Ole Schwabe unterwegs zu Uwe Saeger

Achtundzwanzig Jahre jung war Uwe Saeger, als er 1976 mit dem schmalen Erzählband  „Grüner Fisch mit gelben Augen“ im Rostocker Hinstorff Verlag debütierte. Sieben Texte, in denen sich neben autobiographischen Bildern des Ueckermünders vor allem ein Motiv  wieder findet: Das Wasser und was es mit den Menschen macht. Und so liegt es nahe, sich dem bis heute außergewöhnlichen Erzählers Saeger auf Peenestrom und Haff zu nähren.

„ Die Hitze war kaum erträglich, und der Duft welkenden Grases und fauligen Wassers trieb in ihr.“

Als das letzte Lüftchen plötzlich weg ist, fühle ich den Sommer. Hinter Lassan fließt der Peenestrom in zwei zähen Kurven und bereits zu Beginn verfluche ich meinen Aktionismus, die Aufnahmen zu einem Radiofeature über Uwe Saeger mit einer Paddeltour zu kombinieren. Die von mir im Vorfeld ausgelobten frischen Küsse der Muse hinsichtlich Interviewfragen schmelzen unter der Sonne in völliger Flaute zusammen. Ich denke tatsächlich an gar nichts. Die fünf Meter Kajak und ich schleppen uns bis zur Zecheriner Brücke auf halber Strecke zwischen Wolgast und Ueckermünde.
„Jetzt rechts die Peene hoch bis Anklam“, fabuliere ich und kippe hastig das Radler, „dort hat sich der Nöhr aus dem ‚Kakerlak‘-Roman von Saeger mit seiner Karre von der Brücke gestürzt.“
Die Gedanken, wie ich diesen regionalen Bezug später textlich verwurste unterliegt dem Sonnenstich und ich mümmle leidend Graubrot mit veganem Olivenaufstrich.
Stunden später knirscht der Kiel des roten Kajaks endlich leise durch den groben Sand der Campingplatzbadestelle, es dämmert schon und ich danke den langen Wellen des Haffs und  meiner Angst. Beide traten mir in den Hintern und verhindern einen Abbruch.
Der Platzwart sitzt bei Pflaumenschnaps und Filterzigaretten vor seinem Blockhüttchen, verkauft mir Duschmarken, Bier und Übernachtungen. In dieser Reihenfolge kämpfe ich mich durch den Abend bis mich der Schlafsack verschluckt.

„ Über dem Ufer war der Himmel blass, nur über das Haff hin spannte sich tiefblauer Glast. Selten zuckte eine Handvoll Wind über das Wasser, es sanft kräuselnd. Kaum Leben. Ein stiller Tag.“

Als erstes ist da Bella. Ich stehe vor dem hölzernen Gartentor und suche die Klingel, doch Bella ist schon heran, noch bevor ihr Herrchen die Hand zum Gruß erhoben hat. Ungestüme Pfoten trapsen auf meiner Brust und kaum können wir uns den Weg zum Haus bahnen, so eifrig flitzt die heimliche Hausherrin um unsere Beinen. Die Anstalten sie zu verscheuchen, gehen völlig unter und Uwe Saeger, breitschultrig, sonnengebräunt mit akkuratem grauen Schnurrbart, hebt entschuldigend die Hände, er könne nun mal niemanden erziehen. Obwohl angekündigt, haftet meinem Besuch doch etwas Unerwartetes an, „Das du noch kommst hätte ich nicht gedacht. Dachte du wärst abgesoffen mit deinem Boot.“
Die Freude ist echt, das Du von Anfang an natürlich und während ich in der Küche in Ruhe ankomme, Kaffee und ausgesperrter Bella sei Dank, ruft er seine Frau an. Das ich doch gekommen sei.
Bellin ist ein überschaubares Ortsteilchen von Ueckermünde, direkt am Haff gelegen und der Ort, an dem Saeger aufwuchs, zu schreiben begann sobald er es konnte und bis heute lebt und arbeitet. In seinem Elternhaus mit alter Scheune, Gemüsebeeten und einem massiven Steg im  dichten Schilfgürtel. Viele Winter drückte der harte Frost dicke Eisschollen gegen die Bohlen und Bretter und in jedem Frühling danach, erzählt Saeger gleichmütig, schufte er hier aufs Neue, natürlich alleine.
Körperliche Arbeit war, noch vor der großen Flucht Schreiben, prägend in der Kindheit. Der Großvater war Fischer, ebenso der Vater. Und Uwe Saeger war ein Sohn, der genau wusste, was er nicht werden wollte. Der Konflikt zwischen Vater und Sohn, die unterbewussten wie auch ganz offensichtlichen Spannungslinien und Hassmomente ziehen sich in literarisierter Form durch weite Teile von Saegers Werk. Beinahe zart treten sie in den Geschichten um den Fischerjungen Nob, im eingangs erwähnten Grüner Fisch mit gelben Augen zu Tage.

„ Er setzte sich neben Nob auf die Ruderbank , und sie aßen ihre Brote, die wie immer  dick mit fettem, schwach geräuchertem Speck belegt waren und die Nob nicht mochte, die er aber essen musste, weil der Vater nicht duldete, dass Nob etwas nicht aß, was er selber essen musst. […] Und Nob dachte wieder, wie müde er war und wie lange schon und dass er etwas tun möchte dagegen oder auch gegen den Vater, aber als er in dessen Gesicht sah, das im Zug der Zigarette erhellt wurde, fern und gespenstisch, lehnte er sich gegen ihn und schloss die Augen.“

Alle vier Geschichten erzählen von den kleinen, harten Kämpfen eines entbehrungsreichen Alltags. Vom sich beweisen wollen des Jungen, der zum Rumpf des abgeschossenen Flugzeugs taucht, an dem sich das Netz verhakt hat, vom Eingeschlossensein im Eis und den Momenten der Zartheit, wenn der Vater vom Krieg und den weinenden Mädchen im Bordell erzählt, von dem Moment in dem er begriff, das sie es „nur fürs Brot“ tat.
In Borkos Lied ist Nob der einzige, der um den halb verwest in einer Strohmiete gefundenen Landstreicher Borko weint und Iris, die kleine Schwester, versteht nicht warum den Bruder die Strophen des Liedes nicht trösten.

„Mein Grab bleibt leer ich weiß
niemals kann ich sterben niemals weiter gehn
kein Stein trägt meinen Namen
kein Wurm frisst mein Gebein
ich werde immer Sehnsucht säen und sehnend sein.“

Und auch, wenn die Handelnden in allen Erzählungen Einsame sind, so sind sie nicht ‚physisch‘ allein. Dies wird deutlich, besieht man sich die Darstellung der Natur, insbesondere die des Wassers in der frühen Prosa.
Der Literaturwissenschaftler Dr. Wolfgang Gabler schrieb in seinem 1990 erschienenen Essay Erzählen auf Leben und Tod, welche Saegers Prosawerk der 80er Jahre zum Gegenstand hat,

„dass das Wasser nicht einfach Kulisse für die Aktionen der literarischen Figuren bleibt. Es wird geradezu selbst zur literarischen Figur, denn es erscheint als ein mit eigenem Willen ausgestattetes Subjekt […] – ein Ort der Gefahr.“

Auch heute noch fährt Saeger raus aufs Haff, rudert Kilometer um Kilometer, braucht, so sagt er, die Schinderei. Wenn er schreibt, dann meistens nachts, mit Kaffeetasse und Kugelschreiber auf kleinkariertem Papier. Der Schreibtisch ist nur eine kleine Fläche innerhalb des vollen Bücherregals, daneben ein einfaches Bett. Schreiben, sagt Uwe Saeger, völlig unpathetisch, war das Mittel die Kindheit zu überleben, später ermöglichte es die Flucht aus dem verhaßten Dasein als Lehrer für Geographie und Körpererziehung in die Freiberuflichkeit. Es ernährte die Familie und brachte 1987 den Bachmann-Preis für den Text Aus einem Herbst jagdbaren Wildes, sechs Jahre später dann den Adolf-Grimme-Preis für das Drehbuch Landschaft mit Dornen und im Jahre 1996 schließlich den Kulturpreis des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Vor allem aber brachte es dem Autor Linderung, schuf ein Dasein als Schreiber.
Ein Schreiber, der mit Intensität erzählt und der, wie er nach dem Gewinn des Bachmann-Preises 1987 ins ORF-Mikrofon sprach, oftmals anders leben möchte, ohne ‚die Schreibe‘, die keinen Feierabend kennt, im Mittelpunkt des Lebens steht und eigentlich keine erklärenden Wort mehr benötigt, wie folgendes Zitat aus dem Jahre 1991 unterstreicht:

„Was zu Papier kommt spricht entweder für sich oder nicht. Der Autor ist dahinter immer nur der klägliche Rest, den man besser nicht anrührt.“

Fragt man Wegbereiterinnen nach persönlichen Lieblingstexten im umfangreichen Werk aus Hörspielen, Drehbüchern, Theaterstücken und Prosa, so fällt häufiger der Name Plonck, eine Novelle aus dem Debütband. Eine Geschichte über einen jungen Mann, der aus Liebe zu Marisa, seinen Onkel und zugleich Mörder ihres Vaters, erschlägt. Und es ist die Geschichte von Berger, der mit Plonk zur Schule ging, der ihn bewunderte/liebte und sich neun Jahre später, beim Familienurlaub am Haff, an ihn erinnert.

„Doch, man muss alles erzählen, alles ohne Vorbehalt erzählen und erzählen, bis man nackt ist, und die Haut muss man sich vom Leib erzählen, so muss man erzählen, so musst du erzählen, erzähl mir so, du, erzähle doch…“

Diese Forderung von Berger kann bis heute als Grundcharakteristik von Saegers literarischen Arbeiten dienen. Wolfgang Gabler kommt in seinem bereits erwähnten Essay zu dem Schluss, Saegers frühe Prosa sei geprägt von einem ‚radikalen Erzählen‘,

„ das auf den Leser nur wenig Rücksicht nehmen kann. Das Vermögen, sich die Haut vom Leibe zu erzählen, hat nur der, der ohne zu erzählen nicht leben kann.[…] Deshalb ist seine Prosa eine Erzählung von Leben und Tod und ein Erzählen auf Leben und Tod.“

Im persönlichen Gespräch fügt Wolfgang Gabler dann noch hinzu, dass sich Saegers Drang zu einem ‚radikalen Erzählen‘ in den letzten Jahren noch verstärkt habe, hin zu einer sehr dichten Kunstsprache, die sich bewusst absetzen möchte von den Mühen alltäglicher Ebenen. Kein Realismus, keine leichte Kost, nichts für einen Feierabend.
Im Frühjahr 2014 erscheint der neue Roman Faust Junior und seine Essenz ist stark und einfach: So muß er erzählen, der Uwe Saeger.
Der Abend im Innenhof des Klabautermanns, vielleicht einer der letzten tatsächlichen Dorfkneipen, war angenehm gewesen. Hausgemachten Brathering mit Bratkartoffeln, dazu Pils und später hatten wir geraucht und weiter getrunken.
Es war noch nicht ganz dunkel als wir uns trennten. In der Diskussion, wer die Zeche bezahlen darf, kam ich mit meiner „journalistischen Unabhängigkeit“ nicht weit, ein bestimmtes „Schluss jetzt!“, ließ mich verstummen. Ob ich der Enkel oder der Sohn sei, hatte Erika gefragt, als sie die erste Runde Bier auf den Plastiktisch stellte.  Saeger verneinte, doch wer ich war und was ich tat, mochte er ihr nicht sagen, vielleicht später einmal, in einer ruhigeren Minute.
Auf dem Campingplatz lädt mich die Familie aus Chemnitz zu Grillwurst und Schnaps ein. Schließlich liege ich wieder im Schlafsack, die Nacht ist hell und laut, Grillen zirpen und ein leiser Wind bläht die Zeltwand. Gegen halb vier fliehe ich vor telefonierenden Menschen im Nachbarszelt aufs Wasser. Hinten über Usedom wird irgendwann die Sonne aufgehen, das Haff ist eine rosa-violette Scheibe und wie schon die ganze Nacht singen die Vögel. Der letzte Rest Graubrot mit Olivenaufstrich verschwindet in meinem Mund, und ich beginne zu paddeln, vorbei an Reusen und Graureihern, die in Ufernähe auf Steinen stehen. Hinter der Peendemündung bei Zecherin frischt der Wind auf und inmitten des Stroms schiebt Rückenwind das Kajak durch kleine Wellen, wenn sie das Heck anheben musst du paddeln was du kannst, dann tragen sie dich und du hörst nur noch den Schiebwind und im fernen Schilfgürtel Borkos Lied.
Einige Kilometer weiter bei Lassan werde ich übermütig, kreuze den inzwischen schaumgekrönten Strom hinüber zur Landspitze Möwenort, wo das Achterwasser beginnt. Bei jeder Paddelstütze zwischen den kurzen, kabbeligen Wellen über Back- und Steuerbord verfluche ich meinen Leichtsinn, denke an Nob und die gemütlich rollenden Wellen des Haffs.
Die letzten zwei Kilometer vor Wolgast plätschere ich dahin, mit schmerzendem Rumpf und müden Armen,  mit Kopfschmerzen und den paar Minuten Schlaf der letzten Nacht. In der Bahn dann die Melancholie und die Gewissheit, die Aufnahmen erstmal liegen zu lassen, erstmal muss sich alles setzen.

„Eine Erzählung“, heißt es in „Der andere Hafen“, „weißt du, das ist so ein Ding, richtig besehen, kann das kaum einer so erzählen, wie es eigentlich gewesen ist, aber, ach schweig, ich fang einfach an!“