LogoAls wir Kinder waren, hat uns mein Vater abends immer vorgelesen vor dem Schlafen. An paar Bücher kann ich mich noch immer erinnern. So lebendig ist mir seine Stimme vor Ohren, wenn ich etwa an die Geschichte von Nils Holgerson denke.
Die Gänschen hatten allmählich so große Flügel bekommen, dass die Reise gen Süden unternommen werden konnte, und der Junge, Nils Holgersson, war hochbeglückt darüber. … Immer wieder trafen die Wildgänse mit anderen Zugvögeln zusammen, die jetzt in etwas größeren Scharen als im Frühling dahergeflogen kamen.
"Wohin, ihr Wildgänse, wohin?" riefen die Zugvögel. "Ins Ausland, wie ihr auch!" antworteten die Wildgänse. "Ins Ausland, ins Ausland!"

"Die Jungen sind ja noch nicht ganz ausgewachsen!" riefen die anderen.
"Mit so kleinen Flügeln kommen sie nie übers Meer hinüber!"
Die Lappen und die Rentiere zogen nun auch von den Bergen hinunter. … Als die Wildgänse die Rentiere sahen, ließen sie sich etwas hinuntersinken und riefen ihnen zu: "Habt schönen Dank für den Sommer! Habt schönen Dank für den Sommer!"
"Glückliche Reise und auf Wiedersehen im nächsten Jahr!" antworteten die Rentiere. Aber als die Bären die Wildgänse sahen, zeigten sie sie ihren Jungen und brummten: "Seht, seht! Diese dort fürchten sich vor ein bisschen Kälte; deshalb bleiben sie im Winter nicht daheim."
Aber die alten Wildgänse blieben den Bären die Antwort nicht schuldig, sondern riefen den Jungen zu: "Seht, seht! Diese verschlafen lieber das halbe Jahr, als dass sie sich die Mühe machen, südwärts zu reisen!"

So erzählt Selma Lagerlöf den Aufbruch der Wildgänse nach einem aufregenden Sommer in Schweden zurück über die Ostsee nach Süden. Sehr genau beschreibt sie in diesem Buch die Natur Schwedens, wie im Frühling die Bäume und Pflanzen zu neuer Blüten- und Blätterpracht erwachen und wie dann im Herbst sie sich zur Winterruhe rüsten. Pflanzen und Tiere richten sich genau der vorgebenen Zeit. Dabei kennen die Zugvögel ihre Zeit und ihren Weg. Pflanzen und Tiere verhalten sich ganz und gar, wie es ihnen von der Schöpfung oder vom Schöpfer vorgegeben ist. Sie verhalten sich ihrer Natur und ihrer Bestimmung gemäß.

Stark wie ein Löwe, schlau wie ein Fuchs, dreckig wie ein Schwein – wenn wir einander etwas klar machen wollen, greifen wir Menschen gerne zu Bildern aus dem Tierreich. Denn das Verhalten und die Eigenschaften von Tieren sind eindeutig und berechenbar. Alle Löwen sind Muskelprotze, alle Füchse sind findig, wenn sie in den Hühnerstall wollen. Alle Schweine wälzen sich gerne im Schlamm, wenn sie nur die Gelegenheit dazu haben. Tiere sind so. Sie sind so geschaffen.

Bei uns Menschen ist das anders. Wir sind in unserem Verhalten nicht so verlässlich und berechenbar wie Tiere. In unserem Umgang miteinander gibt es immer nur eine mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit, wie der oder die andere reagieren wird. Wir müssen immer damit rechnen, dass unser Gegenüber vom einen auf den anderen Moment wie ausgewechselt ist. Oder dass wir ihn oder sie "gar nicht mehr wiedererkennen". Und das sind nur zwei von vielen Ausdrücken und Redewendungen, die wir benutzen, um die menschliche Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit zu beschreiben.
Ist mit unserem Leben alles in Ordnung? Sind wir in den letzten Monaten wirklich voran gekommen auf dem Weg der Nachfolge Jesu? Oder haben wir uns verirrt. Sind wir blindlings falschen Wegen
Es ist dies die große Frage, die besonders zum Ende des Kirchenjahres in den Texten der Bibel uns vorgeschlagen wird.
Vor rund 2500 Jahren predigte der Prophet Jeremia.

Jer 08, 4-7                                      
8,4 Sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?
8,5 Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, daß sie nicht umkehren wollen.
8,6 Ich sehe und höre, daß sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid
wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.
8,7 Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber  mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.

"Bleib wie du bist", das haben wir einem anderen sicher schon mal gewünscht oder gewünscht bekommen.
Nicht, dass es solche Momente nicht gäbe, in denen wir am liebsten die Zeit anhielten. – Das gibt's! Nicht, dass es nicht Eigenschaften an und in uns gäbe, von denen wir einander nur wünschen können, dass wir sie behalten.

Aber wirklich ist doch, dass diese Momente, wo ich so rundum zufrieden mit mir sein kann, die eindeutige Ausnahme sind. Schon bei ein bisschen Nachdenken und bilanzieren tauchen die Dinge im Gewissen auf, die falsch sind oder waren. Und auch wenn in diesem Jahr nicht die große Katastrophe passiert ist: ganz sauber ist die Bilanz bestimmt nicht.

"Was macht einer, der hingefallen ist? – Steht er dann nicht wieder auf? Was macht einer, der sich verlaufen hat? – Kehrt er dann nicht wieder um?"

"Logisch", möchte man sagen. "Wer fällt, steht wieder auf und wer sich verlaufen hat kehrt um. Das ist doch eine klare Sache." Aber im gleichen Moment hören wir auch schon ein weiteres und ertappen uns dabei, dass diese so sonnenklare Antwort mit unserem Leben einfach nicht übereinstimmt.

Wer fällt, steht auf und wer sich verläuft, kehrt um, so meinten wir dem Propheten Recht geben zu müssen. Aber dann müssen wir uns plötzlich sagen lassen, dass wir selbst da ganz anders drauf sind.
"Warum wendet sich dieses Volk so beharrlich ab? Warum?!", hören wir unseren Gott rufen, der sich ernste Sorgen macht, der aber offenbar selber nicht recht weiß, was er noch tun soll.

Ihr Menschen wisst nicht, wie ihr leben solltet! Schaut euch die Tiere an: So müsstet ihr eigentlich sein: immer wissen, was richtig ist. Und nicht den bequemen Weg suchen, die billige Ausrede.
"Warum!? Erklär es mir doch, Mensch. Warum tust du nicht, was du selbst für logisch und richtig und notwendig hältst? Warum stehst du nicht auf, nachdem du gefallen bist? Warum kehrst du nicht um, nachdem du dich verrannt hast? Warum belügst du dich weiter und gräbst dich immer tiefer in den Sumpf? Ich sehe es doch, ich höre es doch – und wer Ohren hat zu hören und Augen zu sehen, der hört und sieht's mit mir: Ihr steckt bis zum Hals im Schlamassel und seit drauf und dran euch nur tiefer einzugraben."

Ein liebender und ratloser Gott steht da vor uns, der wie so manches Elternteil die Hände überm Kopf zusammenschlägt, weil er sieht wohin die vermeintlich erwachsenen Kinder rennen.
Was wäre denn nötig? Was wäre denn zu tun? Eigentlich ein ganz einfaches nur: Zunächst mal: stehen bleiben. Nur stehen bleiben. Und die Frage aufgreifen, die Gott uns schon in den Mund legt: "Was haben wir getan?"

Was haben wir getan? Konkreter kann man nicht fragen. Aber weil's so hautnah an jeden von uns selbst geht, gibt's wohl auch kaum eine Frage, auf die in einer Predigt schwieriger zu antworten ist. Ich könnte jetzt vieles aufzählen, was wir getan haben, als Kirche oder als Deutsche. Aber immer könntet ihr sitzen bleiben und sagen: Ich nicht. Ich hab das eigentlich nicht getan. Der Schuh ist mir zu groß oder zu klein.

"Ein jeder stürmt dahin in seinem Lauf wie das Ross, das in die Schlacht stürmt", klagt Gott. Scheuklappen links und rechts, kein Blick zurück, immer nach vorne, dem Feind entgegen, so gebärden sich die Streitrosse aller Zeiten.

Für Israel damals, war das Pferd noch nicht wie für viele von uns ein wunderschönes Tier, sondern die gefährlichste Kriegswaffe. Am Anfang geradezu eine Wunderwaffe, weil man all den zu Fuß antretenden Heeren haushoch überlegen war. Reiten war noch kein Hobby, sondern eine militärische Aktion. Das Pferd so schien es damals kennt nur geradeaus, weiter so, mit dem Kopf durch die Wand. Denn der Mensch treibt es an, damit es gar nicht ins Zögern kommt angesichts der Gefahr.

"Warum rennt ihr dahin, wie ein Pferd im Kampf?", lässt er fragen. Treibt euch die Angst? "Seid ihr so voll gepumpt von Adrenalin, dass ihr nur noch die Flucht nach vorn seht und gerade dadurch genau in euer Verderben rennt?

Wie anders sind da Storch, Taube, Schwalbe und Kranich. Sie wissen sehr wohl, wann ihre Zeit der Umkehr gekommen ist und sie den Heimweg anzutreten haben in wärmere Gebiete. Jeremia bietet damit ein einprägsames Wortspiel: Das Pferd heißt hebr. sus, die Schwalbe heißt sis. So stellt er vor die kanckige Alternative sus oder sis? Wir können vielleicht sagen: Zugpferd oder Zugvogel. Im Galopp Richtung Abgrund oder in Anbetracht der Zeichen der Zeit – umkehren? Geballte Kraft oder beflügelte Weisheit?

Vielleicht sollten wir das Denken doch nicht den Pferden überlassen, nur weil ihr Kopf größer ist, sondern es der Schwalbe gleichtun, weil sie zur rechten Zeit merkt, dass sie kalte Füße bekommt.
So wie die Zugvögel heimkehren, so soll auch das Volk Gottes die Zeichen der Zeit erkennen und umkehren, heimkehren zu seinem Gott.
Aber wohin ist das?

Jeremia sagt es ganz schlicht: Es ist dort, wo Schuld beim Namen genannt werden kann, weil Gerechtigkeit nur dort eine Chance hat, wo sie gepaart ist mit Ehrlichkeit und Wahrheit.
Wer fragt: "Was haben wir getan?", wem sein eigenes Tun und Lassen im Angesicht Gottes und angesichts dessen, was bei seinem Tun hinten raus kam, fraglich wird, der wird einen Ort suchen, an dem ein Schuldbekenntnis nicht Schwäche, sondern Stärke bedeutet. Der wird einen Ort suchen, an dem die Gnade ein Recht hat.

Ehrlichkeit, Schuldbekenntnis braucht den geschützten Raum der Gnade. Hier kann Irrtum eingestanden und korrigiert werden. Wer sich einmal so richtig in etwas verrannt hat und nicht mehr aus noch ein weiß, der kennt das: Es ist nichts schlimmer, als jetzt sagen zu müssen: "Entschuldigung, ich habe mich geirrt. Ich bin falsch gelaufen und hab mich da in was festgebissen". Es geht einem dann wie einem Affen, der in ein enges Loch greift, die Banane fasst und in seiner Faust hält, aber mit der Hand stecken bleibt. Um nichts in der Welt wird er die Banane loslassen, auch nicht um den Preis, sein eigener Gefangener zu sein. Davon will uns Gott freimachen. Von diesem tagtäglichen Selbstbetrug. Statt frei wie ein Vogel gebärden wir uns als wilde Pferde, vom Teufel geritten, von Machtgier getrieben und Ehrgeiz zerfressen.
Wer als Sieger geboren sein will, kann keine Niederlagen eingestehen. Der Könner kein Versagen und der Kenner keinen Irrtum zulassen. Was als Tugend der Beharrlichkeit begann, wird zum Laster der Sturheit; und was Geradlinigkeit werden sollte, geriet zur Engstirnigkeit.

Die Freiheit der Vögel unter dem Himmel, die will Gott uns schenken und für diese Freiheit will er den geschützten Raum der Gnade und der Versöhnung geben. Die Zeichen der Zeit lesen lernen: die Zeichen, die uns die Weltzeit ansagen und sensibel machen für politische Regungen und Veränderungen. Die Zeichen des eigenen Lebens lesen lernen: achten auf das, was mit uns geschieht, was wir mit uns tun und anderen antun. Die Weisheit der Zugvögel lernen, wann es Zeit ist, sich wieder aufzumachen und nach Hause zu fliegen. Dazu ruft Gott sein Volk zu allen Zeiten auf und bietet ihnen den Raum, in dem das geschehen kann, ohne das Gesicht zu verlieren.

Es ist ja eben nicht wahr, dass durch ständige Wiederholung der Lüge die Wahrheit flexibler würde. Es ist ja eben nicht wahr, dass man sich an die Ungerechtigkeit gewöhnt, wenn sie nur lange genug als Recht verkauft wird.

Und es ist zuletzt eben nicht war, dass die Streitrosse, die mit dem Kopf durch die Wand gehen, dabei selber keinen Schaden nähmen.

Billige Gnade, Vergebung ohne Umkehr, das hat's nie geben und in Gottes Reich wird's das nie geben, solange es ein Reich ist, in dem das Recht des Herrn gilt.
Die Gnade ist teuer, aber sie ist bezahlt, von Gott selbst für uns. Vergebung ist da, aber nicht als Pausenbrot mal eben zwischendurch, um dann frisch, fromm, fröhlich frei weiterzulaufen, als wäre nichts geschehen. Vergebung gibt's an der Quelle des Lebens. Vergebung gibt's bei Gott selbst und an diese Quelle zurückzukehren, das ist schon auch unsere Sache. Als Gestrauchelte aufzustehen und als Verirrte umzukehren – das wird uns nicht abgenommen. Aber was könnte uns unser Gott mehr schenken als den Raum, an dem diese Rückkehr gefeiert wird wie ein Fest. Stehen wir auf, kehren wir um und richten unseren Blick auf den Herrn.