Markus 02,1-12 – Ohne Freunde geht gar nichts – 18.10.2009

Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt… Sicher kennen die Meisten diesen alten Schlager aus den 30er Jahren. „Und wenn die ganze Welt zusammenfällt", so heißt es da, dann hält er, dann halten sie – die guten Freunde – zu dir.

Ist da was dran, oder ist das nur Junggesellenromantik? Hören wir heute auf eine Geschichte mitten aus dem Leben oder besser: eine Geschichte, die davon erzählt, wie das Leben neu beginnt. Sie berichtet davon, was Freundschaft bewegen kann und noch eine ganze Menge mehr:

Markus 2,1-12:

Nach einigen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?   Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen?  Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?  Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten:  Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!  Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.

Ihr Lieben, ich bin am Freitagabend erst wieder nach Greifswald zurück gekommen. Lange schon hatte ich mir vorgenommen, endlich mal wieder meine Eltern und meine zwei Neffen zu besuchen. Doch dann verzögerte sich alles immer weiter. Ich hatte die Sachen quasi schon gepackt – da klingelt das Telefon: Raimund – kannst du uns nicht was schreiben. 20 Jahre Wende in Greifswald – Honecker beim Gottesdienst – die Menschen bei der ersten Demo und dann bei der Besetzung der Stasi und der SED? Kannst du nicht mit dem und dem reden – der war damals doch mitten dabei? Natürlich hab ich ja gesagt – wie kann man einen bezahlten Job ablehnen. Und gleichzeitig die Chance, seine eigenen Erinnerungen mal wieder zu sortieren? Aber dann: der Mann, mit dem ich reden sollte für den Artikel war im Urlaub. Und als er da war hatte er eigentlich keine Zeit. Und mir rannte die Zeit davon. Nicht nur die, die für den Artikel angesetzt war, die normale Deadline. Nein auch die Zeit, die ich eigentlich geplant hatte für einen Urlaub bei meinen Eltern, für Gespräche in aller Ruhe, für die sonst kaum Zeit ist, wenn man sich nur an Weihnachten mal sieht. Schließlich war ich abreisefertig, der Artikel abgeliefert – und dann meinte meine Schwester: die Eltern sind gar nicht da – die fahren jetzt für die Zeit zu einer Schwester von mir. So ein Mist! So was albernes – lange Planung. Und nichts wurde es. Letztlich fuhr ich dann nur zu meiner Schwester und ihren Kindern. Doch davor hatte ich noch einen Aufruf ins Netz gestellt: ich brauche Leute, die mit helfen bei der Vorbereitung. Die Plakate schreiben und kleben, die rumfragen wegen Musik. Ich brauche meine Freunde hier. Aber nichts passierte. Schweigen im Walde. Und ich war sauer. Eigentlich hätte ich mich dann ans Telefon setzen müssen und einzeln rumfragen: kannst Du das oder jenes machen? Ich hab’s nicht mehr geschafft. Ohne Freunde geht hier und überhaupt gar nichts – das merke ich immer wieder. Und das ist auch das Thema dieser abenteuerlichen Geschichte des gelähmten Mannes.

Nein, bei ihm war die Welt nicht in Ordnung, immer wieder ist seine kleine Welt sogar förmlich in sich zusammen gefallen. Gelähmt war er von Kindesbeinen an, ein Krüppel, wie die Leute abfällig sagten. Immer wieder hat er das Aufstehen versucht und ist umgefallen, immer wieder hat er das Gehen versucht und ist bitter gescheitert. „Er muss das tragen, was seine Eltern oder Großeltern an Schuld auf sich gehäuft haben." Sagt man. Und er? Hat er resigniert? Nein, er hat fast alles Menschenmögliche versucht. Die mühsame Reise an den fernen Teich Bethesda in Jerusalem, ein Besuch bei einem samaritanischen Wunderheiler und einem griechischen Medicus, immer wieder vergebens. Das Einzige, was ihm in all den Jahren geblieben ist, sind ein paar Freunde in seinem Dorf am See Genezareth. Sie bringen ihm zu Essen, besorgen Kleider, sprechen ihm auch das eine oder andere Mal Mut zu.

Eines Tages klopfen sie mal wieder an seine Tür. „Der Heiler aus Nazareth ist wieder da, er predigt in Kapernaum. Du musst unbedingt mitkommen!" „Aus Nazareth?" Ungläubig starrt er die Freunde an. „Ja, doch gewiss!" „Die Leute erzählen, dass er schon einen Aussätzigen geheilt habe und auch eine Stumme und Blinde und Besessene." „Aber wie soll ich denn mitkommen, das ist viel zu weit. Ihr könnt mich nicht den ganzen Weg tragen." „Doch, wir packen dich auf eine Trage. Jeschua, Jesus heißt er, wenn das kein gutes Vorzeichen ist. Helfer, Retter…"

Ohne besondere Begeisterung lässt er sich mitnehmen auf den Weg ins Nachbardorf. Und schon, liebe Gemeinde, sind sie in Bewegung. Wenn gute Freunde mitzupacken und Mut machen, dann ist Veränderung in unserem Leben möglich. Das ist die erste – zugegeben recht schlichte – aber umso einleuchtendere Erfahrung unserer Geschichte. In Situationen der Mutlosigkeit brauchen wir diesen Zuspruch. Aber damit ist noch nicht alles gewonnen. Als sie vor Ort sind, ist ihre Enttäuschung zunächst groß.

Schon seit den frühen Morgenstunden drängen sich die Menschen in einem Haus zusammen, das beinahe aus allen Nähten platzt. Die Leute wimmeln die Freunde ab. „Was wollt ihr denn mit dem Krüppel, kommt ein ander Mal, wir verstehen doch so schon kaum, was er sagt." Schon sind sie versucht, ihren Plan zu verwerfen, ihren Freund zu Jesus zu bringen. „Morgen ist auch noch ein Tag" denkt einer, „es ist jetzt einfach kein günstiger Augenblick, wir versuchen es, wenn er wieder im Ort ist, dann sind wir rechtzeitig da", überlegt ein Anderer. Aber der Dritte sagt: „Egal Leute, kommt, wir machen das von oben." „Von oben?" fragen die Anderen verwundert. „Na klar, wir machen das Dach auf und lassen ihn dann runter."  „Die reißen uns den Kopf ab!" – „Nein, tun sie nicht. Und wenn schon. Er heißt Jesus: Helfer und Retter. Er wird uns nicht wegschicken und unseren Freund schon gar nicht."

Und dann das: Die mutigen Freunde werden belohnt. Langsam schwebt er an vier kräftigen Seilen hinunter direkt Jesus vor die Füße. Natürlich bleibt die freche Grenzüberschreitung nicht ohne Echo. Aber anders als gedacht: Die erste Überraschung, vielleicht sogar ein kleines Wunder: Die Empörung der Leute bleibt aus. Keiner beklagt sich, schreit, wettert: „Was macht ihr denn da? Ihr könnt doch nicht einfach das Strohdach abdecken! Das ist Sachbeschädigung…"

Nein, wie in einem guten Film, fährt Markus die Kamera von den perplexen Gesichtern der Leute ganz auf die Begegnung zwischen dem Gelähmten und Jesus. Und Markus tut noch mehr, er zeigt uns etwas, was der Außenblick (der Erzählkamera) nicht erfasst. Für einen Moment dürfen wir Jesus ins Herz schauen: Als er ihren Glauben sah… (Pause) Ist das nicht großartig?

Die beherzte Tat der Freunde ist nicht nur ein Freundschaftsbeweis, sondern ein Glaubenszeugnis; und sie bewegt Jesus im Innersten. „Ihren Glauben" heißt es da. Nicht: „seinen Glauben". „IHR Glaube" richtet etwas aus. Glaube ist nicht nur Privatsache, sondern auch Angelegenheit einer Gemeinschaft. In diesem Fall, sind es die Freunde des Gelähmten, die stellvertretend für ihren Freund glauben und damit all das in die Wagschale werfen, was er an Benachteiligung in seinem Leben erlitten hat.

Doch dann die vorerst absurde Wendung: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!" ruft Jesus dem Kranken zu. Er weiß gut, dass das eine unerhörte Aussage ist. Unerhört – weil un-gehört und un-gehörig, da Gott allein das Vergeben der Sünde gehört. So denken jedenfalls die Schriftgelehrten und ärgern sich, ja sind empört: Gotteslästerung ist das! Über die Reaktion des Gelähmten erfahren wir nichts. Ist er einen Moment enttäuscht? (Schon wieder keine Heilung?) Oder freut er sich einfach dankbar über diese unerhörte Zuwendung, die ihn bis jetzt kein Mensch, kein Heiler und kein Medicus haben erfahren lassen?

Zwei Wunder haben wir hier schon zu vermerken: Freunde haben es geschafft – trotz erheblicher Hindernisse – zu Jesus vorzudringen. Sie haben mit ihrem Glauben keine Berge versetzt, aber menschliche Mauern übersprungen. Sie haben ein Dach abgedeckt und gehört, dass Jesus das erfüllt, was sein Name als Programm vorgibt. Er vergibt, er hilft Menschen über das hinweg, was sie von Gott trennt. Sie spüren: Auch Jesus überschreitet damit Grenzen. Die Grenzen dessen, was ein Mensch – ein „Nur-Mensch" – eben so kann. Nicht nur zwischenmenschliche, bürgerliche Grenzen, sondern Grenzen zwischen Himmel und Erde lässt er verschwinden. Jesus macht dem ein Ende, was uns in unserem Leben von Gott trennt. Nehmen wir es nicht als Selbstverständlichkeit! Es nicht einfach Jesu Job, gnädig zu sein und zu vergeben. Er macht es, weil er unsere Bedürftigkeit sieht. Er packt das Übel bei der Wurzel und tut etwas, was bis heute für Juden und Muslime höchst anstößig ist: Er vergibt Sünde.

Sünde zu vergeben, Menschen von ihrem Beziehungsproblem mit Gott zu befreien, das ist etwas so Großes, dass man es nicht genug rühmen kann. Hier geschieht es exemplarisch an einem kranken, benachteiligten Menschen. Noch nicht für Alle. Man könnte sogar kritisch fragen: Und was ist mit den Freunden? Gehen sie leer aus? Werden sie nicht belohnt? Nun, ihnen hat sich die Botschaft Jesu möglicherweise erst viel später erschlossen. Doch unter dem von ihnen abgedeckten Dach werden sie nicht enttäuscht. Ihr beherzter Glaube und ihre diakonische Tat verpuffen nicht ohne Reaktion: „Steh auf, nimm dein Bett und geh!" ruft Jesus dem Gelähmten zu. Und da passiert es! Sie trauen ihren Augen kaum und fallen sich glücklich in die Arme: Ihr Freund kann gehen, etwas wackelig zunächst, doch dann immer sicherer. Damit passiert das dritte Wunder, das die Menge in Furcht und Freude, in Erschütterung und dankbaren Jubel versetzt.

Auch die Freunde sind begeistert. Ihr Glaube an Jesus und ihre Liebe zum Freund sind nicht enttäuscht worden. Jetzt könnte ich oder besser Sie „Amen" sagen, aber das kommt mir zu früh vor… Denn was wäre, wenn wir diesen Schluss nicht überliefert bekommen hätten? Wenn Jesus dem Mann „nur" die Sünden vergeben, ihn aber nicht auch geheilt hätte? Dann würde der Geschichte etwas fehlen, gewiss. Dann würde nicht in derselben Leuchtkraft die Programmatik des Markus deutlich, der uns sagt: Jesus rettet und heilt. Er ist Erlöser und Neuschöpfer: zum Reich Gottes gehört das volle Programm: Heil und Heilung für Leib, Seele und Geist.

Aber was machen wir damit, hier und heute? Sind wir solche Freunde, die einfach anpacken und was machen, wenn sie sehen: Hier braucht unser Freund Hilfe, hier schafft er es selbst garantiert nicht mehr? Haben wir genug Glauben in uns, damit wir die Hoffnung nicht verlieren, dass ihm geholfen werden kann? In der Tat sollten wir Letzteres nicht gering schätzen. Und dennoch: Es wäre bitter, wenn wir – im Blick auf unsere Beziehung zu Gott – auf Menschen angewiesen wären.

Denn Menschen, das wissen wir, können enttäuschen, auch gute Freunde, die mit einem (vermeintlich) durch dick und dünn gehen. Wir brauchen mehr: Wir brauchen nicht nur Menschen, wir brauchen auch Gott an unserer Seite. „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt, selbst wenn die Welt zusammenfällt." Stimmt. Letztendlich genügt ein einziger guter Freund. Der, in dessen Herz wir für einen Moment schauen durften: Jesus Christus. Sein liebender Blick ist heute auch auf dich gerichtet: „Deine Sünden sind dir vergeben! Du bist ein freier Mensch. Ein Kind Gottes!"