Schiffsuntergänge haben die Tendez zu Legenden, zum Mythos zu werden. Das trifft besonders dann zu, wenn sie Thema der Literatur werden. Die „Titanic“ konnte so überhöht zum Fanal gegen technologischen Allmachtsglauben werden oder zum Symbol für das Ende des 19. Jahrhunderts.
Der Untergang des Segelschulschiffs „Pamir“ 1957 wurde zum Negativpol des „Wunders von Bern“ im optimistischen deutschen Wirtschaftswunder. Von blitzartigem Untergang in einem tückischen Sturm war die Rede. Doch die Fakten waren eigentlich andere. Schon das Seefahrtsamt Lübeck hatte in seiner Untersuchung des Untergangs festgestellt, dass zahlreiche gravierende Fehler auf das Konto des Kapitäns Johannes Diebitsch gingen, unter anderem die unsachgemäße (und durch die darin ungeübte Besatzung) Beladung mit loser Getreidefracht, die im Sturm verrutschte und letztlich zur Kenterung führte. Zudem wurde das Schiff nicht auf den schon seit mehreren Wochen durch den Atlantik ziehenden Hurrikan „Carrie“ vorbereitet.
Der Autor und Segler Johannes Soyener hat in seinem jetzt als Taschenbuch vorliegenden Tatsachenroman „Sturmlegende“ noch mehr Ursachen des Untergangs und des Todes von 80 Seeleuten ausgemacht. So fand er Unterlagen, die darauf hin deuteten, dass die Pamir wegen fortgeschrittenem Rostbefall eigentlich nicht mehr seetüchtig war. Doch die für den Betrieb des Schiffes zuständige Stiftung war pleite und wollte die Werftkosten sparen. Zudem war nicht nur der Kapitän mit seiner Aufgabe überfordert. Auch der Rest der Stammbesatzung war nicht ausreichend qualifiziert, ein Schulschiff dieser Größe zu führen.
Hinzu kam noch ein völliger Leichtsinn des Kapitäns: Er kümmerte sich nicht darum, regelmäßige Wetterberichte zu erhalten. In dem Falle wäre es leicht gewesen, dem Sturm rechtzeitig auszuweisen. Doch der Funker und Zahlmeister des Schiffes gab ohne direkte Anweisung des Kapitäns keine Wetterwarnungen weiter, so dass das Schiff mit voller Besegelung in die Ausläufer des Hurrikans geriet.
Soyener hat mit seinem Buch die Tradition dokumentarischer Romane, wie sie etwa Sebastian Junger mit „The Perfect Storm“ vorgelegt hat, auf ein Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte angewendet. Er hat auch die seltsame „Karriere“ von Kapitän Diebitsch im Nationalsozialismus nachgezeichnet. Und versucht mit Figuren wie dem Kadetten Joe ein wenig Flair der rebellischen deutschen Jugend in den 50ern einzufangen. Das Buch ist nicht ohne Romantik, doch es hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Reeder und Kapitän haben die Pamir in einen absehbaren Untergang geführt. Und durch die Zahlung der Versicherungsprämie war die letzte Fahrt dieses legendären Schiffs zugleich die einzige als Schulschiff, die den Besitzern einen finanziellen Gewinn einbrachte.
Johannes K. Soyener – Sturmlegende. Die letzte Fahrt der Pamir (Bastei Lübbe TB 15932)