Predigt vom 13. Mai 2007 im "Kontorkeller am Markt" von FBG Raimund

Text: Matthäus 6, 5-13

Ihr Lieben,

Wie ist das mit dem Beten? Zum einen: Das Gebet ist eine zuerst private Angelegenheit zwischen Gott und mir. Es ist ein Gespräch zwischen uns. Ein Gespräch, das eine Beziehung am Laufen halten kann und soll. Ein Gespräch, das diese Beziehung überhaupt erst möglich macht.

Ich erzähle eine kurze Geschichte: "Eines Abends spät merkte ein armer Bauer auf dem Heimweg vom Markt, dass er sein Gebetbuch nicht bei sich hatte. Da ging mitten im Wald ein Rad seines Karrens entzwei, und es betrübte ihn, dass dieser Tag vergehen sollte, ohne dass er seine Gebete verrichtet hatte. Also betete er: 'Ich habe etwas sehr Dummes getan, Herr. Ich bin heute früh ohne mein Gebetbuch von zu Hause fortgegangen, und mein Gedächtnis ist
so schlecht, dass ich kein einziges Gebet auswendig sprechen kann. Deshalb werde ich dies tun: ich werde fünfmal langsam das ganze ABC aufsagen, und du, der du alle Gebete kennst, kannst die Buchstaben zusammensetzen und
daraus die Gebete machen, an die ich mich nicht erinnern kann.' Und der Herr sagte zu seinen Engeln: 'Von allen Gebeten, die ich heute gehört habe, ist dieses ohne Zweifel das beste, weil es aus einem einfachen und ehrlichen Herzen kam.'"

Dieser Bauer hat etwas von der Bedeutung des Betens begriffen: es braucht die Zwiesprache zwischen Schöpfer und Geschöpf. Gott wartet in seiner Liebe auf unsere Antwort. Er möchte, dass wir zu ihm reden, wie ein Kind zu seinem Vater. Und wie das Kind manchmal nicht begreift, was es alles erzählt oder das, was es erzählen will, völlig durcheinander bringt, so freut dennoch den Vater die Ansprache dieses Kindes. So auch bei uns. Wir sind geschaffen worden, dass wir uns Gott zuwenden.

Das Kind lernt seinen Vater kennen, indem es ihm begegnet, auch im Gespräch, in der persönlichen Beziehung. So banal das klingt, umso erstaunlicher ist es, dass dies ganz viele Menschen vergessen, wenn sie von Gott reden. Ich kann Gott nur kennen lernen, indem ich ins Gespräch mit ihm komme. In der Geschichte ist es natürlich überzogen. Niemand wird fünfmal das ABC durchsagen anstatt eines Gebetes. Aber es gibt an, welchen Stellenwert vor dem, der alles kennt, die eigene Wortwahl hat: einen sehr geringen. Es kommt vielmehr darauf an, dass mit diesem Wunsch gebetet wird, den Vater persönlich zu erreichen. "Unser Vater im Himmel" ist die persönliche Einleitung zu unserem wichtigsten Gebet.

Der Predigttext des heutigen Gottesdienstes steht im Matthäusevangelium, im 6. Kapitel, die Verse 5 bis 13. Es handelt sich um einen Abschnitt aus der Bergpredigt:

Matthäus 6, 5-13
05 Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt.
06 Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.
07 Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.
08 Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.
09 Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt.
10 Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
11 Unser tägliches Brot gib uns heute.
12 Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. 13Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. [Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.]

Die Umgangssprache Jesu war aramäisch. Die Handschriften, in denen uns das Neue Testament überliefert ist, sind griechisch. Nun gibt es den seltsamen Befund, dass einige Male in den griechischen Texten das aramäische Wort für Vater auftaucht: "Abba". Man erklärt sich das so, dass dieses Wort auf Jesus zurückgeht und sich bei seinen Anhängern so eingebürgert hat, dass es als aramäisches Fremdwort auch im Griechischen benutzt wurde. Die Anrede Jesu an Gott war "Abba". "Abba" heißt Vater, ist aber eigentlich das Wort, das man vertraulich in der Familie verwendet.

Korrekter müsste es mit dem vertraulichen "Papa" übersetzt werden. Jesus lehrt seine Jünger, zu Gott Papa zu sagen. Und damit lehrt er sie, lehrt er uns ein neues Gottesbild, ein neues Verhältnis zu Gott. Das ist eine Revolution des Gottesbildes. Mit diesem Wort sind alle bedrohlichen Teile des Gottesbildes überwunden. Nicht Gott als Richter, als "big brother", der uns beobachtet, als zürnender, strafender oder eifersüchtiger Gott. Alles das lässt Jesus hinter sich in dem einen Wort "Abba". Und es ist gar nicht sicher, ob Jesus wirklich wollte, dass wir 2000 Jahre lang seine Worte als formelhaftes Gebet nachsprechen. Sicherer scheint mir zu sein, dass er wollte, dass wir mit ihm diese vertraute, vertrauliche Haltung zu Gott einnehmen. Keine Angst vor Gott haben, uns nicht schämen vor ihm, keine Distanz empfinden wie zu einem Herrscher, sondern voller Vertrauen zu ihm kommen, weil wir wissen, dass er uns liebt und nur Gutes will. Aus dieser Haltung können auch ganz andere Gebete gesprochen werden, auf die Formulierung kommt es letztlich gar nicht an. Sondern auf das Vertrauen.

"Dein Name werde geheiligt." Damit wünschen wir uns nicht etwas für uns, sondern für Gott. Wir lassen uns los. Wir verlassen das Gefängnis der Gedanken, die nur um uns selber kreisen. Beten ist loslassen.

Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Durch diese Bitten wird erneut deutlich, dass es in diesem Gebet und in unserem Leben nicht nur um uns, um dich und mich geht, sondern um etwas Größeres: um die Geschichte Gottes mit dieser Welt, mit dieser seiner Schöpfung, mit allem, was da „lebt und webt" (Apostelgeschichte 17,28). Wir bitten im Vaterunser darum, dass Gott seine guten, seine „gütigen" Maßstäbe in der ganzen Welt durchsetzen möge.

Nun folgen vier Bitten, die ganz unmittelbar uns, dich und mich betreffen. Dazu vorerst eine Beobachtung: In diesen Bitten wird deutlich, dass wir nicht für uns allein beten. Gewiss, wir beten allein- aber immer wieder klingt das „unser" an. Gott ist eben nicht nur mein oder dein Gott, sondern unser Gott. Das hat mit der Liebe zu tun, die Gott zu uns allen hat. Was alles wünschen wir uns? Was brauchen wir zum Leben? Wie zahlreich sind unsere Bedürfnisse? Welcher Wunsch steht bei uns ganz oben an?

Unser tägliches Brot gib uns heute. Diese vierte kurze Bitte fasst all das in sich, was wir an Wünschen in uns tragen, was uns Not tut, damit wir leben können.

Auffallend ist, dass Jesus nur bittet um das tägliche Brot, um das Brot also, das wir am heutigen Tag benötigen. Wir neigen dazu, über den nächsten Tag hinaus zu denken, genauer müsste ich wohl sagen: zu sorgen. Dabei hat jeder Tag seine eigene Plage. Das genügt. So jedenfalls denkt Jesus. Wir versuchen zu oft, uns weit in die Zukunft hinaus abzusichern. Die Kühltruhe ist voll, der Bausparvertrag und die Lebensversicherung geben ein ruhiges Gefühl. Denn eigentlich wollen wir sicher sein, daß es auch übermorgen noch gut gehen wird. Das beunruhigt unser Herz ganz unnötig. Es reicht, Gott um seine Hilfe und Unterstützung für den heutigen Tag zu bitten.

Und vergib uns unsere Schuld. Die fünfte Bitte ist an Gott gerichtet. Immer dann, wenn wir unser Leben bilanzieren, spüren wir vermutlich nicht nur Stolz und vielleicht auch Dank, sondern auch, worin wir gefehlt haben. Jesus fügt der fünften Bitte noch den Satz hinzu: wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Wer Gott um Vergebung bittet, dem wird es vermutlich leichter fallen, auch denen zu vergeben, die ihm Unrecht getan haben. Wir leben aus der Vergebung. Das gilt auch für unseren Alltag. Es belastet uns, wenn wir anderen Menschen Leid angetan haben, und es hilft, wenn man sich dazu durchringen konnte, um Vergebung zu bitten.

Die sechste Bitte: Und führe uns nicht in Versuchung. Dietrich Bonhoeffer schrieb einmal: Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie uns nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.

Welche Gewissheit spricht aus diesen Worten! Viele erzählen davon, dass Gott ihnen diese Kraft geschenkt hat dann, wenn sie diese gebraucht haben. Eine Sicherheit dafür, dass wir die Kraft geschenkt bekommen werden, gibt
es nicht. Aber beten um diese Kraft, das dürfen wir bereits heute: Schenke, himmlischer Vater, mir die Kraft des Vertrauens, dass du da bist und mir hindurchhilfst.

Die letzte, die siebente Bitte lautet: (Sondern) erlöse uns von dem Bösen. Dass das Böse in dieser Welt aufgehalten wird, dass die Menschen nicht so grausam sind, das können wir offensichtlich nicht mit Gewalt und nicht ohne Gewalt wirklich herbeiführen. Da muss, wenn wir Jesu Worten folgen, eine höhere Macht, da muss Gott mitwirken. Darum beten wir recht, wenn wir sagen: Vater, erlöse uns von dem Bösen.

Ja, aber, mag mancher noch fragen: Was ist, wenn Gott unsere Bitten nicht erfüllt – oder wir wenigstens den Eindruck haben, dass er nicht hilft? "Der Prediger in einer beliebigen Kirche auf dem schwarzen Kontinent regt sich von der Kanzel her auf und spricht: 'Euer Unglaube, Schwestern und Brüder, ist ein Skandal! Wir sind hier versammelt, um ein Bittgebet an den Himmel zu richten, er möge uns nach der langen Trockenheit Regen schicken. Und was sehe ich? Nicht einer von Euch hat für den Heimweg einen Schirm mitgebracht.'" Auch hier ist die Geschichte freilich überzogen, aber das muss so sein, damit die Pointe besser ins Licht gerückt wird. Denn echtes Gebet ist niemals etwas Einseitiges. Einseitig wäre, wenn ich entweder nur von Gott etwas erwarte, z.B. ich bete um Gesundheit und blende aber alle anderen Möglichkeiten aus. Gott soll – bitte schön – gesund machen, wenn ich es so beschlossen habe. Einseitig ist aber auch, wenn ich nur von mir rede und mit Gottes Wirken gar nicht rechne.

Ein letztes sage ich heute noch mit fremden Worten, diesmal mit Bischof Dibelius, der folgendes erzählte: "Ein Konzertpianist sagte: 'Wenn ich einen Tag nicht übe, merke ich es. Wenn ich zwei Tage nicht übe, merken es meine Freunde. Wenn ich drei Tage nicht übe, merkt es das Publikum.' Mir geht es ähnlich mit dem Beten: Wenn ich einen Tag nicht bete, merkt es Gott. Wenn ich zwei Tage nicht bete, spüre ich es selber. Wenn ich drei Tage nicht bete, spürt es meine Umgebung."

Amen.