizt“, sagte der Dichter.<br /> „Und wie ich ihn gleich in Räson und Mores delegiere“, sagte der Direktor und stieß mir einen Finger an die Brust. „Was nimmt er sich raus, uns zu persiflieren, der übermütige Bube! Hat er’s schon zu was gebracht, zu Werk und Lohn in dieser Zeit? Hat er sich schon einen Namen gemacht, mit dem er uns posieren kann und der was gilt, das mehr ist als dies Niemand hier vor mir?“<br /> Die lustige Person lachte. Der Dichter tat’s etwas verhaltener.<br /> „Keinen Streit!“, barmte Greta. „Wenn die Polizei hier zu schnüffeln anfängt, macht sie mir den Laden dicht. Und ich hab’ nichts weiter, womit ich mir was verdienen kann.“<br /> Das schoss durch mich wie heißes Eis. Was ging ihnen mein Name an? Was war das für ein Direktor, dass er mir daherkam wie ein Schulmeister? Was war das für ein Dichter, was war’s für eine lustige Person, dass sie lachten über mich? Was hatten die denn mehr vorzuweisen als ich, als aufgepeppte Sprücheklopferei, deren lose Enden sie einander um die Ohren schlugen?<br /> Ich sah Greta an und – und es hielt mich nicht zurück, dass sie für einen winzigen Augenblick wie ein Ebenbild meiner Mutter wirkte, obwohl doch keinerlei Ähnlichkeit zwischen ihnen war – ging auf den Direktor los und schlug mit meiner rechten Faust unter dessen Nase, sodass ich seine kalten, sonderbar rauen Zähne an meinen Knöcheln spürte und sah, wie sich die Haut faltete zwischen seinen Augen und er wie hilfesuchend zur lustigen Person schielte, deren bierdunstiger Atem mich von hinten umspülte. Und bevor ich’s sagte, dachte ich noch, dass vom Dichter, von dem ich nicht wusste, wie er in der Szene nun verkehrte, doch wohl größere Gefahr ausgehen mochte, als von jeder anderen Person. Aber das tat nichts mehr dazu und ich sagte: „Das ist mein Name! Faust! Und wenn du noch mehr davon probieren willst, mach nur dein Maul auf und quatsch mich noch einmal an als einen Bub!“<br /> „Du heißt Faust“, staunte der Direktor und es klang, als würden’s auch der Dichter, die lustige Person und Greta tun.<br /> „Was willst du hier?“, fragte der Dichter.<br /> Und die lustige Person fragte: „Ist das ’n Zufall, dass du hier bist?“<br /> Greta schlug beide Hände vors Gesicht. „Er erinnert mich an jemanden, das hab ich gleich gesagt, und nun weiß ich auch, an wen.“ Sie stolperte in der Abstellraum hinter dem Tresen und verschloss die Tür hinter sich.<br /> „Kannst du beweisen, dass du so heißt?“ Der Direktor beschnupperte meine Faust, die ich noch immer unter seiner Nase geparkt hielt. „Du wirst doch irgendein Dokument bei dir haben?“<br /> Die lustige Person legte abermals eine ihrer Pranken auf meine Schulter, fragte: „Du wirst doch nicht ohne Papiere in der Welt rum laufen?“<br /> „Noch besser wäre es, du hättest was vorzuweisen, wo auch dein Vater und deine Mutter notiert sind“, sagte der Dichter. „Eine Geburtsurkunde oder eine Bürgschaft.“<br /> „Was geht euch meine Legitimität an?“ Ich stellte mich schnell so, dass ich die drei vor mir hatte, auch deshalb, um einem Biss des Direktors in meine Faust zuvorzukommen. „Was gehen euch meine Eltern an? Ich bin anwesend und erwachsen. Das sollte reichen. Oder?“<br /> „An sich ja.“ Der Direktor bedeutete den beiden anderen mit einem Blick, sich vor mich zu stellen. „Aber die Situation ist nun mal so, dass sie eine besondere ist.“<br /> Warum ich’s dann sagte, weiß ich nicht, aber ich sagte es: „Meine Mutter war alleinerziehend, ich hab viermal die Schule gewechselt, weil ihr Lebenswandel die Ortswechsel nötig machte, es ist viel Zeit dafür draufgegangen, dass uns der Unterhalt gelang, denn wir mussten uns durchbringen auch ohne Vater.“<br /> „Aber dein Familienname ist Faust?“, fragte der Dichter und rückte ohne Aufforderung einen weiteren Schritt an mich heran. „Aber deine Mutter war nie eine Frau Faust?“<br /> Auch die lustige Person kam einen Schritt näher, stemmte ihre Pranken in die Hüfte. „Wie’s aussieht, hast du ein Problem, ohne Personaldokument kommst du nicht in der billigsten Absteige unter.“<br /> „Aber wir hätten da was für dich“, sagte der Direktor und schloss mit einem Schritt die halbkreisförmige Phalanx vor mir. „Aber sag uns noch eins! Du heißt Faust, weil dein Vater so hieß?“<br /> „Ich kenne meinen Vater nicht“, sagte ich und trat unbedacht einen Schritt zur Seite. Das ließ die drei noch enger zusammenrücken. „Und er interessiert mich auch gar nicht.“<br /> „Aber vielleicht interessiert sich dein Vater für dich?“ Der Direktor musterte mich von Kopf bis Fuß. „Söhne sind für Väter Hoffnung und Gefahr zugleich!“<br /> Ich mochte es nie, wenn man mir auf den Leib rückt. Und ich streckte meine Arme vor und sagte: „Ich wehre mich und ihr solltet mich nicht unterschätzen.“<br /> Doch packten sie mich da schon. Direktor, Dichter und lustige Person agierten in einer bestens funktionierenden Choreografie. Ihre sechs Hände hielten mich wie in einem einzigen Griff, meine Arme wurden auf den Rücken gezwungen und an den Handgelenken zusammengehalten, mein Kopf wurde auf die Brust herunter gepresst, sodass ich nur meine Zehenspitzen zu sehen vermochte, und es wurde mir so in die Kniekehlen getreten, dass mir nicht anderes blieb, als mich so zu bewegen, wie sie es wollten.<br /> Bullen, dachte ich, das sind Bullen, Zivilfahnder und die beiden Joints in meiner Tasche einem glücklichen Ausgang sicher nicht zuträglich. Es ging zur Tür hinaus, meine Füße berührten kaum den Boden, kurz die Straße entlang und dann weiter zwischen Baumstämmen und durch Gesträuch. Es roch nach frischem Harz, nach Moder Verwesung. Die drei sprachen nicht und lockerten ihren Griff kein einziges Mal. Ich war bald außer Atem, die Schultergelenke schmerzten, die Hände wurden taub und kalt und mir, da mein Kopf stets niedergedrückt wurde, schwindelig. Ich wollte mich fallen lassen, doch wurde damit der Schmerz von den Schultern in den ganzen Körper getrieben, sodass ich mich nur williger in das Treiben fügte.<br /> Und dann, als ich von Schritt zu Schritt glaubte, zusammenzubrechen und auf der Stelle zu verenden, stoppten die drei. Auch ihr Atem ging schneller. Doch hielten sie mich unverändert in ihrem Griff.<br /> „Wir geben dir drei Sekunden“, sagte einer oder die drei mit gleicher Stimme. „Dann schaust du dir an, was du siehst, und weiter geht’s.“<br /> „Wer seid ihr?“, fragte ich. „Bullen? Ich habe nichts verbrochen. Seid ihr Ganoven? Bei mir ist nichts zu holen.“<br /> Das Trio lachte herzlich. „Wir sind, wer wir zu sein haben und wer wir sein müssen, wie’s sich gebietet und uns geboten ist in Wort und Schrift.“ Die drei flöteten, als gäben sie einen Akt auf einer Bühne.<br /> Dann wurde mein Kopf hochgerissen. Ich blickte auf eine Mauer. Sie war überwiegend aus Beton, hin und wieder ragten Steine und Eisenteile hervor. Ihr Ausmaß zu erfassen, blieb mir keine Zeit. Denn die drei sagten unisono. „Eins.“<br /> Direkt vor mir war eine weißmarmorne Tafel in die Mauer eingelassen, auf der in schwarzer Schrift „Dr. Joh. H. Fausts Anstalt für IRRESEIN und andere Verwirrtheiten in Geist & Seele“ geschrieben war.<br /> „Zwei“, sagte das Trio. Ich wollte der Kopf höher heben, denn dass die Mauer, so wie es mir schien, bis in den Himmel reichte, konnte nicht möglich sein. Doch da sagten sie schon: „Drei.“ Sie drückten meinen Kopf auf die Brust zurück und das noch härter als zuvor, sodass meine Nackenwirbel knackten und ich eine lähmende Hitze in mir verspürte. „Jetzt wird’s noch mal hart“, sagten sie, „aber du wirst es überleben.“<br /> Und dann – und so war’s, obwohl’s so doch nicht gewesen sein kann – hoben sie mich an, nahmen Anlauf, liefen auf die Mauer zu und in sie hinein. Da war kaum Widerstand, es war mehr wie ein Gleiten zwischen Tüchern, doch in der Mauer wurde echt hart, wie in einem Sturm war’s, der Kiesel und Nägel entgegen peitscht. Und nur dadurch, dass die drei mich auch da noch in ihrem Griff behielten, wurde ich nicht zertrümmert und der eine Atemzug, den es dauerte, nicht mein letzter.<br /> Der Raum, in den wir gelangten, war matt erleuchtet und roch nach alten Büchern, die nach Jahrhunderten wieder aufgeschlagen werden. Neben Lachen, Schreien und einer tiefen, fast beschwörende Stimme dominierte Stille.<br /> Und ich war nicht mehr im Griff der drei. Ich stand zwischen ihnen, als gehörte ich dazu, als wäre ich ihresgleichen und wir wären in einer harmlosen Verabschiedung aus einer Plauderei.<br /> „Meine Sachen“, sagte ich und bewegte meine schmerzenden Schultern. „Ich brauche meine Tasche, meine Gitarre.“<br /> „Greta ist ein gutes Kind“, sagten sie, „sie gibt Acht auf fremde Sachen.“<br /> Der Direktor deutete nach vorne. Da sah ich die Rezeption, ein halbrundes, bis zur Decke mit dickem Glas gesichertes Kastell. Darin saß an einem ebenso halbrunden Tisch eine Person, die in einen fleischfarbenen Overall gekleidet war und mit einem Finger die dunkel gerahmte Brille näher an die Augen schob und dann, als hätte sie uns nur dadurch wahrgenommen, uns dann mit einem Wink weiter ins Gebäude hinein wies.<br /> „Es ist Wagner“, sagte der Direktor erleichtert, „der verpfeift uns nicht.“<br /> „Wie immer Wagner“, sagte die lustige Person, „und er verpfeift uns nicht, weil, wenn er pfeift, tut er’s seit Jahren schon aus dem letzten Loch. Wagner will nur noch überleben, und das heißt, er funktioniert auf niedrigstem Niveau.“<br /> „Ich trau ihm nicht“, sagte der Dichter. „Auch wenn er minimal funktioniert, läuft ohne ihn hier nichts. Und das weiß er.“<br /> Der Direktor beorderte uns, dem Wink Wagners folgend, weiter. Ich drehte mich um. Und Wagners Blick und mein Blick trafen einander. Er hatte die Brille abgenommen und sich halb erhoben, um uns nachblicken zu können. Und ich kam nicht aus diesem Blick, wie in einem Rätsel war’s, das man wendet und wendet, das man bedenkt und bedenkt, dessen Lösung man sich nahe weiß und sie doch nicht erkennt. Und dem Wagner, das wusste ich, ohne dass ich wusste, woher ich’s wusste, erging’s ebenso.<br /> Wir hätten bis ins Ewige in diesem Blick verweilen können, wenn nicht die lustige Person gegen mich gelaufen wäre, nur dadurch stürzte er nicht zu Boden. Der Dichter ließ einen geängstigten Schrei hören und der Direktor einen brachialen Fluch. Denn ein großer schwarzer Pudel wuselte zwischen uns herum, knurrte mal diesen, mal jenen an und zeigte sein Gebiss.<br /> „Teufel noch mal!“, eiferte die lustige Person, „die Töle spukt auch noch durch die Nacht!“<br /> Der Dichter drückte sich an den Rücken des Direktors, zitterte. „Der Hund ist längst entsorgt, hat man uns versichert“, zischte er. Wer hat uns nur so belogen?“<br /> „Ich“, sagte der Direktor. „Aber ich wusste es nicht anders, der Chef persönlich hatte angeordnet, dass Hunde innerhalb der Mauern nicht mehr erlaubt seien.“<br /> „Es hört keiner mehr auf ihn“, sagte die lustige Person und schnitt eine Grimasse in Richtung des Pudels. „Nicht mehr lange und es tanzen uns die Mäuse auf dem Tisch und Lobesan persönlich spielt auf dazu, wenn nichts Entscheidendes passiert und sich nichts ändert.“<br /> Der Dichter schrie nun und umklammerte den Direktor ganz von hinten, denn der Pudel war zu ihm gekommen, richtete sich an ihm auf und wollte seine wie glühend rote, dampfende Zunge übers Gesicht streichen. „Macht doch was“, kreischte der Dichter, „diese Bestie frisst mich auf.“<br /> „Den Teufel tut das Viech!“ Der Direktor versuchte, den Dichter abzuschütteln, es gelang ihm nicht. „Dieser Hund liebt dich, das Spiel ist eindeutig.“<br /> „Aua!“ schrie der Dichter, denn der Pudel war mit einem Zahn in sein Ohr geraten.<br /> Die lustige Person hielt sich die Bierwamme vor Lachen.<br /> Der Direktor fluchte neuerlich.<br /> Und ich konnte mich nicht überwinden, dem Dichter beizustehen. Tiere allgemein und Hunde im Besonderen gingen mich nie was an – die Katzen meiner Mutter haben mich geprägt in dieser Haltung. Ob artgerecht gehalten oder batteriegezüchtet, das Kotelett oder das Ei kümmert sich darum nicht, und Hunde scheißen einem vor die Füße oder machen Schlagzeilen durch Beißattacken. Dennoch kam’s irgendwie so, dass Direktor, Dichter und Pudel mir so nah kamen, dass ich nicht anders konnte, als dem Hund ins Fell zu greifen und an ihm zu zerren. Und war’s das, dass ich ihn berührte, oder war’s der Pfiff, der von irgendjemandem von irgendwoher abgegeben wurde, was machte, dass der Hund vom Dichter abließ und sich, mir dabei einen tiefen Blick aus seinen blau funkelnden Augen schenkend, davontrollte.<br /> Nun ließ auch der Dichter vom Direktor ab. „Danke“, sagte er zu mir und reichte mir seine noch zitternde Hand, „das vergesse ich dir nie.“<br /> Der Dirktor schüttelte sich. „Ich bestell Blausäure für die Töle“, sagte er. „Und du!“ Er zupfte den Dichter am Ohr, das vom Zahn des Pudels gezeichnet war. „Dich schicke ich in die Hundeschule.“<br /> Die lustige Person lachte. „Damit er Sitz lernt und Platz und Wau!“, keuchte er vor Belustigung. „Dass er ein Dichter wird, wie ihn die Welt noch nie hatte.“<br /> Da lachte auch der Direktor wieder.<br /> Aber der Dichter sagte, was er so schon einmal gesagt hatte: „Geh und such dir einen andern Knecht.“<br /> „Das hatten wir schon!“ Der Direktor ging mit erhobenem Kopf weiter. „Vorwärts, unsere Nacht ist kurz wie immer.“<br /> Es war nicht auszumachen, wie die Räumlichkeiten der Anstalt im Detail gestaltet waren. Korridore taten sich auf, Flure, die teils ins Freie hinauszuführen schienen, teils wie blinde Zeilen wirkten, tote Fenster, Türen ohne Rahmen oder deutliche Konturen zur Wand, keine Bilder, hier und da eine Aushängetafel mit vergilbten Blättern, die Schrift unleserlich. Einmal ein Tor, das von außen verriegelt und verschlossen war. Am Riegel hing ein Emailleschild: „Prof. Faust privat“.<br /> Die drei hüstelten bedeutsam, als wir daran vorbeigingen. Lachen und Schreie unverändert, die beschwörende Stimme war nun jedoch so zu vernehmen, als töne sie immer wieder von dort hinter der Wand, wo wir uns befanden. Einmal ein Gurren, als flöge ein großer, von uns aufgescheuchter Vogel über uns hinweg.<br /> Aber’s war wie selbstverständlich, dass es so war. Seit ich aus dem Griff der drei entlassen war, stand mir die Welt anders gegenüber, ich konnte sie hinnehmen, konnte, seit ich in der Anstalt war, mich abfinden mit mir. Das waren nur Minuten bisher, doch erfasste mich eine Gelassenheit, wie sie sonst wohl nur nach einem zur Gänze gelebten Leben geboten wird. Ich war angekommen.<br /> Der Direktor hielt, deutete fauf die Wand vor uns und sagte: „Treten Sie ein, Herr Faust!“<br /> Und da erst war eine Tür in der Wand, die sich öffnete wie von selbst.<br /> „Nun geh schon“, sagte die lustige Person und stieß mir eine seiner Pranken in den Rücken. „Du hast freie Kost und Unterkunft und die Gedanken sind auch frei.“<br /> Ich stolperte über die Schwelle.<br /> „Gute Nacht“, sagte der Dichter, „und träum was Schönes.“<br /> Die Tür schloss hinter mir. Ich war allein. Das Zimmer war karg eingerichtet. Bett, Schrank, Tisch, Stuhl. Hinter einem Vorhang Toilette und Waschbecken. Der Kühlschrank war leer, die Beleuchtung defekt.<br /> Ich zog die Vorhänge vor dem Fenster zur Seite. Überraschenderweise konnte ich es problemlos öffnen. Ich blickte in einen klaren Nachthimmel; so nah war ich den Sternen noch nie gekommen, noch nie hatte ich sie so groß und schön gesehen. Der Tequila rumorte in mir. Ich wollte den Kopf hinausstrecken und frische Luft atmen. Doch ich prallte mit der Stirn gegen eine harte, glatte, kalte Platte und das gesamte himmlische Inventar wirbelte durch meinen Kopf. Das Fenster war von außen vernagelt und der Himmel eine Illumination, er war nicht aufgemalt, sondern eine Projektion – das technische Prinzip dafür konnte ich nicht erkennen.<br /> Frische Luft kam so nicht ins Zimmer. Auch kein Laut drang herein, kein Lachen, kein Schreien, keine Stimme.<br /> Ich ging zur Tür zurück. Das Fenster zu schließen, machte keinen Sinn. Ich lehnte den Kopf gegen die Tür, presste ein Ohr an sie. Es war jemand auf der anderen Seite, das spürte ich. Und ich dachte sofort: Das ist Wagner! Und ich fragte: „Bist du’s?“<br /> „Ich bin’s“, wurde geantwortet. „Kann ich mit dir sprechen? Nur fünf Minuten?“<br /> Ich öffnete die Tür. Der Dichter stand davor. „Du hast jemand anderen erwartet?“, fragte er. „Wagner? Aber der hat mit jedem Blick eh schon mehr versprochen, als er halten kann.“<br /> „Warum sollte ich Wagner erwartet haben?“ Ich gab dem Dichter den Weg ins Zimmer frei.<br /> Der Dichter ließ die Tür einen Spaltbreit hinter sich offen. „Wir kennen Wagner“, sagte er. „Er ist ein windiger Typ und so frisches Fleisch wie du ist hier schon lange nicht mehr reingekommen.“ Er hielt mir ein handgroßes altes Blatt entgegen. Eine Zeichnung. Das undeutliche Porträt eines jungen Mannes. Ein Original wohl, denn es war signiert und mit der Jahreszahl 1516 versehen. Die Jahresangabe und die Signatur stammten eindeutig von verschiedenen Personen.<br /> „Wer ist das?“, fragte ich. „Kunst und altes Zeug interessieren mich nicht, ich lebe im Jetzt.“<br /> „Das bist du“, sagte der Dichter und hielt mir das Blatt näher an die Augen. „Aber ich find’s nicht gut getroffen.“<br /> „Warum bin das ich?“ Ich nahm das Blatt an mich. Auch mit dem Zugeständnis, dass das Bild, das man selbst von sich hat, stets ein anderes ist, als das, was andere von einem haben, konnte ich keine Ähnlichkeit zu mir feststellen. Außerdem, wenn die Jahresangabe stimmte, war das Porträt vor beinahe einem halben Jahrtausend entstanden, und in so ’ner Zeit dreht sich die Welt mindestens einmal von Abgrund zu Abgrund und zurück. „Nie und nimmer bin ich das“, sagte ich. „Wie kommst du nur auf solchen Unsinn?“<br /> „Der Professor hat’s behauptet.“ Der Dichter tänzelte weiter ins Zimmer hinein. „Suche mir diesen Jüngling, hat er zu mir gesagt und mir dieses Blatt in die Hand gedrückt, suche ihn, bis du ihn findest, und falls du ihn nicht sicher erkennst, beobachte sein Umfeld, er hängt, so wie ich ihn einschätze, am Rockzipfel seiner äußerst schönen Mutter.“<br /> „Und?“, fragte ich.<br /> „Dich habe ich bislang nicht gefunden“, sagte der Dichter. „Äußerst schöne Mütter des Öfteren.“<br /> „Aber warum solltest du mich finden?“<br /> „Dazu hat der Professor geschwiegen.“ Der Dichter schloss das Fenster, zog die Vorhänge zu. „Ist besser, wenn davon nichts nach draußen gelangt, der Professor wollte damals nicht, dass die Sache unter die Leute kommt und das wird sich bis heute nicht geändert haben, denn …“ Die Miene des Dichters wandelte sich ins Spitzbübische. „Es gab Gerüchte um Unterhaltsforderungen einer äußerst schönen Mutter gegen den Professor, es gab Gerüchte um die Klage eines Knaben einer äußerst schönen Mutter auf Vorauszahlung seines Erbes. Du musst wissen, der Professor war ein Mann mit Vermögen. Wie genau er so auf den Hund gekommen ist mit dieser, sagen wir’s mal so, Institution, die er Anstalt nennt, dafür gibt’s keine Chronik, aber … Also, wir waren der Meinung, der Professor wollte die Möglichkeit ausschließen, dass ein Ableger von ihm, er soll manchmal sogar von einem Bastard gesprochen haben, irgendwann auf den Plan tritt, wenn’s grade auf der Kippe steht mit seinen Unternehmungen, und ihm alles zunichtemacht. Denn solche Geschichten sind immer ein gefundenes Fressen für die Medien.“<br /> „Aber ich?“ Ich fasste den Dichter am Hemd vor seiner Brust. „Was habe ich mit der Geschichte zu tun?“<br /> „Tu nicht dümmer, als du bist!“, sagte der Direktor. Er war gemeinsam mit der lustigen Person unbemerkt ins Zimmer getreten. „Und du!“ Er verpasste dem Dichter eine deftige Kopfnuss „Schlag dir die ganze Geschichte nicht allein zu.“<br /> „Wir waren nämlich auch dabei“, sagte die lustige Person. „Unserem Dichterle allein hätte der Professor nie und nimmer so eine heikle Sache anvertraut.“ Er nahm mir das Blatt aus der Hand, verglich mich mit dem gezeichneten Porträt.<br /> „Ist er’s?“, fragte der Direktor.<br /> „Er ist es!“, antwortete die lustige Person. „Wie ich’s gesagt habe noch vor dem ersten Bier.“<br /> Der Dichter rieb sich über die schmerzende Stelle am Kopf. „Und das ist kein Zufall, oder?“, fragte er.<br /> „Natürlich nicht.“ Der Direktor kontrollierte irgendwas am Fenster. „Die Anwesenheit dieses jungen Mannes ist das Ergebnis unserer jahrelangen Bemühungen, den vermeintlichen Sohn unseres Chefs und Meisters aufzuspüren und ihm zuzuführen, wie es einst unser Auftrag war.“<br /> „Das wird eine Freude!“ Die lustige Person klatschte ihre Pranken ineinander. „Papachen und Sohnemann fallen einander um den Hals und …“<br /> Ein lautes, wütendes Bellen ertönte auf dem Korridor, kam schnell näher.<br /> „Rückzug!“, befahl der Direktor. „Wenn uns die Töle hier erwischt, wird’s ein teurer Spaß.“ Er flüchtete aus dem Zimmer.<br /> Der Dichter und die lustige Person taten’s ihm gleich. In der Tür hielt die lustige Person noch einmal inne, fragte: „Du heißt doch Justus, weil deine Mutter dich so genannt hat? Oder?“<br /> Ich nickte – und weg war er.<br /> Die Tür stand offen. Und zwei Schritte davor saß der schwarze Pudel auf dem Korridor und sah mich an. Seine wieder wie glühend rote Zunge hing ihm zum Maul heraus und dampfte. Davon roch es in meinem Zimmer nach verbrannter Haut.<br /> „Hey, Bello“, sagte ich und bewegte mich vorsichtig zur Tür. Ich musste verhindern, dass der Hund zu mir ins Zimmer kam, denn dann würde es alles andere als eine gute Nacht werden. „Ich tu dir nix!“<br /> Der Pudel bewegte den Kopf einmal zur Seite, knurrte.<br /> „Ich hab nur noch zwei Joints“, sagte ich. „Und die brauche ich selber.“<br /> Der Pudel japste, als wäre ihm das ohnehin egal, ließ mich aber nicht aus den Augen.<br /> „Du bist ein Guter“, sagte ich und war nur noch einen Schritt von der Tür entfernt, „und du bleibst auf deinem Platz und passt auf mich auf.“<br /> Eindeutig, der Pudel grinste, er zog eine Lefze schräg nach oben, die andere schräg nach unten und schniefte, dass es aus seinen Nasenlöchern sprühte.<br /> Leck mich, dachte ich, blöder Köter, und griff nach der Tür, um sie ins Schloss zu schlagen. Aber ich bewegte sie nicht, sie blieb unverändert, als wäre sie mit der Luft verschweißt. Ich versuchte es mehrmals, trat schließlich gegen die Tür, sprang sie an, aber außer noch stärker schmerzenden Schultern erreichte ich nichts.<br /> Und der Pudel saß da mit zur Seite geneigtem Kopf und lachte über mich.<br /> Ich streckte ihm die Zunge raus. Was war das für eine verflixte Situation! Was für eine saublöde Sache, in die ich geraten war? Warum überhaupt hieß ich Faust? Warum nicht Hand oder Finger? Dann wäre ich nie und niemals an die drei Typen geraten, die wie Karnevalsjecken daherkamen und sich als Headhunter entpuppten; nie und niemals würde ich dann vor einer Bestie von Hund strammstehen müssen und mich von ihm auslachen lassen; nie und niemals wäre ich versucht, zu sagen, nun hilf mir doch mal einer, verdammt, ob Engel oder Teufel ist egal! Hilfe! Und vielleicht sagte ich es doch?<br /> Denn auf denn Korridor hörte ich Schritte und einen leisen Pfiff, der dem Pudel galt, denn der wandte den Kopf zur Seite, trabte aber nicht von der Stelle.<br /> Es war Wagner. Er stellte sich neben den Pudel, legte ihm eine Hand auf die Nase, was der ohne Reaktion hinnahm. Wagner setzte die Brille ab, blickte mir in die Augen. Aber dieser Blick rührte nichts an, das dem bei unserer ersten Begegnung an der Rezeption vergleichbar war.<br /> „In diesem Haus werden nachts die Türen geschlossen“, sagte Wagner. Seine Stimme war angenehm, weich, doch ohne schmeichlerisches Timbre.<br /> „Die Tür ist kaputt“, sagte ich. „Und das Fenster ist auch eigenartig und der Hund mag mich nicht.“<br /> Wagner schnipste mit den Fingern und die Tür fiel in die Angeln wie in einem schwachen Durchzug.<br /> „Schließen Sie die Tür!“, sagte Wagner. „Halten Sie Ruhe bis zum Morgen und kommen Sie rechtzeitig in mein Büro, damit wir die Formalitäten klären. Gute Nacht! – Und denken Sie daran, was man in der ersten Nacht in einem neuen Zuhause träumt, das erfüllt sich.“<br /> Wagner ging. Der Pudel trabte neben ihm her. Ich bemerkte, dass der Hund auf dem rechten Hinterlauf hinkte und hörte ein leises Klicken, wenn er die Pfote auf den Boden setzte, als hätte er Horn oder einen metallenen Beschlag dort.<br /> Ich setzte mich aufs Bett, fummelte mir einen von den Joints aus der Tasche und zog ihn mir rein. Dieser Wagner würde sich kringeln, wenn er einen Schimmer davon bekäme, was ich träumen würde. In zehn Minuten würde ich nicht nur der verwachsenen Töle die Flötentöne beibringen, sodass die nie wieder lachte über einen Menschen und samt Wagner Männchen macht vor mir, so wie ich’s ihnen gebiete, und dem Kanaillentrio würde ich Beine machen und die Leviten lesen und es aus dem Anzug schütteln, sodass weder Direktor noch lustige Person noch Dichter wüssten, wer wer denn wirklich ist in ihrem Verbund, und dem Chef dieses Hauses würde ich den Bart zausen und vielleicht würd ich Vater zu ihm sagen, nur so aus Spaß natürlich, und mich putzig machen über sein Erschrecken oder seine Freude, oder ich würd ihm sagen, hey, Alter, nun zeig mal Pflichtbewusstsein, kümmere dich um dein liebes Kind, gib ihm Zaster und Weisheit, sodass ihm die Luft nicht ausgeht zwischen den elenden Steinen und Knüppeln des Daseins, damit was wird aus ihm und er eine Geschichte kriegt.<br /> Aber es kam alles anders und doch genauso.<br /> Mit dem Pudel hatte es seine Bewandtnis, auch wenn weder ich noch ein anderer, auch Professor Faust nicht, seinen wahren Kern bestimmen konnten.<br /> Für Wagner und für mich ging’s einen eignen Weg, für so was gibt’s kein Bedenken und keine Ahnung.<br /> Vom Direktor, der lustigen Person und dem Dichter habe ich nie wieder etwas gehört oder gesehen, auch wenn ich zuweilen glaubte, sie in anderen Insassen der Anstalt auszumachen; sie blieben verschollen.<br /> Und was den Professor und mich betrifft, so ist’s das Salz und der Speck der Geschichte, die ich für mich von ihm einzufordern gedachte.<br /> Auch, dass ich mir nach dem vorletzten noch den letzten Joint reinzog, ging auf eine Geschichte, und der Tequila hatte auch noch sein Wirken in mir, auf die ohnedem nicht zu kommen gewesen wäre, obwohl es sich zu Anfang so gehabte wie immer, also: Ich lachte, einfach so, mir war danach und warum nicht, man gönnt sich ja sonst nichts, und warum nicht reden, man wird ja eh von allen Seiten angelabert und zugetextet, gibt man auch seinen Senf dazu und mit ’nem riesenroten Punkt auf’m i, und den Hunger, na ja, den lässt man stecken, haste nix zu beißen, brauchste nix zu schlucken, auch wenn’s in den Sand gesetzt ist, und keiner kann mir verbieten und ich lass mir nicht verbieten, wo ich mich einbringe, wo ich meinen Spaß hab und mit wem, sind eh nicht die schlechtesten, die tanzen und lachen und sich auf geilen Jux verstehen, und alles so schön bunt und warm und mit groovigen Sound, da bin ich dabei und war’s auch.