Prediger 3,1-15 – Abgerechnet wird zum Schluß – 16.11.2008

Ihr Lieben,

immer wenn es aufs Jahresende hinaus geht, dann kommen die Rückblicke, die Abrechnungen, das Fazit unter den letzten Monaten. Auch wenn das eigentliche Jahresende noch paar Wochen weiter in der Zukunft liegt – mit dem Kirchenjahr geht es jetzt schon langsam vorbei. Da ist eine andere Rechnung angesagt. Das neue Jahr beginnt mit dem 1. Advent. Zeit also, um Fazit zu ziehen, um ein wenig zurück zu blicken?

Was ist eigentlich Zeit? Sie scheint so schnell dahin zu rasen. Ein belgischer Priester hat mal gesagt: Zeit, das ist keine Schnellstraße zwischen Wiege und Grab, sondern ein Platz zum Parken in der Sonne. Zeit – etwas, um das Leben zu genießen? Klingt prima. Und doch ist es wohl mal wieder nur die halbe Wahrheit.

Einen größeren Überblick gibt der Predigttext, den ich für den heutigen Gottesdienst ausgewählt habe. Er steht im Buch „Prediger" im Alten Testament im 3. Kapitel:

 

1 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
2 geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;
6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;
7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.
9 Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.
10 Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen.
11 Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.
12 Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben.
13 Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.
14 Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll.
15 Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.

Alles hat seine Zeit…
Sieben Strophen umfasst dieses Gedicht, denn es sind sieben Tage, die eine Woche gliedern. Vier Gegensatzpaare sind jeweils zu einer Strophe zusammengestellt, um eine Vollständigkeit anzuzeigen, so wie wir mit dem Blick von der Erde aus nach Norden und Süden, nach Osten und Westen mit den Himmelsrichtungen unseren Horizont vollständig erfassen. Und schließlich bildet jeweils ein Gegensatz eine Zeile, weil wir ständig in der Unterscheidung stehen zwischen Licht und Dunkel, Tag und Nacht, Oben und Unten, zwischen Gut und Böse, Annehmen und Verwerfen, Arbeit und Ruhen.

Weisheit nannte man im alten Israel eine solche Beschreibung. Indem man aufschrieb, was man sah, und die komplexen und vieldeutigen Erfahrungen in begreifbare, nachsprechbare Zeilen goss, wollte man versuchen, dem Leben auf den Grund zu kommen, ihm seine inneren Ordnung, seinen geheimen Sinn ab zu lauschen. Es ist der anrührende, ja auch ergreifende Versuch, das eigene Lebensschiff wie ein Steuermann kunstvoll durch die Klippen der Zeit zu schiffen und die immer wieder anrollenden, aufkeimenden Bedrohungen durch das Unwägbare, das Chaos zu bezwingen.

Wie ist das mit der Zeit – und unserem Leben darin? Ist alles festgelegt, ist alles vorher bestimmt – und wie wichtig sind eigentlich unsere Entscheidungen, die wir täglich treffen? Ingo hat vor paar Wochen diese Fragen im Forum unserer Homepage gestellt im Zusammenhang mit Türen, die Gott schließt und öffnet – und auch mit der großen Frage: hat Gott einen Plan mit uns?

Ist dieser Plan individuell? Öffnet Gott Türen vor uns. Knallt er uns welche vor der Nase zu? Schiebt ER uns durch Türen hinein/ hinaus?

Es gehen doch auch andere durch diese Türen. Manchmal mit uns, manchmal statt uns. Manche ziehen die hinter sich zu. Andere stehen in der Tür und halten sie uns auf.

Führt uns Gott gezielt zu diesen Türen? Führt er uns nicht alle wie beim Viehtrieb an allen Türen vorbei und jedes Schaf trottet aus dem Strom in seinen Stall/ auf sein Stück Weide … nach EIGENER Wahl?

Sind die meisten geschlossenen Türen demnach eh die von Schlafzimmern, Badestuben und Sch'häusern?

Ich hab damals als Antwort unter anderem folgendes geschrieben:

 

Mit dem individuellen Plan Gottes hab ich immer so meine Schwierigkeiten. Jedenfalls dann, wenn ich gesagt bekomme: Sei ruhig, Gott weiß schon, was er mit dir vorhat. Das hilft nicht weiter. Das reizt höchstens zum Protest – und zum Abweichen von dem vielleicht guten Weg.

Für mich wird das Einwirken Gottes in meinem Leben immer erst im Rückblick deutlich. Eben dann, wenn ich merke, dass ich durch eine wie auch immer geartete Tür gegangen bin, die sich dann als die richtige für den Moment herausgestellt hat, wo mir Perspektiven und Ziele in neuem Licht erscheinen.

Um es im Ton des Predigttextes zu formulieren: Es ist wichtig zu erkennen, was im Moment grad dran ist mit mir oder mit uns allen. Ist es eine Zeit, um einfach Mut zu machen – oder eine Zeit um auf den Tisch zu hauen vor Ärger. Ist es eine Zeit, wo ich mich selbst bis zu Erschöpfung in einer bestimmten Sache wie etwa der Freibeuterei engagieren sollte – oder sollte ich vielmehr danach schauen, dass der Rest des Lebens ins Lot kommt.

 

Man kann ja die Worte des Predigers so verstehen, dass es für alles eine bestimmte, eine gute Zeit gibt. Einen idealen Zeitpunkt, um Dinge anzugehen. Um das Leben in die Hand zu nehmen. Eine Zeit zu bauen, eine Zeit zu pflanzen, eine Zeit zu suchen.

Auf diesem Hintergrund wären die Worte unseres Predigttextes quasi ein Kommentar zu der Aufforderung, seines Glückes Schmied zu sein. Sei auf der Hut! Nutze die Zeit gut! Verpasse den richtigen Augenblick nicht.

Das klingt einerseits sehr verlockend und einleuchtend für uns. Wir als moderne, autonome Menschen möchten unser Leben doch gerne in die Hand nehmen. Wir möchten unsere Chancen nutzen. Aber wenn unsere Lebenszeit eine Abfolge von Möglichkeiten und Chancen ist, dann erzeugt das auch einen subtilen Druck. Denn was, wenn ich meine Chancen nicht nutze, wenn ich den richtigen Zeitpunkt nicht abpasse? Wie erkenne ich den richtigen Augenblick?

Aber hat der Prediger seine Worte auch so gemeint? Denn er benennt ja nicht nur positive Dinge, weist hin auf die Chancen des Lebens. Jeder Lebenserfahrung, die er beschreibt, ist ein Gegensatz zugeordnet, kunstvoll geordnet wie in einem Gedicht.

Geboren werden – sterben; pflanzen – ausreißen; töten – heilen; bauen – abbrechen; lachen – weinen; suchen – verlieren; klagen – tanzen; streiten – sich versöhnen.

Um uns nur einige in Erinnerung zu rufen. In all diesen Gegensatzpaaren drückt sich die Erfahrung aus, dass wir als Menschen nicht über unsere Zeit verfügen. Welche Lebenszeit kommt, das liegt nicht in unserer Hand. Gute Zeiten, schlechte Zeiten, sie wechseln sich im Lebenslauf immer wieder ab. Umso älter wir werden, umso mehr spüren wir, dass wir das Leben nicht in der Hand haben, dass Dinge oft anders kommen und sich entwickeln, als wir uns das vorgestellt und geplant haben.

Das Leben ist eben immer der ganze Weg, mit allem Auf und Ab, nicht nur mit Höhepunkten und Erfolgen, sondern auch mit Niederlagen und Grenzen.

Darin ist der Prediger erfrischend nüchtern. Er macht sich und uns keine Illusionen darüber, dass unsere Lebenszeit nicht von uns selbst bestimmt wird. Letztlich liegt unsere Lebenszeit in Gottes Hand. Er schenkt uns Lebenszeit. Er gewährt uns einen Lebensraum in der Zeit. Und wenn wir die Lebenszeit als Geschenk annehmen wollen, dann können wir es nur, wenn wir gute und schlechte Zeiten annehmen. Denn unsere Lebenszeit mit ihrem Auf und Ab ist umschlossen von Gottes Ewigkeit.

Am Ende haben wir unsere Lebenszeit nicht in der Hand.

Ist das aber nicht eine frustrierende Erfahrung, die uns in die Resignation treiben kann? Wenn unser Leben nicht in unserer Hand liegt, was sollen wir uns dann noch anstrengen? Dann ist doch alles über uns verhängt und wir haben es eben, wie es kommt, hinzunehmen. Wie ein dunkles Schicksal, das über uns hängt und dem wir uns nicht entziehen können.  Hat am Ende Gott unseren Lebensplan schon geschrieben? Gibt es für uns keinen Spielraum mehr? Das wäre dann in der Tat ein völliger Gegensatz zu dem eingangs beschriebenen Optimismus und passt vielleicht ganz zu einer Zeitstimmung und Erfahrung, in der nichts mehr sicher zu sein scheint und sicher Geglaubtes sich von einem Augenblick auf den anderen in Luft auflöst. Veränderungen machen ja auch immer Angst, stellen uns vor neue Fragen und Herausforderungen.

Ich glaube, der Prediger will mit seiner Betrachtung der Zeit weder das eine noch das andere erreichen. Er redet weder einem ungebremsten Optimismus das Wort, nach dem Motto: Mit uns zieht die neue Zeit! Es geht auch nicht darum, Menschen in die Resignation zu treiben: Es kommt ja doch alles so, wie es kommt! Was kann ich daran schon ändern?

Beides wäre nicht angemessen. Dieser Weise, der Prediger, weist uns vielmehr ganz nüchtern auf die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen unseres Lebens hin. Denn in diesem Auf und Ab des Lebens, in den Gegensätzen, in den Gezeiten des Lebens liegen auch Chancen.

Niemand von uns hält sein Leben, seine Lebenszeit in der Hand. Niemand kann Momente des Glücks für immer festhalten, aber auch schwierige Erfahrungen werden nicht für immer unser Leben bestimmen. Denn unsere Lebenszeit liegt in Gottes Hand. Ein Leben, das nur vom Glück bestimmt wäre, das wir alleine steuern würden, wäre glatt und oberflächlich. Und ein Leben, in dem uns nur Grenzen aufgezeigt würden, in dem wir alles hinnehmen müssten, wäre schlichtweg unerträglich. Aus beiden Erfahrungen zusammen formt sich unser Leben. So wie es Goethe unnachahmlich ausgedrückt hat: „Im Atemholen sind zweierlei Gnaden, die Lufte einziehen, sich ihrer entladen; jenes bedrängt, dieses erfrischt; so wunderbar ist das Leben gemischt. Du Danke Gott, wenn er Dich preßt, und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt." Angesichts von Gottes Ewigkeit relativieren sich unsere Erfahrungen. Sie sind nicht das Letzte. Sie sind begrenzt und vergänglich, aber auch einmalig und unwiederbringlich. Das gibt ihnen Würde und Grenze zugleich.

Es gehört zu unserer Bestimmung als Mensch, dass wir begrenzt und vergänglich sind. Dass unsere Lebenszeit nicht in unserer Hand liegt, ist auch eine Gnade und eine große Entlastung.

Denn die Erinnerung daran, dass wir die Zeit nicht in Händen halten, dass sie unverfügbar bleibt, weist uns darauf hin, was wir positiv als Menschen tun können. Wir können uns an jedem Moment freuen und brauchen dem Glück nicht nachzujagen. Wir müssen uns nicht abrackern, um möglichst viel aus unserer Lebenszeit herauszuholen. Denn dadurch verschwenden wir nur Lebenskraft und verfehlen bei allem Eifer oft das, was uns als Glück am Ende doch geschenkt wird und gar nicht in unserer Hand liegt. Daran erinnert uns der Prediger mit seinen Worten:  Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. (V. 12-13)

Ich höre diese Worte als einen Aufruf zu Gelassenheit und Vertrauen. Gott möchte, dass unser Leben gelingt, er schenkt uns immer wieder Momente des Glücks, das Auf und Ab unseres Lebens liegt in seiner Hand und ist von seiner Ewigkeit umschlossen. Das bedeutet für mich ein Stück Demut. Sich nicht zu sicher zu sein. Daran zu denken, dass im Gefüge unseres Lebens sich schnell Dinge ändern können und guten Zeiten oft schlechte Zeiten nachfolgen. Das heißt für mich auf der anderen Seite aber auch, dass mein Leben eine ganz andere und weite Perspektive bekommt. Wenn ich nicht meines Glückes Schmied bin, wenn die Zeit nicht in meiner Hand liegt, dann entlastet mich das von vielem. Ich muss nicht alles hinnehmen. Nein, ich kann ganz bewusst leben, im Hier und Jetzt, jeden Augenblick als ein Geschenk Gottes wahrnehmen und mich über jedes kleine Glück freuen. Und wenn ich an Grenzen stoße, wenn ich schwierige Phasen durchmache, dann weiß ich mich dennoch von Gottes Liebe und Ewigkeit umschlossen. Alles hat seine Zeit. Im Fluss der Gezeiten, im Auf und Ab unseres Lebens weiß ich mich getragen von der Zusage Gottes. Er steht auf der Seite des Lebens und hält meine Lebenszeit liebevoll in seiner Hand. Aus dieser Einsicht kann eine große Gelassenheit und Freude wachsen, wie sie Hans Dieter Hüsch in einem seiner schönsten Texte ausgedrückt hat:

 

Wir alle sind in Gottes Hand
Ein Jeder Mensch in seinem Land
Wir kommen und wir gehen
Wir singen und wir grüßen
Wir weinen und wir lachen
Wir beten und wir büßen
Gott will uns fröhlich machen

Wir alle haben unsre Zeit
Gott hält die Sanduhr stets bereit
Wir blühen und verwelken
Vom Kopf bis zu den Füßen
Wir packen unsre Sachen
Wir beten und wir büßen
Gott will uns leichter machen

Wir alle haben unser Los
Und sind getrost auf Gottes Floß
Die Welt entlang gefahren
Auf Meeren und auf Flüssen
Die Starken und die Schwachen
Zu beten und zu büßen
Gott will uns schöner machen

Wir alle bleiben Gottes Kind
Auch wenn wir schon erwachsen sind
Wir werden immer kleiner
Bis wir am Ende wissen
Vom Mund bis zu den Zehen
Wenn wir gen Himmel müssen
Gott will uns heiter sehen

Amen